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Die Hände in den Taschen meiner Sweatjacke, eilte ich die Franklin Street entlang. Ich ging langsamer, als ich vor dem hohen Metallzaun einen braun gebrannten Mann in Cordhosen und Tweedsakko entdeckte, der einen wuscheligen braungelben Hund an der Leine ausführte. Der Hund schnupperte in aller Seelenruhe an dem Gebüsch, das zwischen den Streben des Zauns hervorwucherte, und ich ging noch langsamer, in der Hoffnung, mit meinem vollgestopften Rucksack wie eine Touristin auszusehen.

Endlich hob der Hund das Bein, pinkelte gegen den Strauch und trabte dann munter neben seinem Herrchen her, das mir freundlich zunickte. Ich nickte zurück und schlenderte ziellos vor dem Tor umher, als würde ich auf jemanden warten. Dabei wartete ich nur darauf, bis Herr und Hund am Ende des Blocks abbogen; rasch sah ich mich nach allen Seiten um und schob das Tor auf.

Wie jeden Nachmittag nach der Schule stapfte ich durch das wuchernde Gras, drückte die Holztür auf der Rückseite auf und tauchte ein in das Dämmerlicht des Korridors. Und wie jeden Nachmittag blieb ich in der Halle einen Augenblick lang stehen, um das Spiel aus Licht und Schatten zu bewundern, das jeden Tag ein anderes war. Heute, während sich draußen hoch oben am Himmel hauchfeine Nebelschleier ausbreiteten und den Sonnenschein filterten, stand ein sanftes Licht im Raum, durch das Buntglasfenster zartblau und hellviolett getönt. Zu den Wänden hin verdichtete es sich zu einem rauchigen Graublau, das in den dunklen Schatten oben an der Treppe verschwand. Wie in einer Traumwelt sah es hier aus und ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht.

Unter dem gegenüberliegenden Fenster schlüpfte ich aus den Gurten und setzte meinen Rucksack ab, der elend schwer war wegen der paar Flaschen Cola light, die ich zusammen mit einer Rolle Kekse noch schnell auf dem Weg hierher bei Chico’s gekauft hatte. Ich bückte mich, löste die Schnürsenkel meiner Sneakers und zog sie aus, bevor ich mich mit einem zufriedenen Aufseufzen im Schneidersitz hinhockte. Mit einer Hand streichelte ich den weichen Stoff, auf dem ich saß – meine türkisblaue Lieblingsdecke von zu Hause, die in einer Umzugskiste an Bord des Containerschiffs nach mir in Amerika angekommen und mit einem kleinen Umweg über meinen Kleiderschrank hierhergewandert war. Das war das Beste an jedem Tag unter der Woche: hierherzukommen und hier zu sitzen. Allein und doch nicht allein, in der Gesellschaft dieses alten, leeren, stillen Hauses.

Seit ich probehalber oben im Badezimmer an den sperrigen Hähnen gedreht hatte, was zu meinem Schreck ein donnerndes Röhren und Rülpsen aus den Rohren in der Wand zur Folge gehabt hatte, bevor dann eine braune, stinkende Brühe herauströpfelte, die zu meiner Freude irgendwann in einen klaren, kalten Wasserstrahl übergegangen war, kam ich sogar noch lieber hierher. Auch die Klospülung hatte ab dem dritten Versuch funktioniert. Bei Walgreens, dem kunterbunten Drogeriemarkt gegenüber von Lori’s Diner, hatte ich Toilettenreiniger gekauft, mit übergezogenen Gummihandschuhen den Deckel angehoben und ohne genauer hinzugucken die stechend riechende pinkfarbene Flüssigkeit hineingekippt, bevor ich den Brillenrand mit fast einer ganzen Flasche Desinfektionsspray imprägnierte.

Nur Strom gab es keinen, aber weil man bei Walgreens so ziemlich alles bekam, was man so brauchen konnte, hatte ich mir noch eine Taschenlampe und einen Satz Batterien gekauft, und mit Seife, einem Dreierpack Handtücher, Klopapier und einer Rolle Müllbeutel war ich hier sozusagen eingezogen.

Ich holte meinen Schulkram aus dem Rucksack, und während der Laptop auf Akku hochfuhr, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand unter dem Fenster, zog die Knie an und nahm mir von dem Bücherstapel, den ich hier nach und nach angelegt hatte, mein Notizbuch, das mir mit seinem nostalgischen Rankenmuster in Meeresfarben im Shop der Jefferson High sofort ins Auge gestochen war. Ich schrieb nicht viel hinein, nur Dinge über Mam, die mir manchmal durch den Kopf gingen und die ich unbedingt festhalten wollte, weil ich Angst hatte, dass ich sie sonst vergaß. Auf der letzten Seite schlug ich es auf. … 658 657 656 654 653 652 651 650 649

Ich strich die letzte Zahl durch und schrieb die 648 für den nächsten Tag dahinter. Den Februar hatte ich schon so gut wie hinter mich gebracht, zwischen Schultagen, den Nachmittagen hier und den Touren mit Ted an den Wochenenden durch unser Viertel von Nob Hill sogar besser als gedacht.

Mein Laptop war so weit; ich legte das Notizbuch zur Seite, stellte ihn mir auf die Knie und fing mit meinen Hausaufgaben an. Mit Deutsch war ich schnell fertig, für Englisch brauchte ich etwas länger, aber ich schaffte es noch, bevor der Akku leer war. Ich klappte den Laptop zu und stopfte ihn zusammen mit den Mitschriften zurück in den Rucksack, bevor ich die Keksrolle aufriss und mir einen Roman schnappte. Gemütlich ringelte ich mich auf der Decke zusammen, knabberte im Liegen Kekse und las.

Wie meine Augen nach einiger Zeit schwer wurden, merkte ich noch; wie ich bald danach wegdämmerte, nur noch halb.