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Die Backsteinkirche der Christian Science im Rücken, stand ich auf dem Gehweg und schaute auf die andere Straßenseite hinüber. Finster und beinahe gespenstisch ragte das alte Haus mit seinen dunklen Fenstern und den verwilderten Bäumen und Sträuchern in dem wattigen Nebel auf, der das Licht der Straßenlaternen und der Ampeln auf der Kreuzung ebenso zerstreute wie das der Scheinwerfer und Rücklichter der vorüberfahrenden Autos und der erleuchteten Fenster der Häuser entlang der Franklin und der California Street.

Ein ganz ähnlicher Nebeltag war es gewesen, an dem mich das Schicksal zum ersten Mal hierhergeführt hatte, und was ich in diesem Haus gefunden hatte, hatte nicht nur meine Sicht auf das Leben und den Tod und die Dinge dazwischen verändert, sondern auch mich. Ich wusste nicht, ob ich schon bereit dafür war, das aufzugeben, was dieses Haus für mich bedeutete, aber ich wusste, dass ich es mir nicht aussuchen konnte.

»Du musst das nicht allein durchstehen«, sagte Shane leise neben mir und legte den Arm um mich. »Wir werden die ganze Zeit bei dir bleiben.«

Ich nickte; ich brauchte nicht den Kopf zu wenden oder mich umzudrehen, um mir sicher zu sein, dass sie bei mir waren. Shane. Abby. Matt. Holly. Die vielleicht zum letzten Mal mit mir hierhergekommen waren.

»Komm schon, Cutie Pie«, flüsterte mir Letztere zärtlich ins Ohr und rieb mir über den Rücken. »Je länger du es hinauszögerst, desto schlimmer wird es.«

Ich nickte wieder, atmete tief durch und schob mich zwischen zwei der parkenden Autos hindurch. Mit müden Schritten schleppte ich mich über die Straße. Und wie ein Schatten folgten mir meine Freunde.

Auch durch das Tor im hohen Eisenzaun hindurch, das Shane für mich aufschieben musste, weil ich nicht mehr die Kraft dazu aufbrachte. Über das Mäuerchen hinweg, durch das hohe, nebelfeuchte Gras und durch die Holztür, die Matt aufdrückte und uns den Weg mit dem Smartphone beleuchtete.

Mir war flau im Magen, als ich wieder in der dämmrigen Eingangshalle stand, durch die Matt den Lichtstrahl des iPhones wandern ließ. Immer wieder glitten als helle, durch den Nebel verschleierte Bänder die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos durch den Raum. Ich blinzelte, als ich unter dem Fenster gegenüber die Umrisse einer Gestalt erkennen konnte, die am Boden lag. Nathaniel.

Mit einem Mal kümmerte es mich nicht mehr, was er zu Lebzeiten getan hatte; für mich zählte nur noch, wie er zu mir gewesen war. Was wir miteinander gehabt hatten und was er mir bedeutete.

Ich ließ meinen Rucksack von der Schulter gleiten und zu Boden fallen, taumelte vorwärts durch die Halle und ließ mich neben ihn auf meine türkisblaue Decke fallen, auf der er zusammengekrümmt lag. Ein eigenartiges perlmuttfarbenes Leuchten ging von ihm aus, und im Dämmerlicht glaubte ich zu sehen, wie sich an den Schultern und den Hüften seine Konturen verwischten.

»Nathaniel«, schluchzte ich auf und strich über seinen Arm, der unter meinen Händen nur noch ein schwacher Luftstrom war. »Nathaniel.«

Seine Augen öffneten sich mühsam; mattschwarz waren sie und glänzten dann auf, als er mich erkannte. Am-berrr.

»Ja«, hauchte ich und versuchte mich an einem Lächeln, das elend schief geriet. »Ich bin’s.«

Nathaniels Blick wanderte an mir vorbei zu den anderen, die vorsichtig näher gekommen waren. Zu Abby, die sich ängstlich an Holly klammerte, während diese in meine Richtung blinzelte, und zu Shane, der die Arme um die beiden gelegt hatte. Doch auf Nathaniels Gesicht zeichnete sich kein Wiedererkennen ab.

Sein Blick irrte hin und her, bis er schließlich an Matt hängen blieb, der vom Lichtkegel des iPhones in seiner Hand in dämonische Schatten getaucht war. Nathaniels Augen kniffen sich angestrengt zusammen. »Tut … tut mir … unendlich … leid … Damals … ich hätte nicht … Ent… ent… schuldige … ich …«

Matts Gesicht zog sich zusammen, als wollte er gleich Gift und Galle spucken, entspannte sich dann aber wieder, als er genau wie ich begriff, dass Nathaniel nicht ganz bei sich war und ihn für den Chinesen hielt, den er auf dem Gewissen hatte.

»Besser spät als nie«, erwiderte er rau, aber ich konnte hören, wie nahe es ihm ging.

»Nathaniel«, wisperte ich, und seine Augen huschten suchend umher, bis sie mich gefunden hatten. »Wir sind uns nicht sicher … Aber wir glauben, du bist in diesem Haus gestorben. Du bist damals hier eingebrochen und wurdest von einem Polizisten erschossen.«

Sein Blick flackerte und er begann mit den Zähnen zu klappern. »N-nein. Un… mög… lich. N-nie … hier.«

»Doch, Nathaniel. Am 16. Juli 1878.«

Ein Funke entzündete sich in seinen Augen und sofort brannte es darin lichterloh. »Nein! Niemals!«, grollte er mit gebleckten Zähnen wie ein geifernder Hund, der mich sofort anfallen wollte.

