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Ich betrachtete sie, wie sie mit geschlossenen Augen in meinem Arm lag, halb im Schein der Lampe neben ihrem Bett, halb in dem Schatten, den ich auf sie warf.
Vermutlich ahnte sie nicht mal, wie sehr sie meine Welt verändert hatte. Ständig lernte ich neue Worte von ihr, die Namen von Dingen, die ich zwar gesehen hatte, mir auch ihren Zweck hatte zusammenreimen können, aber nicht wirklich verstanden hatte. Dinge, die jenseits meiner Vorstellungskraft lagen, bis Amber sie mir zeigte und erklärte. Emm-Pe-drei-Player. Ce-Deh. Handy. Laptop. Internet. Letztere beide fand ich besonders faszinierend, und oft machte ich nachts, wenn sie schlief, diesen Laptop an und schaute mir die Welt darin an, die so viel schneller und bunter und chaotischer war als die Welt, die ich kannte. Oder ich nahm mir ihren Emm-Pe-drei-Player und versuchte mich an die Musik zu gewöhnen, die aus den Ohrstöpseln schallte und in nichts dem glich, was ich zuvor an Musik gekannt hatte. Ab und zu blätterte ich auch in ihren Büchern herum, aber ich schaffte es selten, lange darin zu lesen, mir waren die kurzen Texte im Laptop lieber.
Manchmal sprachen wir morgens, wenn der Wecker geklingelt hatte und sie sich noch ein bisschen an mich kuschelte, über das, was ich nachts gesehen, gelesen und gehört hatte. Sie war sehr geduldig mit mir, und dennoch kam ich mir furchtbar dumm und langsam vor, weil ich so vieles immer noch nicht verstand. Manchmal war es mir, als würde es im nächsten Moment meinen Kopf wegsprengen, weil so viel Neues darin war, auch ständig Neues hereinflutete und weil ich so viel nachdenken musste. Aber ich wollte das alles wissen, immer noch mehr wissen, ich wollte sie verstehen und die Welt, in der sie lebte. Wenn ich schon so wenig von meiner erzählen konnte, weil mir so viele Erinnerungen daran fehlten.
Es bedrückte sie, dass sie nicht mehr über mich wusste und auch dieser Matt nicht mehr hatte herausfinden können. Dass sie das unbedingt hatte versuchen wollen, rührte mich mehr an, als ich ihr sagen konnte, und ich tat mein Bestes, es ihr auf irgendeine Weise zu vergelten.
Mein Mund wanderte über ihre Wange, und sie gab einen leisen Laut von sich, der wie das Schnurren einer Katze klang. Langsam ließ ich meine Hand unter ihr Oberteil wandern, strich mit dem Finger ihren Bauch entlang und genoss den sachten Schauder auf ihrer Haut. Ich hielt kurz inne, dann glitten meine Finger weiter, über ihren Rippenbogen hinauf.
»Nathaniel?«
Schuldbewusst zog ich meine Hand zurück und legte sie wieder auf ihre Taille. »M-hm?«
Ihre Augen öffneten sich; wie sie mich ansah, wie ihre Stimme geklungen hatte und wie unruhig ihre Finger durch meine Schulter strichen, verriet mir, dass etwas sie beschäftigte. »Hast du … hast du jemals von einem Lebenden Besitz ergriffen?«
Zum ersten Mal war ich versucht, sie anzulügen. Diese Erinnerung hätte ich selbst gern vergessen. Dieser unwiderstehliche Sog, der von einem Lebenden ausgehen konnte. Dieses berauschende Gefühl, wieder in einem Körper zu stecken, alles wieder lebhaft zu fühlen, zu riechen, zu schmecken. Diese ungeheure Macht, über den Körper zu herrschen, und diese überwältigende Genugtuung, die Krallen in eine Seele zu schlagen und damit zu spielen wie eine Katze mit einer Maus. Diese Lust am Bösen, nach der man süchtig werden konnte. Nach der ich eine Zeit lang süchtig gewesen war.
