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Die Räder meines Trolleys klackerten über den glatten Boden der Flughafenhalle, durch die ich Ted hinterherstolperte. Eine Schar asiatischer Flugbegleiterinnen in gemusterten Wickelröcken und passenden Blusen, jede ein Trolleyköfferchen im Schlepptau, trippelten kichernd und schnatternd in ihren Riemchensandalen an uns vorbei, das lackschwarze Haar zu einer Hochsteckfrisur festbetoniert und geschminkt wie für das Cover eines Hochglanzmagazins.

Nach elf Stunden im Flieger, in denen ich abwechselnd vor mich hingedöst und sinnlos aus dem Fenster gestarrt hatte, weil mir der ausklappbare Minibildschirm nur die Wahl zwischen Liebesschnulzen, hirnlosem Actiongeballer und irgendwelchem Kinderkram ließ, fühlte ich mich wie von einem Bulldozer überfahren. Ich war noch nie so weit geflogen, nur mit Mam in die Türkei und nach Ägypten. Jeder Knochen, jeder Muskel tat mir weh und mein Kopf war wie mit Watte ausgestopft. Noch dazu hatte die seltsam aussehende quietschgelbe Masse heute Morgen, die wohl Rührei hätte sein sollen, ein pelziges Gefühl in meinem Mund hinterlassen, das sich auch gegen Kaugummi und diverse Dosen Cola light widerstandsfähig zeigte.

Die Wärme von Gabis Umarmung, als sie sich in der Abflughalle von mir verabschiedete, und der pudrige Duft ihres Parfüms, den ich noch einige Stunden nach dem Abheben an mir erschnuppern konnte, waren längst verflogen. Du wirst dich schneller dort einleben, als du jetzt denkst. In ein paar Wochen sieht alles schon viel freundlicher aus, glaub mir!, hatte ich noch ihre Stimme im Ohr. Das war typisch Gabi, für sie war das Glas immer halb voll statt halb leer. Tschüss, mein Liebes! Mach’s gut dort drüben! Schick mir eine SMS, wenn ihr gelandet seid! Und mail mir bald oder ruf an! Müde hatte sie ausgesehen; unter ihren warmherzigen braunen Augen, aus denen ständig Tränen kullerten, waren tiefe Schatten zu sehen. Nach und nach hatte Gabi in den letzten Monaten ihre Arbeitsstunden in der Praxis für Physiotherapie reduziert, um mit mir zusammen den Haushalt zu schmeißen und sich um Mam zu kümmern, und als das nicht länger ging und Mam ins Krankenhaus musste, war Gabi trotzdem immer irgendwie da gewesen. Bis Ted kam, hatte sie sogar bei uns in der Wohnung geschlafen, damit ich nachts nicht allein war. Ohne sie wären wir wesentlich schlechter dran gewesen, Mam und ich. Und obwohl ich vernünftig sein und einsehen wollte, dass Gabi ein Recht darauf hatte, wieder ihr eigenes Leben zu führen, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass Mam mich bei ihr hätte wohnen lassen, anstatt mich zu Ted zu schicken. Und schreib mal eine Karte – mit der Golden Gate Bridge drauf! Oder einem Cable Car!

Bis zur Passkontrolle hatte ich mich noch an den dünnen Strohhalm geklammert, mit meinen Papieren könnte etwas nicht in Ordnung sein, mir würde die Einreise verweigert und ich müsste auf der Stelle den nächsten Flug zurück nehmen. Schließlich war ich zwar die Tochter eines Amerikaners, aber in Deutschland geboren, und Mam und Ted waren nie verheiratet gewesen. Mein neu ausgestellter amerikanischer Pass, für den Gabi mit mir und einer Mappe voller wichtig aussehender Dokumente ins Konsulat nach Frankfurt gefahren war, hielt jedoch der Prüfung durch die Beamtin in schwarzer Uniform und ihrem Scanner stand, und mit einem Nicken und einem angedeuteten Lächeln gab sie mir zu verstehen, ich solle weitergehen. Welcome to America.

