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Der schmale Flur mit den weißen Wänden und dem polierten Holzboden machte einen scharfen Knick nach links. Durch den Türrahmen direkt vor mir blickte ich geradewegs auf den riesigen weißen Kühlschrank in der Küche; von rechts fiel durch eine Milchglasscheibe sanftes Licht auf einen Wandschrank und ein schwarz lackiertes Sideboard. Vor einem säuberlich aufgeschichteten Stoß ungelesener Zeitungen stapelte sich ungeöffnete Post und der Anrufbeantworter neben dem Telefon blinkte aufgeregt; achtzehn Nachrichten zeigten die Digitalziffern an. Ted atmete tief durch und stellte seinen Rucksack auf dem Boden ab.
»Ich denke, ich zeige dir am besten erst mal das Apartment.« Er klang unsicher und wirkte erleichtert, als ich nickte.
»Also, das ist die Küche«, erklärte er unnötigerweise, als er mit mir geradeaus in den Raum mit den sonnengelben Wänden und den weißen, teils verglasten Oberschränken trat. »Wie du sicher schon gemerkt hast«, fügte er mit einem nervösen Auflachen hinzu. »Mrs Ramirez kommt zweimal die Woche zum Saubermachen und wir haben auch eine Spülmaschine.« Ted stützte die Hand auf die Arbeitsfläche zwischen der Spüle und dem Gasherd, auf der eine schicke Kaffeemaschine mit passendem Toaster und eine Mikrowelle standen. »Meine Wäsche habe ich bis jetzt immer in Leroy’s Waschsalon gebracht.« Mit dem Daumen deutete er hinter sich. »Das ist nur einen Katzensprung von hier und die haben abends auch lange auf. Aber wenn du willst, schaffen wir uns eine Maschine an. Wir müssen allerdings erst einen Platz dafür finden.« Fragend sah er mich an, und als ich mit den Schultern zuckte, löste er sich von der Küchenzeile. »Unter der Woche wirst du in der Schule zu Mittag essen«, fuhr er fort, während er an dem Tisch mit den zwei Stühlen vorbei zu der Glastür am Ende der Küche ging. »Wenn du magst, kannst du dort auch abends was bekommen. Oder wir essen hier zusammen, sobald ich von der Uni zurück bin. Ich kann ganz gut kochen, vor allem asiatisch. Das hier«, er zog den Vorhang zur Seite und öffnete die Glastür, »ist der Balkon.«
Ich trat zu ihm und betrachtete den winzigen Vorbau mit der hohen Brüstung, auf dem man gerade noch so zu zweit stehen konnte. Die Hauswand gegenüber gehörte offenbar noch zum selben Gebäude und war so nahe, dass man ohne die Jalousien und Vorhänge problemlos den Nachbarn bei ihren Alltagstätigkeiten hätte zusehen können. Das hob ebenso wenig meine Stimmung wie der Blick hinunter auf den handtuchschmalen Innenhof, in dem ein paar kümmerliche Bäumchen wuchsen. Sehnsüchtig dachte ich an unseren Balkon zu Hause, den Mam jeden Frühsommer üppig bepflanzt hatte, mit Fleißigen Lieschen, Ringelblumen, Männertreu und Lavendel, manchmal auch mit Tomaten und Himbeeren, und den weiß blühenden Oleander hatte sie jedes Jahr aus seinem Winterquartier im Keller heraufgeschleppt und dazugestellt. Trotzdem war noch genug Platz gewesen für zwei Liegen und einen Sonnenschirm, unter dem wir sonntags lasen und faulenzten, und in meinen Schulferien waren wir mit Gabi oft bis in die Nacht hinein draußen gesessen und hatten über die Schule und das Leben gequatscht.
»Nebenan«, fuhr Ted fort und schloss die Balkontür, »ist das Wohnzimmer.«
Ich folgte ihm durch den Türrahmen neben dem Kühlschrank in einen großen Raum mit quadratischem Grundriss, in dem das cremefarbene Sofa und die beiden dazugehörigen Sessel samt Couchtisch aus Glas ein bisschen verloren wirkten. Denn die Schrankwand, die eine Seite des Zimmers einnahm, war noch so gut wie leer. Davor stapelten sich Dutzende Umzugskisten und lang gestreckte Kartons, die Möbelteile zum Zusammenbauen enthielten, genauso vor dem Sideboard voller Technikkram rechts von mir, auf dem ein brandneuer Flatscreen stand; bereits zusammengeschraubte CD-Regale lehnten notdürftig an der Wand neben der zweiten Tür des Wohnzimmers. Es roch nach Pappe, frischem Holz und neuem Stoff, und auch ein Hauch von Wandfarbe hing noch in der Luft. Ich wusste, dass Ted noch nicht lange hier wohnte, noch nicht einmal ein Jahr, seitdem er seine Professur an der San Francisco State University angetreten hatte.
