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Noch einmal fuhr ich mit der Bürste über meine Haare und betrachtete mich im Badezimmerspiegel. Bisher war ich immer sparsam mit der Kreditkarte umgegangen, aber jetzt hatte ich sie doch einmal großzügig genutzt; Ted würde nicht begeistert sein, wenn er die Abrechnung bekam.

Zweierlei Lidschatten in ganz hellem Blau und Braun, Eyeliner und Wimperntusche ließen meine Augen riesig wirken und meine Haare glänzten dank der sündhaft teuren Spülung mit dem Gloss auf meinen Lippen um die Wette. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um im Spiegel möglichst viel von der türkisfarbenen Tunika mit der Silberstickerei erkennen zu können und dabei noch einmal sicherzugehen, dass der hellblaue Spitzen-BH darunter auch wirklich nicht zu sehr durchschien. Dann sah ich an meinen neuen Jeans herunter bis zu den Kappen der türkisfarbenen Mary-Janes. So lange hatte ich auf diesen Abend, diese Nacht gewartet, die letzten eineinhalb Monate darauf hingefiebert, da musste einfach alles perfekt sein.

»Musst du nicht langsam los?«, hörte ich Ted aus dem Arbeitszimmer rufen.

»Doch! Bin auch schon fertig!«, rief ich durch die offen stehende Badezimmertür zurück. Fix und fertig, ging es mir durch den Kopf, und ich atmete ein paarmal tief durch, um meinen nervös flatternden Magen zu beruhigen. Es nützte nichts, mir war und blieb schlecht vor Aufregung.

Ich legte die Bürste an ihren Platz, stöckelte aus dem Badezimmer, schnappte mir meinen Rucksack und meinen schicken neuen Kurzmantel in Dunkelblau vom Sideboard neben der Wohnungstür und tippelte zum Arbeitszimmer hinüber. »Ich geh dann mal. Bis morgen!«

Ted sah von seinem Schreibtisch auf und seine Brauen hoben sich. »Nach Halloween-Kostüm sieht das aber nicht aus!«

Meine Wangen wurden heiß. »Wir … wir verkleiden uns dort zusammen, das gehört zur Party dazu!«

Ted schaute auf seine Armbanduhr. »Und nur dafür, um aus dem Haus zu gehen und dich dann gleich danach auf der Party zu verkleiden, hast du alles in allem rund drei Stunden im Bad gebraucht?«

Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne und wich Teds Blick aus. Mir wurde gleich noch schlechter bei dem Gedanken, dass er mir auf die Schliche kam, weil ich gar nicht bei Abby zu einer Party mit anschließender Übernachtung eingeladen war, wie ich behauptet hatte; der Pyjama und der Beutel mit Waschzeug und der Zahnbürste in meinem Rucksack waren nur Tarnung. Gefühlte zehn Minuten lang hatte Abby mich bei Starbucks erst nur mit riesigen Augen angestarrt, mir dann aber mit einem teils schelmischen, teils bewundernden und ein bisschen traurigen Lächeln das Alibi zugesichert, um das ich sie gebeten hatte. Und mir hoch und heilig versprochen, den anderen nichts davon zu sagen.

Verdammt lange sah Ted mich jetzt an. Schließlich räusperte er sich und stand auf. »Wart mal kurz.«

Irritiert sah ich zu, wie er an mir vorbei und in sein Schlafzimmer ging, dann dort deutlich hörbar herumkramte. Länger als er eigentlich in diesem nüchternen Raum brauchen konnte, der bis auf einen schmalen Kleiderschrank, ein breites Bett und einen Nachttisch praktisch leer und so puristisch gehalten war, dass ein Zen-Meister davor verzückt auf die Knie gesunken wäre.

»Für alle Fälle«, sagte Ted hörbar bemüht, als er zurückkam und mir zwei Stanniolquadrate mit weichem, rundem und leicht glitschigem Inhalt in die Hand drückte. Ich lief tiefrot an und Ted genauso. Vielleicht weil mir die Frage auf die Stirn geschrieben stand, warum Ted irgendwo in seinem Schlafzimmer Kondome aufbewahrte. »Sind allerdings nicht hundertprozentig sicher, das weißt du, ja?« Verlegen kratzte er sich am Kopf und ich musste lächeln. Er hatte ja keine Ahnung, dass ich mich nicht mit einem Jungen aus Fleisch und Blut traf.

»Weiß ich, ja. Danke.« Trotzdem schob ich die Kondome in die Hosentasche. »Ich bin dann morgen Vormittag irgendwann wieder da.«

»Okay. Viel Spaß.« Ted wollte mir die Hand auf die Schulter legen, ließ sie aber doch wieder sinken. »Du siehst sehr hübsch aus«, sagte er dann leise.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren war mir danach, ihn zu umarmen, aber ich traute mich genauso wenig wie er. »Bis morgen«, flüsterte ich nur.