Grell stach mir das Sonnenlicht in die Augen, als wir ins Freie traten, und ich kniff die Lider zusammen. Klasse, meine Sonnenbrille war natürlich irgendwo ganz unten in meinem Koffer; keiner hatte mir gesagt, dass ich die hier Ende Dezember brauchen würde. Und warm war es, zumindest zu warm für meine dicke Jacke und die gefütterten Stiefel. Missmutig blinzelte ich zum Himmel hinauf, der hinter leichten Dunstschlieren knallblau leuchtete. Auf der rechten Seite erstreckte sich ein lang gezogener Bau mit glatter, von Querschlitzen durchzogener Fassade, vor dem sich auf einer hochgebockten Schiene eine silberglänzende Bahn heranschob, die in ihrem futuristischen Design genau zu dem Flughafengebäude aus Stahl und Glas passte. Und jenseits der Betonbrüstung, die die Zufahrtsstraße vor mir einfasste, ließ mich ein kräftiger Windstoß einen Blick durch dichte Sträucher auf ein Labyrinth aus Asphalt erhaschen, das sich dahinter ausdehnte; mehrspurige Straßen, die sich in Kurven, Schleifen und Bögen über- und untereinander hindurchwanden. Als hätte hier jemand mit großer Begeisterung seine ganz persönliche Vorstellung von einer Stadt der Zukunft verwirklicht, vermutlich ein Trekkie mit Leib und Seele, der Mister Spock als sein Idol verehrte.

Ich umklammerte den Schultergurt meines Rucksacks fester. Irgendwie schien ich die Einzige zu sein, die wirklich kapierte, was das hier für mich bedeutete. Ich und vielleicht noch Julia. Scheitel an Scheitel und mit angezogenen Knien hatten wir die letzten Nachmittage auf ihrem Bett verbracht, weil ich es in der so gut wie leer geräumten Wohnung nicht mehr aushielt, und hatten in einvernehmlichem Schweigen an die Decke gestarrt. Als könnten wir dadurch die Uhren anhalten und das Unvermeidliche vielleicht doch noch abwenden.

Nach dem ersten Schock, als ich geknickt meine Neuigkeit verkündete, hatte es bei den anderen einen Schalter umgelegt. Heyyy, Frisco – Hammer! Amiland, wie geil! Mensch, hast du ein Schwein!, hatten sie durcheinandergerufen. Sandra hatte himmelschreiend schief »Ca-li-for-nia drea-min’ on such a winter’s daayy« angestimmt, und Hannes, dem sicher irgendwann noch Schwimmhäute wachsen würden, weil er jeden Sommer mehr Zeit im See als sonst wo verbrachte, hatte eine Hand mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger locker geschüttelt und grinsend »Hang Loose!« gejohlt. Mir entfuhr ein leises Schnauben, als ich daran dachte. Klar fanden das alle toll! Sie konnten ja auch weiter in ihrem kuscheligen Nest bleiben, in dem es sich prima von der großen Welt träumen lässt, während ich diejenige war, die alles hinter sich lassen musste. Meine Stadt, mein Zuhause, meine Freunde.

Ja, sicher, sie würden mich vermissen, das hatten sie zigfach wiederholt, und womöglich wollten sie mir es mit ihrer Begeisterung nur leichter machen. Trotzdem hatten sie fast im selben Atemzug mit glänzenden Augen herausgesprudelt, was ich dort drüben doch alles sehen und erleben könnte, und manchmal hatten sie fast ein bisschen neidisch geklungen. Als ob ich in einem Preisausschreiben gewonnen hätte. Sie taten gerade so, als wechselte ich einfach die Schule oder würde in einen Nachbarort umziehen und wäre in den nächsten zwei Jahren nur einen Katzensprung entfernt. Mir kam es vor, als lebten sie in einer anderen Welt. In der das Schlimmste, was einem zustoßen konnte, darin bestand, dass man wegen der Fünf in Mathe sitzen blieb. Dass die Eltern sich scheiden ließen wie die von Hannes oder häufig stritten wie bei Sandra. Während ich einfach aus dieser Welt herausgefallen war, hinein in eine, in der eine Mutter von heute auf morgen todkrank werden und niemand etwas dagegen tun konnte. Eine Welt, in der einfach nichts mehr stimmt und in der man ziemlich allein herumhockt, weil man von den anderen wie durch eine Glasscheibe getrennt ist.

»Kommst du?« Ted stand neben der offen stehenden Tür eines erbsengrünen Taxis, das mit Fog City Cab beschriftet war. Eine dicke Nebelsuppe hätte definitiv besser zu meiner Laune gepasst. Der Fahrer hob gerade Teds Trolley in den Kofferraum; als ich näher schlurfte, warf er meinen Koffer mit seinen immerhin beachtlichen 23,8 Kilo schwungvoll hinterher. »Rutsch rüber und schnall dich an!«

Ich schob mich auf die andere Seite des Rücksitzes, verstaute meinen Rucksack im Fußraum und sortierte erst mal meine müden Arme und Beine.