»Tut mir leid, dass es hier noch so aussieht«, sagte er und kratzte sich mit schuldbewusster Miene an der Schläfe. »Gleich zu Anfang hatte ich an der Uni eine Menge um die Ohren und nach Karens Anruf gab es so viel zu besprechen und zu regeln. Ich dachte, ich könnte mich jetzt in den Weihnachtsferien in Ruhe darum kümmern, aber …« Er brach ab, doch ich wusste auch so, was er sagen wollte: Dann hatte sich Mams Zustand massiv verschlechtert, und Ted hatte in aller Eile Sonderurlaub beantragt, eine Vertretung für seine Vorlesungen und Seminare organisiert und sich in den nächsten Flieger nach Frankfurt gesetzt.
Ted räusperte sich und wandte sich um, und ich trottete ihm durch den anderen Türrahmen hinterher.
»Da schlafe ich.« Im zweiten Teil des Flurs, der genauso schmal war wie der Bereich hinter der Wohnungstür, nur ungleich länger, zeigte Ted auf die letzte Tür auf der rechten Seite und öffnete dann die Tür gegenüber. »Und das ist mein Arbeitszimmer.«
Der breite Schreibtisch neben dem Fenster war rings um die Aluminiumlampe und den Bildschirm mit aufgeschlagenen Büchern und unordentlichen Papierstößen übersät. Die Bücherregale waren hier schon etwas voller, aber trotzdem standen noch Kisten herum; einige davon waren geöffnet und Holzwolle quoll daraus hervor. In einer der sonst leeren Vitrinen lagen Pfeilspitzen aus Stein und eine Statue aus schwarzem Holz mit teuflischen Gesichtszügen wachte kriegerisch über verstöpselte Behälter aus Glas mit Kräutern und verschiedenen Pulvern. Ein Speer lehnte in der Zimmerecke hinter einem Ballen Plastikfolie, unter dem sich wohl irgendein Möbelstück verbarg, und über der Tür hing eine in Rot, Schwarz und Gold bemalte Dämonenmaske mit gebleckten, spitz zulaufenden Zähnen: Souvenirs und Studienobjekte, die Ted von seinen vielen Reisen und monatelangen Aufenthalten in Südamerika, Asien, Ozeanien und Afrika mitgebracht hatte.
Als ich mich auf der Türschwelle umdrehte, fiel mein Blick auf eine ganze Menge gerahmter Fotografien an der Wand zwischen Teds Schlafzimmer und dem Wohnzimmer, die mich magisch anzogen. Verblüfft starrte ich auf mein Gesicht, eine Aufnahme vom vorletzten Sommer, auf der ich bei einer Bootsfahrt auf dem See vergnügt in Mams Kamera blinzelte, während der Wind mir die Haare zerwühlte. Eins nach dem anderen betrachtete ich die Bilder und nahm dabei kaum wahr, wie Ted die Deckenleuchte über mir einschaltete. Ein Foto von meiner Konfirmation vor zwei Jahren. Klassenfotos vom Gymnasium und aus der Grundschule. Mam und ich am Strand in der Türkei, zu Piratentüchern geknotete Bandanas um den Kopf, wie sie mich an sich drückte und mit der anderen Hand die Kamera hochhielt; ich hörte förmlich unser Cheese!, das wir dabei kichernd gerufen hatten. Ein Foto von mir und meiner grasgrünen Schultüte an meinem ersten Schultag war darunter und eines, auf dem ich mit breitem Grinsen meinen ersten fehlenden Milchzahn zeigte, meine Haare mit grellrosafarbenen Gummis zu zwei Rattenschwänzen hochgebunden. Ich als ganz kleines Mädchen, wie ich in Rüschenbikini und mit Sonnenhütchen bis zu den Knien in einem Springbrunnen stand und gerade mit verschmierter Schnute von der Kugel Eis hochguckte, die ich in der Waffel vor mir herbalancierte. Aus jedem Jahr war ein Foto dabei, aus manchen auch zwei oder mehr, und obwohl ich die meisten aus unseren Alben zu Hause kannte, waren auch welche darunter, die ich noch nie gesehen hatte.
