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Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
Konzentriert verfolgte ich den Sekundenzeiger der kleinen goldenen Uhr unter ihrer Glasglocke. Mir kam es vor, als hätte sich der kleine Zeiger schon länger nicht mehr bewegt, und verstohlen schielte ich auf meine Armbanduhr. Doch auch die zeigte achtundzwanzig Minuten nach fünf. Immer noch zweiundzwanzig Minuten, und ich unterdrückte ein Seufzen. Von draußen hörte ich gedämpft das Brausen der Autos, die auf der California Street auf und ab rasten, das Rattern der Stahlseile der beiden Cable-Car-Linien, die sich eine Querstraße weiter oben kreuzten, manchmal dazwischen das Bimmeln der Glocke oder eine Hupe.
Meine Augen glitten über das Regal, das die komplette Wand auf der linken Seite einnahm und vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestopft war. C. G. Jung. Grimms Märchen. Frazers Goldener Zweig, der auch irgendwo bei Ted im Regal stand. Sigmund Freud. Natürlich. Viele, viele Romane, teils druckfrisch, teils schon komplett zerfleddert. Bücher über Mythen, Psychologie im Allgemeinen, Psychoanalyse im Speziellen und über Physiologie. Eine Reihe Bilderbücher gab es und eine mit englischen und amerikanischen Klassikern, riesige Kunstbildbände, Biografien.
Vor den Buchrücken stand allerlei Schnickschnack in den Regalfächern herum. Wie die goldene Uhr unter Glas, große Muscheln und bizarr geformte Kiesel, ein Insekt in einem Stück Bernstein und an die Bücher angelehnte Kunstpostkarten. Tierfiguren und Buddhas aus Glas, Porzellan, Metall und Stein. Eine kleine Gipsbüste von Shakespeare, eine geblümte Teetasse mit Goldrand, ein ägyptischer Skarabäus und eine Fingerpuppe aus weißem Filz, gerade groß genug für einen Kinderfinger, in Gestalt eines Gespenstes. Nicht witzig.
Ein schabendes Geräusch und eine Bewegung, die ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, ließen mich den Kopf drehen. Im Sessel unter dem Fenster gegenüber, dem exakt gleichen hellblauen Sessel wie der, in dem ich herumlümmelte, hatte Dr. Katz das linke Bein über das rechte geschlagen, statt wie vorher umgekehrt. Sehr groß und sehr dünn, in hellen Jeans und einer Seidenbluse, auf der sich riesige Hibiskusblüten ausbreiteten, musterte sie mich aufmerksam.
Dr. Elsa Katz. Die Psycho-Tante. Mein Shrink.
Ich konnte überhaupt nicht einschätzen, was sie über mich dachte; ihr schmales, fast hageres und ungeschminktes Gesicht wirkte ausdruckslos. Genausowenig konnte ich einschätzen, wie alt sie war. So um die vierzig, hatte ich mir überlegt, vielleicht auch ein bisschen älter, obwohl ich in den blonden Strähnen ihres schicken Fransenschnitts kein Grau entdecken konnte. Ihr Blick löste sich von mir und senkte sich auf das Klemmbrett auf ihren Knien, und rasch machte sie sich mit ihrem Kuli ein paar Notizen; dabei hatte ich überhaupt nichts gesagt. Eigentlich sagte ich überhaupt nie was außer einer kurzen Begrüßung, seitdem ich in der ersten Sitzung ein paar Fragen zu Mam, Ted und mir kurz und knapp beantwortet hatte.
Mein Blick wanderte auf die andere Seite, über den antiken Schreibtisch neben der zweiten Tür des Raums, zu dem der hypermoderne Laptop und der Gesundheitshocker ebensowenig passten wie die futuristische Stehlampe dahinter. An der asiatischen Dämonenmaske in Rot und Gold an der Wand blieb ich hängen; ihre aufgerissenen Augen schienen mich anzustarren, und ich fragte mich, ob sie mich mit ihrem aufgeklappten, spitzzahnigen Maul auslachte oder mich verschlingen wollte.
»Die stammt aus Bali.« Dr. Katz hatte eine Stimme, die gleichzeitig weich und fest klang. »Sie fasziniert dich, nicht wahr?«
Ich fühlte mich ertappt und sah schnell weg. »In Teds Arbeitszimmer hängt auch so eine.«
Mein Blick pendelte unschlüssig hin und her, zwischen dem hochbeinigen Tischchen neben mir, auf dem eine einsame Kleenexbox stand, und seinem Gegenstück neben dem Sessel von Dr. Katz, das mit einer ganzen Arche Noah von Glastierchen vollgestellt war.
»In Teds Arbeitszimmer«, wiederholte Dr. Katz. »Warum nicht zu Hause oder bei uns? Und warum Ted und nicht mein Vater?«
Ich zuckte mit den Schultern und begann die roten, blauen und weißen Farbkreise auf dem Teppich zu zählen.