»Nob Hill, bitte«, rief Ted dem Fahrer zu, der schon auf seinen Sitz gehüpft war und den Motor anließ. Das Autoradio sprang mit an und füllte unter stampfenden Rhythmen den Innenraum mit plärrendem Latino-Pop, während ich gerade anfing, mich aus meiner Jacke zu pellen. »Eins-vier-sieben-vier Sacramento Street. – Amber! Anschnallen!«

»Jaa doch! Ich bin kein Baby mehr!«, schimpfte ich vor mich hin, griff aber trotzdem nach der Gurtschnalle. Ich hatte sie kaum einrasten lassen, als das Taxi unter aufheulendem Motor ruckartig ausscherte und mit quietschenden Reifen so scharf anfuhr, dass es mich in den Sitz zurückschleuderte, bevor der Fahrer das Gaspedal durchtrat und die Straße entlangraste.

Erschrocken sah ich Ted an. Ein Schmunzeln vertiefte die Kerben beiderseits seiner Mundwinkel. »Das ist Taxifahren in San Francisco.«

Na prima. Ich hatte gerade erst einen Langstreckenflug inklusive Landung auf der ins Wasser gebauten Piste überstanden, die mir den Magen umgedreht hatte, nur um in einer Stadt mit wild gewordenen Taxifahrern anzukommen. Hoffentlich erfüllten die milde lächelnde Madonna mit dem goldenen Heiligenschein auf dem Armaturenbrett und der heftig schaukelnde Rosenkranz am Rückspiegel ihren Zweck.

»Im Urlaub gewesen?«, erkundigte sich der Fahrer, ein schmaler schwarzhaariger und schnauzbärtiger Mann mit dunklem Teint, dessen Amerikanisch von einem harten Akzent unterlegt war. Interessiert musterte er Ted im Rückspiegel, während er ganz nebenbei den Wagen in den Verkehr auf der Autobahn einfädelte.

»Familienangelegenheiten«, erwiderte Ted und warf mir einen Seitenblick zu. »Ich habe meine Tochter zu mir geholt.«

»Ihre Tochter?« Die Augen im Rückspiegel richteten sich neugierig auf mich und ich rutschte tiefer in den Sitz; ich ahnte, was gleich kommen würde. »Da haben Sie ja früh angefangen«, setzte er prompt mit einem rauen Lachen hinzu.

Ich verdrehte die Augen. Die Leute klangen immer, als sei ich das Ergebnis einer Teenager-Schwangerschaft gewesen; dabei war Mam zweiundzwanzig gewesen, als sie mich bekommen hatte, und Ted gerade mal ein Jahr jünger.

»Schau.« Ted zeigte über die Wasserfläche rechts neben der Straße. Ich konnte noch einen Blick auf das von Scheinwerfermasten gekrönte Oval eines kleinen Stadions am Ufer werfen, bevor es hinter einem verschachtelten Apartmentkomplex am Fuß eines Hügels verschwand. »Der Candlestick Park«, erklärte Ted. »Da spielen die Giants. – Baseball«, setzte er hinzu. »Wenn du Lust hast, besorg ich uns mal Karten.«

»Ich mach mir nicht so viel aus Sport«, murmelte ich und kratzte einen getrockneten Klecks Pseudo-Rührei vom Oberschenkel meiner Jeans.

»Das war aber früher anders.« Ted klang irritiert; offenbar erinnerte er sich an den einen Sommer, in dem er bei uns zu Besuch gewesen war und mit Mam und mir Fußball-WM gucken musste und wir ihm erst mal mit Flaschendeckeln im leeren Pizzakarton die Abseitsregel erklärten. »Du bist doch auch immer gern laufen gegangen.«

Ich zuckte mit den Schultern und konzentrierte meine ganze Aufmerksamkeit darauf, die Spitze meines Stiefels in den Winkel zwischen Fahrersitz und Mittelkonsole zu bohren. Früher war eben früher und jetzt war jetzt. Früher waren Mam und ich manchmal sonntagvormittags in unsere Joggingklamotten und Laufschuhe gestiegen und hatten mit im selben Takt hin- und herpendelnden Pferdeschwänzen eine Runde am See gedreht, aber nachdem sie das nicht mehr konnte, hatte ich auch keine Lust mehr dazu gehabt.