Einen Schnappschuss gab es, wie ich mich als pausbäckiges Krabbelkind gerade an einem Knie in Jeans (Teds?) hochzog und aus großen Augen verwundert in die Kamera schaute, und ein Babyfoto, auf dem ich nur Pampers anhatte und auf Teds nackter Brust selig schlummerte. Und eines von einem gewaltigen Schwangerschaftsbauch, auf den mit einer dunklen, halb zerlaufenen Paste rings um den vorstehenden Nabel ein Smiley-Gesicht gemalt war. Schemenhaft war am Bildrand eine Hand (höchstwahrscheinlich Mams) zu erkennen, die den Saum einer blauen Bluse hochgezogen hielt.
»Das war knapp zwei Wochen, bevor du zur Welt gekommen bist«, hörte ich Ted neben mir sagen. »Karen hat in dieser Zeit eimerweise Erdbeereis mit Schokoladensauce verschlungen. Ich hab sie immer damit aufgezogen und beim Herumalbern ist dieses Foto entstanden.«
Ich schielte zu ihm hin; ein wehmütiges Lächeln zuckte um seinen Mund und der Glanz in seinen Augen ließ sie verdächtig feucht aussehen. Mit zusammengekniffenen Brauen konzentrierte ich mich schnell wieder auf die Bilder vor mir.
Ich entdeckte ein leicht unscharfes Foto, auf dem Mam sich wohl gerade schwungvoll umgedreht hatte; mit fliegenden Haaren und verführerischem Augenaufschlag machte sie einen Kussmund in Richtung des Fotografen. Daneben hing eines, auf dem sich Mam und Ted auf einem zerschlissenen Sofa eng umschlungen hielten und in die Kamera schauten, ein bisschen verträumt, vielleicht auch leicht beschwipst, jedenfalls irgendwie nicht so ganz von dieser Welt. Beide sahen auf diesem Bild tatsächlich nicht viel älter aus als die Jungs und Mädchen aus der Oberstufe meiner alten Schule, Mam mit schwarz gefärbten Haaren, viel Kajal, glitzerndem Lidschatten und weinrotem Lippenstift, Ted in einem grässlichen Hemd und ohne Brille. Vermutlich war es auf einer Studentenparty geknipst worden, denn im Hintergrund waren verschwommen Leute zu sehen, und von rechts drängte sich ein langmähniger Typ ins Bild, der eine Grimasse schnitt und das Victory-Zeichen machte. Vielleicht war es nach genau dieser Party passiert, die paar Bier zu viel und das Missgeschick mit dem Kondom, das acht Wochen lang unentdeckt blieb. Gabi hatte sich fürchterlich aufgeregt, als sie erfuhr, dass Mam mir das erzählt hatte. Ich fand das nicht weiter schlimm, ich hatte mir nur manchmal gewünscht, eine Sommernacht am See und eine Flasche Rotwein wären am Anfang meines Lebens gestanden, das hätte ich wesentlich romantischer gefunden. Aber so war Mam eben gewesen, immer frei heraus, immer offen sagen, was Sache ist. Außerdem hat sie nicht einfach nur behauptet, sie habe nie bereut, mich bekommen zu haben, und ich sei das Beste gewesen, was ihr je passiert sei – ich hatte es immer gespürt. Bis zuletzt.
»Das da war mit Abstand der aufregendste Tag in meinem Leben.«
Meine Augen folgten Teds Zeigefinger zu einem Foto, auf dem er auf dem Rand eines Krankenhausbetts saß und mit rot geränderten Augen wacklig in die Kamera lächelte, ein rosafarbenes Bündel in den Armen, aus dem ein zerknautschtes Mini-Gesicht und schrumpelige Fingerchen herauslugten. Mam schmiegte sich an ihn, mit verquollenen Gesichtszügen, strähnigen Haaren und sichtbar groggy, aber mit einem Strahlen in den Augen. Gleich darauf blieb mein Blick an zwei gerahmten Ultraschallbildern hängen, unter denen Mams Name stand: Seemann, Karen. Ganz ähnliche Bilder klebten auch in einem von Mams Fotoalben. Auf dem einen der beiden Bilder hier war ich schon ganz gut als Baby zu erkennen, aber auf dem anderen war nur ein winziger schwarz-weißer Klecks zu sehen; seltsame Vorstellung, dass ich das einmal gewesen sein sollte. Und nicht weniger seltsam fand ich die Vorstellung, dass Mam und Ted bei ihrer Trennung offenbar auch diese Ultraschallfotos unter sich aufgeteilt hatten.
