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»Ich wusste es!« In Matts dunklen Augen blitzte es auf. »Hab ich’s gesagt oder hab ich’s gesagt?!« Triumphierend sah er uns nacheinander über seinen aufgeklappten Laptop hinweg an, der auf dem Tisch in Hollys Küche stand und auf dem er immer wieder wild herumgetippt hatte. »Ein Hoodlum war er! Einer von diesen üblen Typen, die in Gangs durch die Stadt zogen und auf uns Chinesen losgingen! Kein Wunder, dass ich ihm von Anfang an nicht über den Weg getraut habe!« Zornfunkelnd richtete sich sein Blick auf mich. »Hast du denn überhaupt nicht gemerkt, mit wem du dich da …«

»Hör auf«, fiel ihm Holly müde ins Wort, griff sich ihre Zigarettenschachtel und schlurfte in ihren weißen Puschel-Hausschuhen zum Fenster. Als sie es öffnete, schwappte sofort ein Schwall kalter, feuchtnebliger Luft in die mollig warme Küche. Seit gestern zeigte das Thermometer für San Francisco ungewöhnlich niedrige Temperaturen an; es war fast so kalt, wie ich den Dezemberanfang aus Deutschland in Erinnerung hatte. Holly zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch geräuschvoll nach draußen. »Wer weiß schon immer so genau, was in anderen Menschen vorgeht. Auch in denen, die man liebt. Als ich damals praktisch von der Highschool weg geheiratet hab, hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass mein bis dahin sanftmütiger Kerl innerhalb kürzester Zeit zu einem eifersüchtigen Monster mit aggressiven Ausfällen mutiert.«

»Du bist verheiratet?« Abby machte große Augen. Wie wir alle.

»Ich war es.« Holly zog heftig an der Zigarette. »Eineinhalb Jahre lang. Bis ich mein Köfferchen gepackt hab und aus Arkansaw, Winsconsin, nach San Francisco getürmt bin.«

»Und wieso weiß ich nichts davon?«, wollte Matt wissen; er klang zutiefst gekränkt.

»Geeez, Honey, das ist eine Ewigkeit her!«, gab Holly gereizt zurück und rollte mit den Augen. »Ich bin schon seit über fünf Jahren wieder geschieden und ehrlich gesagt froh, wenn ich nicht an Bud denken oder über ihn reden muss.« Sie kreuzte die Arme vor der Glitzerstickerei auf ihrem schwarzen Hoodie und betrachtete nachdenklich die Glut der Zigarette. »Amber konnte nichts von Nathaniels Vergangenheit wissen. Allein schon deshalb nicht, weil offenbar auch Nathaniel die Erinnerung daran komplett verdrängt hat. Was mich nicht erstaunt bei dem, was er auf dem Kerbholz hat.« In einem langen Atemzug stieß sie den Rauch aus. »Kann sein, dass ich mich geirrt habe. Vielleicht ist es doch möglich, dass sich eine verlorene Seele weiterentwickelt. Vielleicht geht das tatsächlich, dass die eine oder andere in dieser Zeit des Herumirrens den Weg vom Bösen hin zum Guten findet. Von der Dunkelheit zum Licht.« Durch den aufsteigenden blauen Dunst hindurch sah sie mich an. »Weißt du, ob er es auf die andere Seite hinübergeschafft hat, Süße?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Ich … ich habe mich nicht getraut, zu ihm hinzugehen. Aber ich glaube nicht.«

Holly lächelte versonnen, während sie die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte »Ich bin überzeugt, du würdest es spüren, wenn es so wäre.«

Shanes Hände legten sich warm auf meine Schultern. »Und was machen wir jetzt? Vor allem wegen Amber?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Holly und beschäftigte sich länger als nötig mit der längst erloschenen Kippe im Aschenbecher; zum ersten Mal, seit ich sie kannte, wirkte sie niedergeschlagen und ratlos. »Entweder kann oder will er sich seine Schuld nicht eingestehen und Reue empfinden. Oder das, was Amber da gesehen hat, ist nur die Spitze des Eisbergs.«

Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass Nathaniel zu Lebzeiten noch Schlimmeres getan haben sollte, und ich warf einen dankbaren Blick zu Shane hinauf, der beruhigend und tröstend über meine Schultern strich.