»An der Jefferson High kannst du zwischen einer Menge Sportarten wählen«, hörte ich Ted neben mir sagen. »Vielleicht findest du etwas, das dir Spaß macht.«

Jefferson High war ein schlechtes Stichwort. Ein ganz schlechtes. Bisher hatte ich erfolgreich verdrängt gehabt, dass ich hier auch zur Schule gehen musste, und der Gedanke, in ein paar Tagen als die Neue dort aufzuschlagen, ließ mich noch tiefer auf dem Sitz hinabrutschen. Hastig kramte ich mein Handy aus dem Rucksack, schaltete es ein und suchte ein Netz. Es vibrierte in meiner Hand und auf dem Display war ein kleiner Briefumschlag zu sehen.

Von: Lukas

Guten Flug! Lass mal von dir hören! XOXO

Mein Herz machte einen kurzen Satz und krampfte sich dann zusammen. Am Tag vor Heiligabend hatte ich Lukas das letzte Mal gesehen, dann war er wie jedes Jahr in den Weihnachtsferien mit seiner Familie zum Skilaufen in die Berge gefahren. Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals und meine Hand zitterte.

»Alles okay?«, fragte Ted.

»Klar«, würgte ich hervor. Julia hatte sich verplappert, als ich mich am Tag vor meinem Abflug von ihr und Sandra verabschiedete; mit hochrotem Kopf hatte sie bang abgewartet, wie ich darauf reagieren würde, dass Lukas sich in der Woche vor Weihnachten gleich zweimal mit Svenja aus der Parallelklasse getroffen hatte. In unserem Café. Ich konnte es ihm eigentlich nicht mal übel nehmen; es ist nicht besonders spaßig, eine Freundin zu haben, deren Mutter gerade stirbt. Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr mit ihm und den anderen abhängen oder Filme anschauen, nicht mehr mit Lukas auf seinem Bett herumlungern und Musik hören, weil mich jeder Ton aus den Boxen, jede Umarmung und jeder Kuss im nächsten Moment hätte in Stücke gehen lassen. Vor allem konnte ich nicht von ihm verlangen, zwei Jahre auf mich zu warten und so lange die laut Internet exakt 9.383,704 Kilometer zwischen uns mit E-Mails, SMS und Skype zu überbrücken. Ich wusste ja aus eigener Erfahrung, wie wenig das taugt, um einem auch nur eine Illusion von Nähe vorzugaukeln.

»Ist wirklich alles gut bei dir?« Ted musterte mich, seine Stirn in besorgte Falten gelegt.

Ich starrte ihn finster an. Ja, sicher, alles bestens! Abgesehen davon, dass Mam nicht mehr da ist und du mir jetzt noch den letzten Rest, der von meinem Leben übrig geblieben ist, kaputt machst.

»Yapp«, gab ich patzig zurück. Ein erleichtertes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und er streckte den Arm zu mir herüber. Mit einem Ruck brachte ich mein Knie aus seiner Reichweite und quetschte mich so weit in die hinterste Ecke des Rücksitzes, wie es der Gurt zuließ. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ted sich abwandte und sich mit einem tiefen Atemzug durch die Haare fuhr.

Ich dachte an Lukas. An die Art, wie er sich mit der flachen Hand über sein blondes, stoppelkurzes Haar rubbelte, wenn er verlegen war, und einen dabei mit seinen grauen Augen von unten herauf anschielte. An sein Grinsen, das immer ein wenig schief geriet und dadurch doppelt lässig rüberkam, und wie sich sein Gesicht konzentriert zusammenzog, wenn er auf seinem Skateboard Anlauf für einen seiner Tricks über Stufen, Mauersimse und Parkbänke nahm, bevor seine Miene in ein triumphierendes Strahlen umschlug. Nichts als Einzelheiten fielen mir ein; Bruchstücke, die kein komplettes Ganzes ergaben, wie ein in der Sonne ausgebleichtes Foto, dessen Farben an manchen Stellen zu unscharfen Klecksen zerflossen waren. Und ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, wenn er mich im Arm hielt und küsste. Wenn ich genauer darüber nachdachte, hatte ich überhaupt schon lange nichts mehr gefühlt. Nicht so richtig jedenfalls. Konnte man Gefühle einfach vergessen?

Ungefähr siebenunddreißig Mal setzte ich zu einer SMS an Lukas an, aber sobald ich ein paar Worte eingetippt hatte, kamen sie mir auf dem Display dumm und armselig vor, und ich löschte alles wieder. Schließlich verschob ich das Ganze auf morgen, simste Gabi kurz, dass ich gut gelandet war, danach auch noch Julia und Sandra. Dann machte ich es wie Ted und sah schweigend zum Fenster hinaus.