Ich grübelte gerade darüber nach, ob diese kleine Galerie vielleicht als nette Geste gemeint war, als versöhnlicher Willkommensgruß, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen oder um bei mir Eindruck zu schinden, da sagte Ted leise: »Das war mit das Erste, was ich nach meinem Einzug hier gemacht habe – diese ganzen Bilder zu rahmen und aufzuhängen.«
Verlegen vergrub ich die Hände tief in den Taschen meiner Jeans und zog die Schultern hoch. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, wo doch alle diese Fotos bis auf das aus jenem WM-Sommer, das Ted und mich im Europapark zeigte, eines deutlich machten: was Ted alles von mir verpasst hatte in den vergangenen fünfzehn Jahren. Fast mein ganzes Leben. Und das Einzige, was mir einfiel, war ein raues »Wo schlaf ich denn eigentlich?«.
»Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich spätabends noch arbeite«, meinte Ted, als er die Tür neben der zu seinem Arbeitszimmer öffnete. »Falls doch, müssen wir uns eine andere Lösung einfallen lassen.«
Stumm blinzelte ich in den Raum hinein, der wesentlich größer war als mein altes Zimmer zu Hause, aber sonst genauso aussah. Mein breites Bett mit dem Metallgestell war da und der Nachttisch samt Lampe, meine weißen Regale, der Kleiderschrank und mein Schreibtisch mit der roten Tischleuchte – dabei wusste ich doch, dass das alles in Deutschland zurückgeblieben war und darauf wartete, dass Gabi es entweder verschenkte oder zusammen mit ihrem Freund Heiner abbaute und zum Sperrmüll fuhr, weil das Verschiffen zu teuer gewesen wäre. Ich brauchte ein paar Augenblicke, bis ich kapierte, dass es nur die gleichen Modelle waren; sogar die lindgrünen Vorhänge waren genau dieselben.
»Karen hat mir Fotos von deinem Zimmer und die genauen Bezeichnungen der einzelnen Möbelstücke gemailt«, erklärte Ted und klang stolz, als er hinzufügte: »Ich hab hier tatsächlich alles bekommen und zusammen mit einem Kollegen von der Uni aufgebaut.«
Meine Brauen ruckten aufwärts. »Ihr habt hier auch IKEA?«
Ted schmunzelte. »Nicht direkt hier in San Francisco, aber auf der anderen Seite der Bucht, in Emeryville.«
Erwartungsvoll sah er mich an. Sein Blick war mir unangenehm, und ich schaute mich weiter um, als hätte ich es nicht bemerkt. Obwohl es außer den rot glühenden Digitalziffern des Radioweckers neben dem Bett nichts gab, woran meine Augen wirklich Halt finden konnten. Meine Bücher, alles Mögliche an Krimskrams und der größte Teil meiner Klamotten schaukelten gerade irgendwo auf dem Atlantik an Bord eines Containerschiffs umher und würden erst in gut zwei Wochen hier eintreffen. Was ich nicht gleich brauchte und außerdem zu sperrig war, wie das antike Tischchen, das Mam von ihrer Großtante geerbt hatte, hatte auf Gabis Dachboden Asyl erhalten.