Ich wich ihrem Blick aus. »Ja.«
»Ich hab dir doch von Abby erzählt …« Ich fühlte, wie sie mit sich rang. »Angenommen … angenommen, du würdest bei mir …«
Der Gedanke daran allein genügte, mir den Mund wässrig zu machen; hastig zog ich die Hand unter ihrem Oberteil hervor und rückte von ihr ab. »Daran darfst du nicht einmal denken!«, fuhr ich sie an, heftiger als ich es wollte. Vielleicht weil ich selbst schon daran gedacht hatte, mir ihren Leib, ihre Seele zu nehmen oder die eines anderen. Einfach nur, um ihr näher zu sein, als ich es sonst konnte.
»Aber vielleicht wäre es bei uns ganz anders«, blieb sie beharrlich.
Der Sog riss an mir, und ich krümmte mich zusammen in dem Versuch, ihm zu widerstehen. Ich wollte es so sehr. Aber ich konnte nicht – ich durfte nicht. Und für einen Augenblick jagte ein ungeheurer Zorn durch mich hindurch, weil sie mich in diese Versuchung brachte. Ich hörte, wie hinter mir die Deckel der Bücher auf ihrem Schreibtisch aufklappten und sich die Seiten aufblätterten; ein Stück Papier flatterte zu Boden.
»Es tut mir leid«, hörte ich sie flüstern; dann strichen ihre Finger durch mich hindurch, drückte sie sanfte Küsse auf die Konturen meines Gesichts. »Sei nicht böse auf mich.«
Mein Zorn sank in sich zusammen. »Ich bin nicht böse auf dich.« Ich legte meine Stirn gegen ihre. »Ich bin nur manchmal wütend, weil ich nicht mehr für dich sein kann als das, was ich bin. Aber von dir Besitz zu ergreifen – das ist ein Wagnis, das ich nicht eingehen kann und auch nicht will. Mir ist das zu gefährlich für dich. Verstehst du das?«
Sie nickte, aber etwas in ihr blieb unruhig. »Wie ist das eigentlich – hast du Kontakt zu anderen … hm … Geistern?«
»Nein. Manchmal tun sich zwar zwei oder mehr zusammen, um ihre Kräfte zu bündeln, aber das ist nie von Dauer. Im Grunde sind wir alle Einzelgänger.«
Sie sah mich nur an, und das, was von ihr ausging, etwas Buntes, Bewegtes, verriet mir, dass sie an ihre neuen Freunde dachte. Matt. Holly. Shane. Abby. Sie erzählte mir viel von ihnen, umso mehr, je mehr Zeit sie mit ihnen verbrachte. Und nicht zum ersten Mal packte mich die Angst, Amber zu verlieren, weil ich ihr nicht mehr genügte. Weil sie mich nicht mehr brauchte. Sie an einen der beiden Jungen zu verlieren, weil die ihr etwas geben konnten, wozu ich nicht in der Lage war. Es machte mir nicht allzu viel aus, dass Amber ihre Nachmittage oft mit ihnen verbrachte statt mit mir, weil ich sah und spürte, wie gut es ihr dabei ging. Solange mir nur niemand die Nächte mit ihr nahm, die Nächte hier bei ihr im Zimmer. Natürlich wusste ich, dass das mit uns nicht von Dauer sein konnte. Selbst wenn sie für den Rest ihres Lebens bei mir sein wollte, so würde sie doch älter werden und irgendwann dann alt, würde eines Tages sterben und hoffentlich ohne Umwege auf die andere Seite hinübergehen. Den Weg einschlagen, der mir verwehrt war. Das mit uns war flüchtig wie der Wind und der Nebel über der Bay, wie der luftige Dunsthauch, der ich war. Aber solange es ging, wollte ich daran festhalten. Diese Nächte mit ihr, mit meinem Funny Girl – die durfte mir niemand nehmen.
»Ich möchte, dass ihr euch kennenlernt«, sagte sie nun. »Du und die anderen.«
So etwas wie eine Erinnerung streifte mich. An das Gefühl, wie es war, mit anderen zusammen zu sein, sich einander nahe zu fühlen und aufgehoben und stark, Gleicher unter Gleichen. Und darin mischte sich etwas, das Enttäuschung ähnelte und wehtat.
Fragend, beinahe bittend sah Amber mich an und ich blieb stumm.