72
Eine bleischwere Stille lastete auf der Küche in der Sacramento Street, und obwohl die Lampe über dem Tisch ihr warmes Licht verbreitete und das Weiß und Gelb des Raums strahlen ließ, schien der graue Nebel dieses frühen Abends durch alle Ritzen und Fugen von draußen hereinzuziehen und die Stimmung noch weiter zu verdüstern. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir, während ich erschöpft am Kühlschrank lehnte und mich an meinem Becher mit Tee festklammerte.
Das Aufschluchzen, das Abby auf meinem Platz am Küchentisch rausrutschte, durchbrach die Stille; eine zitternde Hand vor den Mund gepresst, kullerten ihr dicke Tränen aus den Augen und verschmierten ihr die schwarze Wimperntusche. Holly langte in ihre braune Ledertasche, die über der Lehne des anderen Stuhls hing, kramte ein Päckchen Tempo hervor und schob es Abby über den Tisch hinweg zu, bevor sie dann Zigarettenschachtel und Feuerzeug herausfischte und mit einer hilflosen Geste anhob. »Darf ich bei euch irgendwo rauchen? Sonst gehe ich schnell runter auf die Straße.«
Ich schlich hinüber zur Kaffeemaschine und setzte meinen Becher ab, um aus dem Oberschrank eine Untertasse herauszuholen, die ich Holly hinüberreichte, und nickte zur Balkontür hin.
»Danke.« Ich spürte, wie auch Hollys Hand zitterte, als sie mir den kleinen Teller abnahm und sich nach draußen verzog; auf dem Balkon klickte das Feuerzeug mehrmals hektisch hintereinander, bis ich das Ende der Zigarette aufglühen sah und ein schwacher Rauchgeruch unter der Glastür hereinsickerte.
Shane, der neben Matt an der Arbeitsplatte stand, legte den Arm um meine Schulter und zog mich an sich. Müde legte ich den Kopf an seine Brust unter dem auberginefarbenen Longsleeve.
»Ich fass es einfach nicht!«, platzte Matt dann heraus und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch seine blauen Haarstacheln. »Wie kann man nur so unglaublich leichtsinnig sein! So dämlich! Ich weiß gar nicht, wer dämlicher ist – Amber oder dieser … dieser …«
Abby hielt mitten in ihrem geräuschvollen Naseputzen inne. Ihre Brauen zogen sich zusammen, und aus nassen Augen funkelte sie Matt an, bevor sie das zusammengeknüllte Tempo sinken ließ. »So ein Scheiß kann auch nur von dir kommen!«, schleuderte sie Matt mit tränendicker Stimme entgegen. »Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie es ist, wenn man jemanden wirklich liebt! So sehr liebt, dass man einfach alles tun würde, um ihm nah zu sein, und jedes Risiko dafür in Kauf nimmt! Du …«
»Boah«, fiel ihr Matt genervt ins Wort und kreuzte die Arme vor seinem Totenkopf-Shirt über einem schwarzen Longsleeve. »Komm mir jetzt nicht mit diesem albernen, sentimentalen Romantikschmus, den …«
»Hey! Ich war noch nicht fertig!« Drohend hob Abby die Faust, als ob sie Matt einen ordentlichen Boxhieb damit verpassen wollte, so angespannt war sie am ganzen Körper vor Wut. »Was du albern und sentimental nennst, hat für normale Menschen etwas mit Gefühlen zu tun. Und ich find’s zum Kotzen, dass so jemand wie du abfällig darüber redet! Du hast ja so was von keine Ahnung! Du checkst doch kein bisschen, was in den Menschen um dich herum vor sich geht! Du merkst nicht mal, wenn es da jemanden gibt, der …«
»Hey«, Holly zog die Tür auf und stellte die Untertasse mit dem ausgedrückten Stummel auf dem Balkon ab, »hört auf zu streiten. Das hilft uns kein Stück weiter.«
Mit beleidigter Miene drückte Matt die überkreuzten Arme fester vor seine Brust; auf seinen Wangen zeichneten sich glühende Flecken ab, und unter zusammengezogenen Brauen schielte er zu Abby hin, die seinen Blick aus zornblitzenden Augen und mit knallrotem Gesicht erwiderte, während sie ein frisches Taschentuch aus der Packung zupfte und lautstark hineintrompetete.