»Wenn du die Möbel lieber anders stehen haben willst …«, begann Ted verunsichert, und ich schüttelte rasch den Kopf. Ich hatte die Bettwäsche entdeckt, mit der Kissen und Zudecke bezogen waren, und musste mir heftig auf die Lippen beißen. Meine Lieblingsbettwäsche war es, die mit den Margeriten, die ich schon so lange besaß, dass das helle Grün des Untergrunds fast zu Weiß ausgewaschen war und sie dünne Stellen hatte. Ich war überzeugt gewesen, Mam hätte sie während des großen Ausmistens weggeworfen, das sie in Angriff nahm, nachdem auch die Spezialisten hier in den USA, denen Ted Kopien von Mams Befunden geschickt hatte, keine bessere Prognose stellen konnten als die Ärzte bei uns. Ich fand es furchtbar, Mam zwischen all ihren Sachen sitzen und sich energisch von so vielem trennen zu sehen, von dem ich immer geglaubt hatte, es bedeute ihr was. Das ist ihre Art, Abschied zu nehmen, hatte Gabi leise über ihre Teetasse hinweg gesagt, als ich bei ihr in der Küche hockte und ihr mein Herz ausschüttete. Manche machen die Reise, die sie sich immer erträumt haben. Andere beschäftigen sich plötzlich wieder mit ihrem vergessenen Glauben oder schreiben Briefe an ihre Lieben. Karen wirft eben Ballast ab, sortiert und ordnet. Sie braucht das jetzt. Nimm ihr das nicht weg. Ich hatte mich in Grund und Boden geschämt und kleinlaut Mam dabei geholfen, unser ganzes bisheriges Leben Stück um Stück aufzulösen, wie man einen abgelegten Strickpulli aufribbelt, auch wenn es mir noch so wehtat. Und irgendwie hatte sie es dabei geschafft, diese Bettwäsche an mir vorbeizuschmuggeln und nach Amerika vorauszuschicken.
Das Rattern von Kofferrädern riss mich aus meinen Gedanken. Ted hatte meinen Trolley aus dem Flur geholt und stellte ihn neben mir ab.
»Du musst völlig fertig sein«, sagte er. »Schlaf dich erst mal aus. Das Badezimmer ist gleich nebenan. Wenn du Hunger oder Durst hast – im Kühlschrank wirst du fündig, ich habe Mrs Ramirez gebeten, uns etwas zu besorgen. Oder wir bestellen uns was.«
Ich nickte halbherzig; ich hatte ihm gar nicht richtig zugehört. In der Tür blieb Ted noch einmal stehen und stieß lang gezogen den Atem aus. »Glaub mir – ich hätte es mir auch anders gewünscht. Ich dachte, du würdest mich vielleicht regelmäßig in den Ferien hier besuchen. Oder ich dich, und wir könnten uns nach und nach besser kennenlernen.« Er machte eine kleine Pause und setzte weich hinzu: »Aber ich bin trotzdem froh, dich jetzt hier bei mir zu haben.«
Ich verschränkte die Arme fest vor der Brust. Ted hatte gut reden; er war in San Francisco geboren und aufgewachsen und hatte bis auf die knapp zwei Jahre in Deutschland seine gesamte Studienzeit hier verbracht. Er war hier zu Hause, während ich hier nichts und niemanden kannte.
Nachdem sich die Tür mit einem feinen Klicken hinter ihm geschlossen hatte, atmete ich auf. Ich schleppte mich zum Bett, nahm meinen Rucksack von der Schulter und setzte ihn auf dem Boden ab. Ungeduldig riss ich den Reißverschluss des großen Innenfachs auf. Meinen Laptop ließ ich drin, ich holte nur die Plastiktüte heraus, die ich daneben verstaut hatte, und zog die zusammengefaltete Strickjacke aus türkisfarbenem Angoragarn hervor. Vorsichtig schlug ich sie auf der Bettdecke auseinander und nahm den silbernen Bilderrahmen in die Hand. Erleichtert stellte ich fest, dass das Glas den Flug heil überstanden hatte. Mam und ich, Arm in Arm, Wange an Wange, fröhlich in die Kamera lachend. Ein Foto aus dem letzten Frühjahr, mit Selbstauslöser gemacht. Nach der Schule war ich in das kleine Studio von Foto-Wolters gefahren, um sie für einen Stadtbummel abzuholen, und weil ihr Drei-Uhr-Termin kurzfristig abgesagt hatte, war sie spontan auf die Idee gekommen, ein paar Bilder von uns beiden zu schießen; Fotos, die ihrem Chef so gut gefielen, dass er eines davon sogar in seinem Schaufenster ausstellte. Mam sah so hübsch aus auf dem Foto, dezent geschminkt, die Haare locker hochgesteckt und in einer hellen grau-blau gemusterten Bluse, die genau zu ihren Augen passte. Viel jünger als achtunddreißig und sprühend vor Energie. Dabei musste da schon der Tumor in ihrem Kopf zu wuchern angefangen haben, bevor er sich einige Wochen später bemerkbar machte, als Mam sich zunehmend matt und müde fühlte, blass und dünn wurde und immer häufiger Kopfschmerzen bekam.