»Ich könnte mir vorstellen«, fuhr Holly leise fort, griff zu ihrer Tasse und nippte an dem Wintertee mit Orangenschalen, Zimt und Kardamom, »dass sein Tod der Schlüssel zu allem ist. Wie und warum er gestorben ist, hängt vielleicht damit zusammen, warum er seither ein Geistwesen ist.«

»Toller Tipp«, knurrte Matt und drehte den Laptop um. Auf dem Bildschirm seines Super-Duper-Vaios waren zig einander überlappende Fenster mit kryptischen Mustern aus Buchstaben und Zahlen zu sehen. »Egal welche Kombination aus Jahreszahlen, Vorname, Nachname und Schlagwörtern ich auch eingebe, völlig schnurz, in welche existierende Datenbank ich auch reingehe – ich bekomme immer null Treffer.«

»Vielleicht suchst du falsch«, kam es scharf von Abby, die hinter ihm auf der Arbeitsplatte hockte und nun herausfordernd mit ihren Beinen in hellen Jeans und braunen UGGs baumelte.

Empört fuhr Matt herum. »Entschuldigung?!«

Langsam ließ sich Abby von der Arbeitsplatte heruntergleiten, bückte sich nach ihrer Schultasche auf dem Boden und kramte darin herum. Mit hochrotem Kopf richtete sie sich wieder auf, kam um den Tisch herum auf mich zu und stellte sich neben mich. Ihre Hand zitterte, als sie mir eine Fotokopie in einer Klarsichthülle hinlegte. Eine Seite aus dem San Francisco Chronicle vom 18. Juli 1878, und mittendrin war ein kurzer Absatz mit neongelbem Textmarker eingekringelt.

»Was ist das?« – »Lass sehen!« – »Wo hast du das her, Abby?«

Alle drängelten sich um mich und guckten mir über die Schulter, während ich blinzelnd auf die Kopie vor mir starrte, ohne etwas davon entziffern zu können. Ich wollte es wohl auch nicht, vor lauter Angst, was ich dort entdeckten könnte; lieber schaute ich zu Abby hoch.

»Es ist nur so ein Gefühl, ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob das wirklich etwas mit Nathaniel zu tun hat«, erklärte sie bemüht ruhig; ihre Aufregung war ihr anzumerken. »Aber ich musste immer wieder an das Haus in der Franklin Street denken. Die Freundin von meinem Bruder ist Journalistin und kennt jemanden im Archiv der Oakland Library, der mir geholfen hat, dort die Jahrgänge 1877 und 1878 im Chronicle zu durchstöbern. Und dabei haben wir das da gefunden.« Mit hochgezogenen Brauen sah sie Matt an, der sich neben ihr über den Tisch beugte. »Und – was sagst du dazu, Mister Superhirn?!« Stolz klang sie, aber auch ein bisschen so, als hoffte sie auf etwas Bestimmtes von Matt.

»Abby«, begann Matt feierlich, grinste aber dabei. »Abby, ich muss schon sagen …« Er verstummte und starrte Abby einfach nur an. Als würde er sie zum ersten Mal bewusst wahrnehmen, Abby mit ihren schwarz getuschten Wimpern, den glossglänzenden Lippen und der Bluse mit schwarz-braun-weißem Blümchenmuster, die ihn herausfordernd ansah. Matt wurde rot, sah schnell weg und schob die Hände tief in die Taschen seiner Baggypants. »Nicht übel«, brummte er vor sich hin.

»Was meinst du, Amber – könnte das Nathaniel gewesen sein?« In einer Mischung aus Bangigkeit und Hoffnung schaute Abby mich an.

Ich schluckte und richtete den Blick auf die kopierte Zeitungsseite vor mir, deren Zeilen vor meinen Augen verschwammen; ich musste ein paarmal heftig blinzeln, bevor ich wieder klar sehen konnte, und dann meinen ganzen Mut zusammennehmen, um sie mir durchzulesen.

Auf frischer Tat ertappt und erschossen. – Auf Bargeld und Wertsachen hatte es offenbar der Täter abgesehen, der in den späten Abendstunden des 16. Juli in das Haus eines angesehenen Bürgers von Nob Hill an der Ecke von Franklin und California Street eindrang. Vom unermüdlichen Arm des Gesetzes gestellt, leistete er bei seiner Verhaftung Widerstand, sodass der Ordnungshüter sich gezwungen sah, das Feuer zu eröffnen. Dabei wurde der Täter so schwer verletzt, dass er noch an Ort und Stelle verstarb. Das Alter des Täters wird auf siebzehn bis einundzwanzig geschätzt; Name und Herkunft sind unbekannt. Ein Zusammenhang mit den seit Wochen andauernden Unruhen, die von den »Hoodlums« genannten Bandenmitgliedern im Gebiet der Barbary Coast ausgehen, ist nicht auszuschließen.

Als ob der Boden unter mir nachgab, so fühlte es sich an, während ich die Zeilen wieder und wieder las.

»Ich weiß es nicht«, wisperte ich.

Obwohl ich in meinem tiefsten Inneren die Antwort kannte.