»Bist du wütend auf deinen Vater, Amber? Weil er dich hierhergeholt hat?«
Ich blinzelte vor mich hin. Ted war so fürsorglich gewesen nach meinem Zusammenbruch heute vor einer Woche. Hatte mir die Sneakers ausgezogen, mir eine Wärmflasche und einen Tee gemacht und danach herumtelefoniert. Bis er einen Termin für den nächsten Tag hier in der Praxis von Dr. Katz vereinbart hatte, im zweiten Stock eines kleinen weißen Hauses, das in einer Reihe mit anderen hübschen pastellfarbigen Häuschen stand. Allesamt gleich altmodisch und auf zierliche Weise elegant, halb verborgen hinter einer Reihe dicht belaubter Bäume in der California Street, ein paar Blocks von uns in Richtung der Wolkenkratzer des Financial District. Dort, wo die California Street steil hinabrauschte und ein Stückchen weiter Chinatown durchschnitt, sodass man nicht nur eine hohe Pagode auf der rechten Seite sah, sondern durch eine Schlucht aus Backsteinbauten und Hochhäusern hindurch bis auf die Bucht und einen Pfeiler der Bay Bridge gucken konnte. Für ihn war es okay gewesen, dass ich nicht mehr an den Fisherman’s Wharf mochte und überhaupt die restliche Ferienwoche nur auf dem Sofa liegen wollte, und zu den ersten beiden Terminen bei Dr. Katz hatte Ted mich sogar begleitet und wieder abgeholt – wie konnte ich da wütend auf ihn sein?
»Bist du wütend auf deine Mutter, Amber?«, setzte Dr. Katz leise hinzu, und ich starrte sie verblüfft an. »Weil sie dich verlassen hat und weil sie wollte, dass du zu deinem Vater kommst?«
Unter verkniffenen Brauen rutschte mein Blick abwärts, auf die knallroten Pumps mit Stilettoabsatz von Dr. Katz hinunter. »Was ist das denn für eine Scheißfrage?!« Ich brüllte es fast heraus.
»Sag du es mir. Warum hältst du das für eine Scheißfrage?«
Weil sie die beste Mam der Welt gewesen war. Und weil ich sie schrecklich vermisste. Genau wie ich Nathaniel vermisste. Ein eisiger Schauder rann mir den Rücken herunter; ich schob die Hände unter meine Oberschenkel und umklammerte sie fest, bevor ich mit den Augen am Sekundenzeiger der Uhr Halt suchte.
Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
Noch dreizehn Minuten.
»Wovor hast du solche Angst, Amber?«
Meine Lider klappten in schneller Folge auf und zu und das Zifferblatt verschwamm vor meinen Augen.
Ich hatte Angst vor dem, was in meinem Kopf vor sich ging. Dass darin irgendwelche Sicherungen durchgebrannt waren und ich deshalb über Wochen hinweg jeden Nachmittag Zeit mit einem Jungen verbracht hatte, den ich so sehr mochte, der aber gar nicht wirklich existierte. Weil ich mir plötzlich einbildete, ich könnte Geister sehen. Wo doch jeder wusste, dass es keine Geister gab. Zumindest jeder, der einigermaßen normal tickte. Ich hatte Angst vor dem Einschlafen, weil ich in meinen Träumen immer in das Haus in der Franklin Street zurückkehrte, in dem Nathaniel auf mich wartete. Und jedes Mal wurde er wieder zu dieser transparenten Erscheinung, in der sich meine Finger bewegten; jedes Mal spürte ich wieder diese zähe Kühle auf meiner Haut wie heute vor einer Woche, als ich mit den Fäusten auf ihn losgegangen war, aber ins Leere geschlagen hatte. Und auch jetzt, während ich daran dachte, hatte ich dieses Gefühl auf den Fingerspitzen, spürte ich diesen Lufthauch auf meiner Wange, wo er mich berührt hatte, wie ein Windstoß, der bereits eine Ahnung von Regen in sich trug, und meine Knie begannen zu zittern.
Wenn ich nicht von Nathaniel träumte, waren es Flutwellen und Meeresstrudel, die mich in die Tiefe rissen und Wasser in meine Lungen pressten, sodass ich keine Luft mehr bekam und nach Mam schrie. Bis Ted mich aufweckte, mir einen Tee machte und auf meiner Bettkante sitzen blieb, während ich die Tasse Schluck um Schluck leerte. Mittlerweile hatte er genauso dunkle Ringe unter den Augen wie ich und trank noch mehr Kaffee als früher, und ich spulte meine Schultage wie ein Zombie ab. Und von Mam träumte ich manchmal, aber ich war mir sicher, wenn ich davon hier anfing, würde ich innerhalb der nächsten Sekunden in tausend winzige Splitter zerbersten.
So sehr ich mich an den Gedanken geklammert hatte, Dr. Katz könnte mir helfen, so groß war jetzt meine Angst, sie würde mich umgehend in die Klapse stecken, wo ich den Rest meines Lebens mit Medikamenten vollgepumpt als vorzeitig verwelktes Gemüse verbringen konnte, wenn ich ihr auch nur einen Bruchteil von all dem erzählte.
Ich zog schnell die Hände unter meinen Schenkeln hervor und presste sie auf meine Knie, um sie zum Stillhalten zu zwingen, und mit zusammengebissenen Zähnen verfolgte ich weiter den Sekundenzeiger.
Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
Die ganzen übrig gebliebenen sieben Minuten lang.
Bis es zehn vor sechs war und ich gehen konnte.