Meine Hände zitterten, als ich den Bilderrahmen auf den Nachttisch stellte, und mein Blick fiel auf einen Zettel auf dem Kopfkissen, von irgendeinem Schokoriegel in orangefarbener Verpackung beschwert. WELCOME HOME!, stand darauf, daneben waren ein schiefes Herz und ein glupschäugiger Smiley gemalt. Nach Teds Handschrift sah es nicht aus, vielleicht stammte die Notiz von der erwähnten Mrs Ramirez. Ich griff danach und feuerte beides in die hinterste Ecke.
Das hier war nicht mein Zuhause und würde es auch niemals sein.
Ein blödes Stück Papier namens Sorgerechtserklärung war schuld daran, dass ich jetzt in diesem Zimmer stand, das, auch wenn es haargenau so eingerichtet war wie mein altes, noch lange nicht meins war. Ein juristisches Dokument, von Mam und Ted unterschrieben, als ich noch ganz klein gewesen war, für einen damals vollkommen abstrakten Notfall gedacht, der sich nun doch eingestellt hatte. Nur ein Stück Papier, das aber so schwer wog wie ein Steinblock und sich genauso wenig beiseite schieben ließ. Und Mam wollte es auch nicht rückgängig machen, das hatte sie meinen Großeltern unmissverständlich klargemacht, in langen Telefongesprächen, in denen Worte wie »Jugendamt«, »Kindeswohl«, »gemeinsames Sorgerecht« und »Familienrichter« vorkamen und deren Tonfall mit zunehmender Dauer schärfer wurde. Hinterher hatte sie mit leerem Blick durch die Fernsehkanäle gezappt, einen verbissenen Zug auf dem Gesicht unter dem zum Turban geknoteten Tuch, mit dem sie ihren kahlen Kopf verhüllte. Dabei hatte sie so erschöpft ausgesehen, dass ich mich nicht traute, ihr zu sagen, ich würde lieber nur zweihundert Kilometer weit wegziehen, zu Oma und Opa, anstatt zehntausend. Vor allem wollte ich nicht, dass sie dachte, ich hätte sie aufgegeben, wenn ich von mir aus vom DANACH anfing. Wo sie doch die OP auf sich genommen hatte, tapfer ihre Medikamente schluckte und die Infusionen über sich ergehen ließ, nach denen es ihr meistens dreckig ging; alles nur, um noch so viel Zeit mit mir herauszuholen wie möglich. Und DANACH – danach war es zu spät gewesen, danach waren alle Formulare schon ausgefüllt, alle Anträge bearbeitet und bewilligt gewesen und der Flug gebucht. One-way.
Wie ein Ballon, aus dem man die Luft rauslässt, fühlte ich mich mit einem Mal schlapp und leer. Ich schlüpfte aus meiner Jacke und ließ sie einfach fallen, zerrte mir die Stiefel von den Füßen und stieg aus meiner Jeans. Aus meinem Rucksack angelte ich den kleinen Bären mit der Weihnachtsmannmütze, den mir Julia zum Abschied geschenkt hatte, schnappte mir die Strickjacke und kroch unter die Zudecke. Die Bettwäsche roch sogar noch nach unserem Waschmittel, genau wie Mams Lieblingsjacke immer noch ihren Duft verströmte, nach ihrem Parfüm, das mich an einen Sommer am Meer erinnerte. Mein Gesicht in dem flauschigen Gewebe vergraben, starrte ich das Foto von Mam und mir an. Und ich vermisste Mam so sehr, dass ich es körperlich spürte, wie ein klaffendes Loch in meiner Magengegend.
Ich hörte, wie Ted in der Wohnung umherging. In die dudelnde Melodie des hochfahrenden Computers im Arbeitszimmer mischten sich die blechernen Stimmen auf dem Anrufbeantworter. Nach der letzten Nachricht piepsten die Tasten eines Telefons; einige Sekunden später begann Ted unter mattem Auflachen ein Gespräch, von dem bei mir nur Wortfetzen ankamen, teils weil er seine Stimme dämpfte, teils weil er gerade am anderen Ende des Apartments war. Aus dem Stockwerk über mir drangen Schritte herunter und draußen heulte irgendwo erneut die Sirene eines Einsatzfahrzeugs.
Hier in San Francisco war immer noch der 29. Dezember, genau wie bei unserem Abflug in Frankfurt. Es waren immer noch 704 Tage, die vor mir lagen.
Ich zog mir die Decke über den Kopf und wünschte mir, ich müsste nie mehr darunter hervorkommen.