»Bitte, Nathaniel, versuch dich zu erinnern! Der 16. Juli 1878. Am späten Abend. Hier, in diesem Haus.«

Tief aus ihm polterte ein dröhnendes Knurren herauf, und ich sog scharf die Luft ein, als meine Hände mit ihm zu verschmelzen schienen. Es war, als würde ich in ihn hineinfließen. Ein heißer Strom jagte durch meine Adern hindurch und in meinem Kopf begann es zu kreiseln.

Sie war zurückgekommen. Sie war wirklich zurückgekommen.

Jetzt wusste ich auch wieder, warum ich mich bei Amber so wohlfühlte. Wenn sie bei mir war, war es genau wie früher, wenn ich irgendwo am Ufer saß und auf die Bay hinausschaute. Allein, ohne die Jungs. Wenn mir der Wind die Haare aus der Stirn blies und ich den Möwen zusah und den Schiffen, die draußen auf dem Wasser kreuzten, und ich mich frei und leicht fühlte.

Wie an jenem Sommertag damals, kurz nach der Sache in Chinatown, als meine Fingerknöchel noch purpurn verfärbt waren von den Faustschlägen, die ich ausgeteilt hatte. Ich empfand keine Reue damals, noch nicht einmal Gewissensbisse. Aber um ein Haar wären wir geschnappt worden, und das war es, was mir zu schaffen machte. Ich war neunzehn, fast zwanzig, und ich hatte kein Verlangen danach, meine nächsten Jahre im Kittchen zu verbringen oder ein Messer zwischen die Rippen zu bekommen. Das war der Kitzel nicht wert, zu den anderen dazuzugehören, zu denen, die in der ganzen Stadt gefürchtet waren. Zu klauen, zu prügeln, zu trinken und ein Mädchen nach dem anderen ins Bett zu kriegen.

Während ich den Schiffen zusah, die durch die Bay segelten, träumte ich davon, an Bord eines solchen Schiffes abzuhauen und irgendwo auf dieser Welt noch einmal von vorne anzufangen. Irgendwo dort, wo mich niemand kannte. Wo ich nicht Nate war, der beste Kumpel von Jack-the-Knife, sondern einfach nur Nathaniel O’Reilly. Ein hübsches Mädchen zu finden, es vielleicht sogar zu heiraten. Ohne die Angst zu leben, dass morgen schon alles vorbei sein konnte.

»Hat dir jemand ins Hirn geschissen?« Über einem Bier lachte Jack sich halb tot, als ich ihm davon erzählte. »Steckt da ein Weiberrock dahinter? Hey, ganz gleich, womit dich die Braut um den Finger wickelt – kein Weib auf der ganzen Welt ist es wert, dass du deine Kumpels verrätst.«

»Unsinn«, gab ich knurrig zurück. »Da steckt kein Mädchen dahinter. Und ich verrat euch auch nicht. Ich will einfach nur … weg. Weg aus dem Ganzen hier.« Ich schwenkte mein Bierglas in einem Halbkreis, der den Lärm und das Gedränge im Saloon, die ganze elende Barbary Coast und auch den Rest von San Francisco mit einschloss.

Aus schmalen Augen sah mich Jack an. »Einmal Hoodlum, immer Hoodlum – oder hast du vergessen, was du geschworen hast?« Drohend klang er, fast war er mir ein bisschen unheimlich.

»Scheiße, Jack«, fuhr ich ihn an. »Euch fehlt doch nichts, wenn ich morgen einfach nicht mehr da bin! Gibt doch genug andere Jungs wie mich, die mit ihren Alten über Kreuz sind und nur darauf warten, dass ihr sie bei euch aufnehmt!«

Jack grinste. »Bisschen weich warst du ja schon immer. Für die lohnenden Sachen, wie ein oder zwei Mädchen auf die Straße zu schicken, warst du dir ja immer zu fein.«

Ich zuckte nur mit den Schultern und trank einen Schluck Bier, während Jack mit zusammengezogenen Brauen über seinem brütete.

»Reisende soll man nicht aufhalten«, seufzte er schließlich. »Aber willst du wieder irgendwo als Handlanger Knochenarbeit leisten? Wär doch klüger, du fängst es richtig an, mit dem nötigen Kleingeld in der Tasche für einen Neuanfang.«

Misstrauisch sah ich ihn an. »Und wo soll ich das hernehmen?«

Jacks Augen huschten schnell hin und her, dann rutschte er näher und leckte sich über die Lippen. »Ich weiß zufällig von einem Haus, das gerade leer steht. In Nob Hill. Die Bewohner sind über den Sommer in Europa. Reiche Leute. Das Haus ist ganz neu gebaut, da wurde an nichts gespart, und dementsprechend viel gibt es zu holen. Das wird früher oder später jemandem auffallen – warum drehen wir also nicht dieses Ding? Wir zwei? Ich steh draußen Schmiere, du pickst die besten Stücke raus, und danach teilen wir. Todsichere Sache, glaub mir.«

Ich leerte schweigend mein Bierglas.