Mit klopfendem Herzen lief ich eilig die Sacramento Street hinunter. Finsterer als sonst schien mir diese Nacht zu sein, geheimnisvoller, obwohl es gerade erst dunkel geworden war. Vielleicht auch wegen des Nebels, der zäh über die Hausdächer hinweg herunterkroch und das Licht der Straßenlaternen zerstreute. Die Absätze meiner Mary-Janes klackerten auf dem Asphalt, während ich an den zahllosen grinsenden Kürbisgesichtern vorbeiging, die ihren zuckenden rotgoldenen Schein über falsche Spinnweben, Skelette in Uropa-Nachthemden, Hexen mit und ohne Besen und klassische Mini-Gespenster samt Metallketten schickten. Hier in Nob Hill war es ruhig, trotz Halloween; nur von ein bisschen weiter her konnte ich überdreht kreischende Kinder hören und kurz auch johlende Erwachsene und eine gellende Trillerpfeife.

In mir flatterte alles, als ich in der Franklin Street das Tor aufschob und durch Gebüsch und Gras den Weg zur rückwärtigen Tür einschlug. Ich schaltete die Taschenlampe meines Smartphones ein und leuchtete mir den Weg durch den Korridor in die Eingangshalle, die abgesehen von dem zarten Lichthauch einer Straßenlaterne fast völlig im Dunklen lag.

Nathaniel? Vor Aufregung blieb mir die Stimme weg und ich räusperte mich. »Nathaniel?«

»Ich bin hier.«

Ich fuhr herum und der Schein des Smartphones erfasste ihn, wie er im Türrahmen lehnte. Mein Herz legte einen Fred-Astaire-Steptanz hin, tadadackk, tadadackk, tada-dack-e-didack, und ich drehte mich schnell um. »Bleib kurz da stehen, ja?«, quiekte ich mit einem nervösen Auflachen. »Ich muss nur gerade mal eben …«

Ich sprach nicht weiter, sondern trippelte hastig zu meiner Decke unter dem Fenster hinüber, setzte den Rucksack ab und wurschtelte mich ungeschickt aus dem Mantel. Mit zitternden Fingern stopfte ich das Handy an seinen Platz und nestelte aus der Vordertasche ein Feuerzeug und eine Handvoll Teelichter hervor. Beim ersten brauchte ich einige Anläufe, bis ich es angezündet hatte, beim zweiten immerhin schon ein, zwei weniger, und kurz darauf flackerten dann alle sieben Flammen in den Aluschälchen, in angemessenem Abstand rings um die Decke auf dem Boden verteilt.

Mit wackeligen Knien ließ ich mich auf der Decke nieder und zog die Füße unter mich; die Schnallen der Mary-Janes drückten sich schmerzhaft in meine Füße, die Absätze bohrten sich in meinen Po, und mit unsicheren Fingern fummelte ich so lange daran herum, bis ich sie ausgezogen hatte; meine dünnen Söckchen pfefferte ich einfach gleich hinterher. Atemlos richtete ich mich wieder auf, warf mir die Haare über die Schultern und sah zum Türrahmen hin. Und zuckte zusammen, als ich Nathaniels Silhouette am Rand der Decke stehen sah, mysteriös und ein bisschen unheimlich von den Flämmchen am Boden beleuchtet. Mein Magen krampfte sich zusammen bei der Vorstellung, dass ich seine Schritte vielleicht deshalb nicht gehört hatte, weil er noch immer eine flüchtige Erscheinung war. Weil diese Nacht nichts geändert hatte und auch nichts ändern würde.

»Du bist wunderschön«, raunte er.

Mit glühenden Wangen senkte ich den Kopf und sah wieder auf, als er sich neben mich hinhockte. Alles was mir an Gedanken und Fragen durch den Kopf jagte, wie er sich wohl fühlte, ob ihm etwas anders vorkam, ob er schon festgestellt hatte, dass er eine wirklich greifbare Gestalt geworden war, erlosch, als er mir in die Augen schaute, und das Einzige, was ich herausbrachte, war ein dünnes und komplett albernes »Happy Halloween«.

Nathaniel schaute mich nur an; irgendwann hob er die Hand zu meinem Gesicht, verharrte damit aber ein paar Zentimeter vor meiner Wange in der Luft und ließ sie in einer mutlosen Geste wieder sinken. Ich schluckte und zähe Traurigkeit schwappte durch mich hindurch. Dann fasste ich mir ein Herz und streckte meine Hand nach ihm aus. Langsam, langsam näherten sich meine Finger seiner Wange. Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meine Rippen; ich schluckte noch einmal, dann ließ ich meine Fingerkuppen an seine Wange sinken.