Die Autobahn (Highway? Freeway? Keine Ahnung, worin der Unterschied bestand) zwischen braunen oder grün bewachsenen Hügeln und dem immer wieder aufblinkenden Wasser sah genauso aus wie in amerikanischen Filmen oder Serien, genauso breit, genauso vielspurig und von genauso vielen überdimensionierten Autos befahren. Die Verkehrsschilder wie das auf der Spitze stehende gelbe Quadrat mit den schwarzen Pfeilen, die grünen Tafeln mit der weißen Schrift – Third St, Civic Center, Bay Bridge, Downtown SF oder Daly City –, all das kannte ich aus dem Fernsehen, aber es war mir nicht vertraut. Zwischen den Gewerbegebäuden, Hotelburgen und riesigen Baustellen, die die Straße säumten, kam ich mir komplett verloren vor.

Vor uns tauchte in einer Senke eine Skyline auf, ein Säulenwald nüchtern grauer Wolkenkratzer, hinter denen sich eine Dunstwolke zusammenballte, und das Taxi jagte in die Stadt hinein.

Wie in einem Slalom bahnte sich unser Fahrer seinen Weg an den anderen Autos vorbei, indem er andauernd zackig die Spur wechselte, sodass ich auf dem Rücksitz hin und her geschleudert wurde und immer wieder mit der Schulter gegen die Autotür stieß. Ich atmete auf, als der Verkehr dichter wurde und unser Taxi zu einer zahmeren Fahrweise zwang.

Moderne Glasfassaden wechselten sich mit mehrstöckigen Gebäuden aus braunen oder rötlichen Backsteinen ab, die mich mit ihren Feuerleitern an Fotos von amerikanischen Großstädten aus den Goldenen Zwanzigern erinnerten. Ein Eindruck, den die großflächigen Werbeplakate an den Fassaden gleich wieder zunichtemachten, ebenso wie die bunten Wirbel von Graffitis und die zahllosen kreuz und quer verlaufenden Kabel und Leitungen, die sich zu einem lockeren Netz hoch oben über den Straßen verflochten. Überall hingen noch Lichterketten und Lamettagirlanden, standen geschmückte Weihnachtsbäume, Rentiere und Weihnachtsmänner herum, was für mich bei diesem Wetter völlig daneben wirkte.

Ich dachte an die Häuser und Straßen, zwischen denen ich mein ganzes Leben verbracht hatte. An den Kindergarten mit den alten Kastanien und an den Tag, an dem ich mich dort mit Julia gestritten hatte, wer zuerst auf die Schaukel durfte; nachdem wir uns geeinigt hatten, waren wir unzertrennlich gewesen. An den Spielplatz mit dem Klettergerüst, auf den Mam mit mir sonntagnachmittags gegangen war, und an die italienische Eisdiele mit dem besten Pistazieneis EVER. An den Gehweg zwischen unserem Zuhause und der Bäckerei an der Ecke, auf dem ich mit meinem kleinen grünen Fahrrad zum ersten Mal ohne Stützräder gefahren war. An meinen ersten Schultag in dem alten Jugendstilbau der Grundschule und an die Tage im Betonbunker des Gymnasiums, den auch die bunt lackierten Fensterrahmen und Türen nicht freundlicher machten, und wie Mam und ich jede Woche in den großen Supermarkt einkaufen gefahren waren. Immer schon donnerstags, weil Mam für die Freitage und Samstage die meisten Aufträge bekam, Hochzeitsfotos und Taufbilder. Erinnerungen an eine Zeit, in der meine Welt noch in Ordnung gewesen war.

Mit etwas Glück würde ich vielleicht in den Sommerferien nach Hause fliegen; wenn ich Pech hatte, auch erst wieder in zwei Jahren, mit achtzehn, sobald ich endlich selbst über mich bestimmen konnte. Noch 704 Tage bis dahin, das hatte ich vor dem Abflug ausgerechnet. 704 Tage in einer anderen Stadt, einem anderen Land. Auf einem anderen Kontinent.