»Also, wie sieht’s aus?!«, rief Holly mit einer Munterkeit, die hohl klang, und klatschte in die Hände. »Fangen wir an?«
»Ich. Bin. Entzückt«, wiederholte Holly bestimmt schon zum achtzehnten Mal, seit wir Teds Arbeitszimmer betreten hatten. Als sie sich daran erinnerte, wie ich einmal nebenbei erwähnt hatte, was Ted beruflich machte, war es ihre Idee gewesen, uns hier zu treffen. Sie wollte Teds Bücher nach irgendetwas durchstöbern, das uns einen Hinweis darauf geben konnte, was mit Nathaniel und mir an Halloween passiert war. Und vor allem, ob es vielleicht eine Möglichkeit gab, wieder rückgängig zu machen, was sich für uns beide mehr und mehr wie ein Fluch anfühlte. Ted hatte nichts dagegen gehabt, als ich vorsichtig fragte, ob ich an dem Abend, an dem er eine seiner endlosen Konferenzen hatte, Schulfreunde zum Lernen zu mir einladen durfte und ob wir vielleicht auch seine Bücher dazu benutzen könnten. Vielleicht hatte er es auch deshalb erlaubt, weil er spürte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Immer wieder musterte er mich beunruhigt, legte mir neuerdings Vitamintabletten auf den Frühstückstisch neben das Glas mit O-Saft und war überhaupt besonders nett zu mir.
»Warum hast du deinem Dad denn nie etwas davon erzählt, dass du Geister sehen kannst?« Ihre Beine in den Springerstiefeln und den geringelten Overknees übereinandergeschlagen, ließ Holly Teds Schreibtischstuhl hin und her pendeln und betrachtete die Vitrinen an der gegenüberliegenden Wand.
»Er glaubt nicht an Geister«, erwiderte ich. Mit einem Buch in der Hand hockte ich auf dem Boden und lehnte mich an Shane, der neben mir saß und systematisch einen ganzen Stapel durchging.
»Na und?«, gab Holly fröhlich zurück. »Das heißt doch nicht, dass du ihm nicht davon erzählen kannst. Wenn er sich beruflich mit so was«, sie hob den aufgeschlagenen Wälzer von ihren Knien an, »beschäftigt, kann ihm das nicht allzu fremd sein. Und wenn ich mir das hier so ansehe«, sie reckte den Arm vor und blätterte völlig ungeniert in Teds Notizen und Ausdrucken auf dem Schreibtisch herum, »scheint dein Dad ein enorm kluger und feinfühliger Mann zu sein!«
Schwach zuckte ich mit den Schultern. Ich konnte mich kaum auf mehr als zwei oder drei zusammenhängende Sätze in einem Buch konzentrieren, geschweige denn eine Diskussion mit Holly anfangen; ständig schweiften meine Gedanken zu Nathaniel ab, voller Sorge, wie es ihm gerade ging und ob er womöglich jetzt gerade wieder diese grauenvollen Schmerzen litt. Und die Angst vor dem, was gerade mit mir passierte, hielt mich dauerhaft im Genick gepackt.
»Mann, ist das ätzend!«, schimpfte Matt auf dem Boden vor dem Fenster vor sich hin und blätterte ungeduldig in einem schon reichlich zerfledderten Buch herum. »Darin gibt’s ja nicht mal ein Stichwortverzeichnis! Völlig unstrukturiert, das Ganze! Da lob ich mir doch eine vernünftige Datenbank!«
»Dann mach dich doch in deinem geliebten Netz auf die Suche, Honey«, säuselte Holly zuckersüß, aber mit einem scharfen Unterton darin. »Falls du darin was Brauchbares finden solltest – was ich allerdings bezweifle – werden wir dir sicher allesamt dankbar die Füße küssen!«
Abwechselnd musterte ich Matt und Holly. Eine gewisse Spannung lag zwischen ihnen in der Luft. In meiner Gegenwart berührten sie sich kaum noch; stattdessen lieferten sie sich häufiger bissige Wortwechsel, ohne dass ich hätte sagen können, wann oder warum das angefangen hatte.
»Hmpf«, gab Matt prompt verstimmt zur Antwort und nahm das nächste Buch zur Hand.