An etwas, das sich fest anfühlte wie die nicht ganz ebenmäßige Haut eines Jungen, die sich über ein Jochbein spannt. Ich schluchzte auf und legte die ganze Handfläche auf seine Wange, und mit geschlossenen Augen schmiegte er sein Gesicht hinein. Ungläubig ließ ich meine Hand weiterwandern, über seinen kantigen Kiefer und seinen Hals hinab, bis zu der Stelle, die ich so gerne angeschaut und von der ich mir immer vorgestellt hatte, wie sie sich anfühlte, seine markigen Schlüsselbeine, über die ich jetzt mit meinen Fingern fuhr.

»Ich kann dich fühlen«, wisperte ich und zitterte unter der Empfindung in meinen Fingerspitzen. »Ich kann dich tatsächlich fühlen.«

Als hätte Nathaniel es jetzt erst begriffen, öffnete er die Augen, und ein unsicheres, fast ein bisschen fassungsloses Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Ich kann dich fühlen«, wiederholte ich. Ich schnellte auf meine Knie hoch und warf die Arme um ihn, überzeugt, in der nächsten Sekunde durch ihn hindurchzufallen und hart auf dem Boden aufzuschlagen. Aber da war ein Körper, der mich hielt, ein fester, solider Körper; eine breite Brust, gegen die ich prallte, ein Knie, das sich scharf in meine Hüfte bohrte, und kräftige, starke Beine, die mir im Weg waren, während meine Finger sich in einen Rücken unter einem spinnwebzarten Hemdstoff krallten und ich mein Gesicht gegen eine Halsbeuge rieb, die nach sonnengetrocknetem Treibholz und nach Moos roch, aber kein bisschen rauchig.

»Ich kann dich fühlen, ich kann dich fühlen, ich kann dich fühlen«, flüsterte ich unaufhörlich, als fürchtete ich, Nathaniel würde sich in dem Moment wieder verflüchtigen, in dem ich damit aufhörte, diese magischen Worte zu sagen oder auch nur zu denken. Ich keuchte auf, als er die Arme so eng um mich schlang, dass er mir wehtat, aber ich lachte dabei, weil es so unbeschreiblich schön war.

Grob gingen wir miteinander um; unsere Finger grapschten, drückten und kniffen den Körper des anderen, wo wir ihn gerade erwischten, wir pressten uns aneinander, dass Knie und Ellenbogen gegen Rippen und Armknochen schrammten oder sich schmerzhaft in Muskeln bohrten. Wir lachten über uns selbst dabei, ein wackeliges, schluchzendes Lachen, das jeden Moment ins Weinen kippen konnte.

Als der erste Rausch nachließ, wurden unsere Bewegungen behutsamer, zarter. Nathaniel konnte nicht genug davon bekommen, meine Haare mit seinen Fingern zu durchkämmen, und ich sog scharf die Luft ein, als er seine große, kräftige Hand um meinen Hinterkopf legte und mein Gesicht an seines zog. Er ließ seinen Blick über mein Gesicht wandern; etwas Wildes tobte darin, und doch blickte er so sanft, und meine Augen schlossen sich, noch bevor ich seinen Mund auf meinem spürte.

Tausende von Malen hatte er mich schon geküsst, diese wirbelnden, saugenden Küsse, die mir die Luft nahmen, aber keiner dieser Küsse war wie dieser eine gewesen, der wie der allererste überhaupt war und so schön, dass er mir den Atem raubte. Mir entfuhr ein kleiner, seufzender Laut; dann fiel ich nur noch, fiel in Nathaniels Armen und landete weich mit dem Rücken auf der Decke. Ich konnte nicht genug bekommen von diesen Küssen, und jedes Mal wenn er sich mir entziehen wollte, vergrub ich die Finger in seinen dichten Locken und hielt ihn fest bei mir, sein Mund auf meinem.

Es gab Momente, winzig kleine Momente, in denen ich merkte, dass er nicht aus Knochen und Muskeln, Sehnen und Haut bestand. Dass ich eine täuschend echte Nachahmung unter den Händen hatte, die greifbare Illusion eines Körpers, die Haut nicht wirklich warm, sondern ein bisschen kühl, vielleicht auch ein bisschen zu glatt und zu fest. Und wenn meine Finger über seinen Hals strichen und seine kräftigen Handgelenke umfassten, spürte ich nie einen Puls und nie einen Herzschlag, wenn ich meine Handfläche gegen seine Brust presste.

Es spielte keine Rolle. Was zählte, war das Gewicht seines Brustkorbs auf meinem, eines seiner Beine auf meinen; so viel schwerer war er, als ich es mir vorgestellt hatte, weil ich es gewohnt gewesen war, von einem bewegten, strömenden Nebel eingehüllt zu sein. Was zählte, waren seine Hände, sein Mund auf meiner Haut und das betörende Sirren, das sie durch meinen ganzen Körper schickten, bis in die Zehen und Fingerspitzen. Alles, was zählte, war, dass ich Nathaniel fühlen konnte.