Vor dem Hintergrund der Straßenschluchten tauchte in der Scheibe mein Spiegelbild auf. Mein ovales Gesicht mit den leicht auseinanderstehenden Augen und dem großen Mund. Eine blassere Ausgabe von Mams Gesicht auf uralten Fotos, als sie ungefähr in meinem Alter gewesen war. Bevor ihres mit den Jahren kantiger wurde, dafür aber den Kontrast zu dem spitzen Kinn und der ein bisschen kräftig geratenen Nase ausglich, der mich an meinem störte. Bevor die Krankheit in den letzten Monaten noch den letzten Rest Weichheit von Mams Gesicht genagt und nur scharfe Knochen und tiefe Höhlungen übrig gelassen hatte. Fremd kam mir mein Spiegelbild im Autofenster vor, seltsam verzerrt und durchsichtig. Als ob es mich gar nicht mehr wirklich gab.

Das Taxi hielt an einer roten Ampel, und während der Fahrer im Takt der Popmusik aus dem Radio mit dem Kopf vor und zurück ruckte und seine Finger einen schnelleren Beat auf das Lenkrad trommelten, rollte über die Kreuzung vor uns gemütlich eine grüne und silberne Straßenbahn, die mit ihrer sanft gerundeten Karosserie und den kleinen Scheiben einer altmodischen Spielzeugbahn ähnelte. Am Fuß einer Straßenlaterne war ein Fahrrad angekettet, dessen Rahmen flauschiger blauer Flokatistoff überzog, und eine nicht mehr wirklich junge Frau mit wasserstoffblonder Plustermähne führte in einem pinkfarbenen Nickianzug, auf dem eine goldene Stickerei glitzerte, ihre drei weißen Zwergpudel aus. Die Ampel wechselte auf Grün und das Taxi tauchte durch Häuserschluchten hindurch.

Dahinter lockerte sich das Straßenbild auf. Klassische Bauten mit Säulen und Kuppeln standen etwas zurückgesetzt vom Fahrbahnrand, blendend weiß und majestätisch wie Tempel der Antike in ihrer Glanzzeit. Ich hätte erwartet, dass Ted dazu etwas sagen würde, doch er blieb weiterhin stumm, und obwohl ich gern gewusst hätte, was das für Bauwerke waren, fragte ich ihn nicht danach; einige Wimpernschläge später waren wir auch schon daran vorbeigefahren.

Die meisten der oft steil ansteigenden und dann wieder abfallenden Straßenzüge, in die das Taxi der Reihe nach einbog, bestanden aus schmalen, Wand an Wand aneinandergebauten Häusern mit Erkern und hohen Fenstern unter den flachen Dächern. Mal schlicht und schmucklos, mal mit allerlei Schnickschnack in Form von Stuckbordüren und verzierten Simsen, hatten sie immer ihre bunt angestrichene Fassade gemeinsam, in Himmelblau, Primelgelb, Lavendel oder Mintgrün, Veilchenlila, Rosa oder sogar Knallpink. Wie auf einer Postkarte. Wirklich außergewöhnliche Farben, die sich dann aber in immer neuer Reihenfolge wiederholten, genau wie die Laubbäume oder Palmen auf den Bürgersteigen, die Kletterpflanzen und die in Fuchsia und Violett blühenden Sträucher an den Hausfassaden. Irgendwie sahen hier alle Straßen gleich aus.

Einige Häuserblocks weiter preschte unser Taxi eine Steigung hinauf, und ich hätte schwören können, dass es auf der Kreuzung dahinter mit dem Fahrgestell aufsaß. Gleich darauf bremste der Fahrer abrupt, und ich keuchte auf, als ich nach vorne geschleudert wurde und der blockierende Gurt mir schmerzhaft in den Oberkörper schnitt. Von rechts kroch unter metallenem Rattern und Glockengebimmel ein nach allen Seiten offenes kastenförmiges und sehr nostalgisch aussehendes Gefährt aus Holz heran: einer der berühmten Cable Cars von San Francisco, vollgestopft mit Fahrgästen, die im Vorbeifahren eifrig mit ihren Kameras und Handys die Aussicht knipsten. Unser Fahrer rutschte ungeduldig auf seinem Sitz herum, bis der Cable Car vorbeigezuckelt war, dann gab er Gas. Das Taxi bollerte über die Schienen und kam gerade noch so vor einem flott heranfahrenden Auto über die Kreuzung.

»Dort vorne an der Ecke können Sie uns rauslassen«, wies Ted den Fahrer an, der daraufhin erstaunlich sanft an einem beigefarbenen Haus mit weißen Fensterrahmen hielt. »Steig bitte auf dieser Seite hier aus«, wandte sich Ted an mich, bevor er die Tür öffnete.

Wir waren da.