»Ich glaub, ich hab hier was«, murmelte Abby, die aus ihren schwarzen Sneakers geschlüpft war und sich mit untergezogenen Beinen in den Ledersessel gesetzt hatte. Ich hatte ein bisschen gebraucht, um zu kapieren, weshalb Abby heute so anders aussah: zu einem übergroßen anthrazitgrauen Strickpulli mit Rollkragen trug sie nagelneu wirkende Jeans – in Tintenblau. Den Finger auf die entsprechende Stelle der Buchseite gelegt, erwiderte sie schüchtern unsere aufmerksamen Blicke. »Es gibt da eine Gespenstergeschichte aus dem England des neunzehnten Jahrhunderts. Ein junger Adeliger hatte beim Glücksspiel einen Landsitz gewonnen, und nachdem er dort eingezogen war, erschien ihm jede Nacht der Geist einer bildschönen Lady, in die er sich unsterblich verliebte.« Matts Schnauben überging sie einfach; nur die Röte, die auf ihren Wangen aufflammte, verriet, dass sie es gehört hatte. »Natürlich konnten die beiden nicht wirklich zusammenkommen, aber in einer Nacht ereignete sich dann doch das Unmögliche, und sie konnten … na ja. Es tun.« Abbys ganzes Gesicht leuchtete feuerrot.
»Und dann?«, knurrte Matt gereizt dazwischen.
Abby holte tief Luft. »Nach dieser Nacht wurde der Adelige immer blasser und schwächer. Kein Arzt wusste, was ihm fehlte oder konnte ihm helfen, und schließlich starb er. Als Geist ging er dann selbst auf seinem Landsitz um, immer auf der Suche nach seiner Lady, die aber verschwunden war und die er niemals mehr fand.«
Beklommen sahen wir uns alle gegenseitig an und mir wurde übel vor Angst.
»Ganz toll, wirklich«, grummelte Matt. »Mit dieser ollen Kamelle machst du uns allen so richtig Mut – ganz besonders Amber! Super, Abby, echt!«
Abby ließ den Kopf sinken, sodass ihr die langen Haare vors Gesicht fielen, und verkroch sich förmlich hinter dem Buch in ihrem Schoß.
»Na ja«, begann Holly nachdenklich, lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück und wuschelte sich durch ihre lilafarbenen Haare. »Immerhin hätten wir damit schon mal einen Hinweis darauf, dass so etwas schon mal passiert ist. Solche ollen Kamellen«, unter einer hochgezogenen Braue warf sie Matt einen süffisanten Blick zu, »haben meistens einen wahren Kern. Und vielleicht finden wir noch die eine oder andere ganz ähnliche Geschichte, wenn wir gründlich genug suchen.« Energisch klappte sie das Buch auf ihren Knien zu und pfefferte es auf den Schreibtisch, wo es Teds Unterlagen in gefährliche Schieflage brachte, bevor sie aufstand und auf Abby zumarschierte. »Zeig mir das bitte mal kurz … Oh!« Abrupt blieb sie stehen, die Augen auf die Vitrine hinter Abby geheftet. »Ooohh«, wiederholte sie lang gezogen und seufzend, beinahe sehnsüchtig. »Oooohh – darf ich?« Ohne meine Antwort abzuwarten, zog sie die Glastür auf, griff in die Vitrine hinein und holte das Figürchen einer gesichtslosen Frau mit dickem Bauch und riesigem Busen heraus. »Die Venus von Willendorf«, hauchte sie beinahe ehrfürchtig, drehte die winzige Statue zwischen den Fingern und betrachtete sie von allen Seiten.
»Das ist eine Nachbildung, glaube ich«, bemerkte ich; viel wusste ich nicht über die Gegenstände in den Vitrinen.
»Natürlich ist sie das!«, erwiderte Holly mit einem Auflachen. »Das Original ist einzigartig und von unschätzbarem Wert. Aber trotzdem …« Ihr Blick bekam etwas Verklärtes, als sie leiser hinzufügte. »Das Symbol für Fruchtbarkeit und Weiblichkeit. – Ist dein Dad etwa Feminist?« Es klang, als fragte sie danach, ob Ted einer bestimmten politischen Partei angehörte oder Fan einer ganz besonderen Independent-Band wäre.
»Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?«, gab ich schnippisch zurück; mein Leben stand gerade auf dem Spiel, und Holly hatte nichts Besseres zu tun, als neugierig Teds Vitrinen zu durchforsten, nur weil es sie gerade interessierte. »Stell sie bitte wieder rein.«
»Oh. Oh. Ohh«, kiekste Holly stattdessen heiser und mit weit aufgerissenen Augen und holte sich auch noch eines der Amulette heraus. »Oh, schau mal!«
»Leg das bitte zurück!« Ich ärgerte mich tierisch über Holly; es war schon großzügig genug von Ted, dass wir seine Bücher benutzen durften. Dann auch noch in seinen Sachen herumzuwühlen, fand ich ziemlich dreist.
»Jetzt lass mich doch!«
»Holly, bitte!«
»Schau dir das doch mal an!« An dem roten Seidenband mit den durchbrochenen Silberperlen hielt sie mir die fast handflächengroße Silberscheibe mit roten und türkisgrünen Steinen entgegen, auf der sich geometrische Formen zu einem komplizierten Knotenmuster verbanden.
»Komm schon, Holly«, rief Shane mit einem Grinsen dazwischen. »Selbst Kayla weiß inzwischen, dass sie nicht an die Schränke gehen darf, wenn sie irgendwo zu Besuch ist.« Abby kicherte, und Matt gab sein meckerndes Lachen von sich, in das Holly mit ihrem ganz eigenen rauen Lachen und kein bisschen eingeschnappt einstimmte, mir aber weiterhin nachdrücklich das Amulett vor der Nase herumpendeln ließ.
»War dein Dad mal in Tibet, weißt du das zufällig?«
»Neunzehnhundertsiebenundneunzig. Ja.« Erschrocken ruckten alle unsere Köpfe herum. In seinem hellblauen Hemd unter dem dunkelblauen Sakko und den Edeljeans stand Ted im Türrahmen, und mein Magen sauste im freien Fall hinab; Zoff mit Ted war momentan so ziemlich das Letzte, was ich brauchen konnte.
Ein, zwei Herzschläge lang stand eine angespannte Stille im Raum. Ein, zwei Herzschläge lang wünschte ich mir nichts mehr, als dass Ted meine Freunde mochte und sie ihn im Gegenzug gut fanden; Augenblicke, in denen ich wieder ein ganz normales Mädchen mit ganz normalen, kleinen Problemen war. Ganz genau wie früher, in meinem alten Leben.
»Hallo!«, rief Holly dann mit einem Strahlen auf dem Gesicht. »Du musst Ted sein! Ich bin Holly! Ich freu mich wahnsinnig, dich endlich kennenzulernen!«
Teds Brauen hoben sich, während er Holly mit ihren lilafarbenen Haaren und den Piercings anstarrte, wie sie in seinem Arbeitszimmer stand, in der einen Hand die üppige Mini-Venus, in der anderen das Amulett. Holly in ihren schwarzen Hotpants, der Netzstrumpfhose mit der fetten Laufmasche, den Springerstiefeln und Overknees und dem wild gemusterten Oberteil, das mit seinem tiefen Ausschnitt nicht nur den Träger eines roten BHs, sondern auch einige ihrer Tattoos hervorblitzen ließ. Und die absolut nicht so aussah, als ob sie mit mir zur Schule ging.
Seine Augen wanderten weiter, über die Dutzende von Büchern, die wir aus den Regalen gezogen hatten und die nun um uns herum aufgestapelt und ausgebreitet lagen, hin zu Abby, die sich mit ängstlich geweiteten Augen immer tiefer im Sessel verkroch, dann zu Shane, der wie beschützend den Arm um mich gelegt hatte, und zu Matt, der ihn freundlich, aber auch ein bisschen unsicher angrinste. Und immer wieder blieb sein Blick an Holly hängen, die ihn unverändert anstrahlte.
»Äh, ja. Hallo.« Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und räusperte sich. »Kommt … kommt ihr denn gut voran?«
»Super!«, rief Holly überglücklich aus, schien aber irgendwie etwas ganz anderes zu meinen. »Du musst mir unbedingt von Tibet erzählen und mehr über das hier, ja?« Wie im Triumph hielt sie das Amulett hoch.
Ted blinzelte sie verwirrt durch seine Brillengläser hindurch an, bevor er dann abrupt den Blick von ihr löste. »Äh. Ja. Kann ich machen.« Noch einmal ließ er seine Augen über uns und das Chaos schweifen, das wir in seinem Arbeitszimmer veranstaltet hatten. Dann zog er eine Hand aus der Hosentasche und kratzte sich verlegen am Kopf. »Mag hier vielleicht außer mir sonst noch jemand Pizza?«