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»Morgen«, gab ich leise von mir, als ich in meinem rotkarierten Pyjama und dicken Socken in die Küche schlurfte, in der das Radio leise gestellt war, leiser als sonst morgens um diese Zeit.

Ted hob den Blick von seiner Zeitung und griff nebenbei zu seinem Kaffeebecher. »Morgen. Willst du nicht ausschlafen?«

Ich schüttelte den Kopf, holte mir einen Becher aus dem Oberschrank und machte mir unter dem Kreischen und Knattern der Maschine einen Kaffee. Sofort nachdem die Polizeibeamten vorgestern Abend gegangen waren, war Ted mit mir noch ins Saint Francis Memorial Hospital gefahren, einen riesigen Betonklotz zwei Straßenblocks entfernt, zwischen Hyde und Leavenworth. In der Notaufnahme, die durch das viele helle Holz und die sanft geschwungenen Linien der Einrichtung selbst im Neonlicht freundlich wirkte, hatte er mit mir gewartet, bis ich untersucht wurde. Tatsächlich hatte ich nur Prellungen an der Wange und den Rippen. Trotzdem hatte mir der nette junge Arzt auf Teds Bitte hin ein Attest geschrieben, wofür ich ihm dankbar war; ich hatte wenig Lust, in der Schule den beachtlich schillernden Bluterguss zu erklären, der sich in meinem Gesicht ausgebreitet hatte.

Mit einer Hand öffnete ich den Kühlschrank, schnappte mir den Milchkanister und drückte die Tür mit dem Ellenbogen wieder zu, bevor ich mich an den Tisch setzte und den Kaffee verdünnte. Verstohlen musterte ich Ted, der offenbar ganz in seine Morgenlektüre vertieft war. Vorgestern, während ich stockend den beiden Polizeibeamten erzählt hatte, was passiert war, war Ted bei Mrs Hanson auf dem Sofa neben mir gesessen; erst nach einiger Zeit hatte ich bemerkt, dass er meine Hand festhielt, und irgendwie war ich froh darum gewesen. Aber gestern, als er nur für seine beiden Vorlesungen an die Uni gefahren war und alle seine anderen Termine verschoben hatte, war er nur noch ernst und einsilbig gewesen, während ich den restlichen Tag in Schlabberklamotten auf dem Sofa herumhing und durch die Glotze zappte.

Unter dem Protest meiner verkaterten Beinmuskeln zog ich ein Knie zu mir hoch und nippte an meinem Milchkaffee. »Es tut mir leid«, wisperte ich schließlich hinter dem Becher hervor.

Ted starrte auf die Zeitung und sein Mund spannte sich an. Dann schüttelte er den Kopf und faltete den Chronicle zusammen. »Nein. Mir tut es leid.« Er setzte seine Brille ab, legte sie auf die Zeitung und rieb sich mit einem tiefen Ausatmen über das Gesicht. »Ich hätte mehr darauf drängen sollen, dass du die Stadt bald kennenlernst und dich hier zurechtfindest. Ich dachte eben, du bist einfach noch nicht so weit. Du bräuchtest noch Zeit. Das war offensichtlich falsch. Ich kenne die Stadt hier, und ich kenne auch die Stadt, in der du groß geworden bist. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte dich besser vorbereiten müssen.« Er starrte einige Augenblicke vor sich hin und fügte leise hinzu: »Ich mag gar nicht daran denken, was dir noch alles hätte passieren können.«

Verlegen zog ich auch das zweite Knie hinauf und verschanzte mich zusätzlich hinter meinem Kaffeebecher; auf eine total verdrehte Art fühlte ich mich besser, wenn ich schmerzhaft spürte, was ich mir mit meinem Höllenlauf quer durch die Stadt zugemutet hatte. Es würde noch eine Weile dauern, bis ich wieder daran denken konnte, mit Ted joggen zu gehen.

Ted atmete noch einmal tief durch und setzte seine Brille wieder auf, hinter der er mich anblinzelte. »Ab sofort nehmen wir uns jedes Wochenende einen anderen Teil der Stadt vor. Wir fahren hin, schauen ihn an, und ich zeig dir hinterher noch mal auf dem Stadtplan, wo du hinkannst und wo besser nicht. Okay?«

»Okay«, nuschelte ich hinter meinem Becher hervor.

»Okay.« Ted nickte mir zu, kippte den Rest Kaffee hinunter und stand auf, um seinen Becher in die Spüle zu stellen. Er verschwand durch den Türrahmen, und ich konnte ihn in seinem Arbeitszimmer rumoren hören, bevor er wieder in die Küche kam, seinen Rucksack über der Schulter und sein Sakko in der einen Hand. Mit der anderen legte er einen Umschlag mit dem farbigen Schriftzug eines Handyanbieters und einen kleinen weißen Karton vor mich auf den Tisch. Ich erkannte das schwarze Logo mit dem angebissenen Apfel sofort: ein Smartphone war darin, genau so eines, wie ich es mir die ganze Zeit gewünscht hatte. Mam hatte es für unnötig gehalten, und ich hatte außerdem gewusst, dass es unser Budget gesprengt hätte.

»Hab ich gestern noch schnell besorgt. Du brauchst einfach eines. Die neue Kreditkarte dauert allerdings noch ein bisschen.«

Ich nickte mechanisch, ohne ihn anzusehen, und das »Danke«, das mir eigentlich auf dem Herzen lag, steckte irgendwo in meinem Hals fest.

»Ich kann dich nicht in Watte packen und dir auch nicht verbieten, aus dem Haus zu gehen«, hörte ich Ted leise sagen. »Aber versprich mir bitte, dass du hier in der Nähe bleibst, im Umkreis von drei, maximal vier Blocks, okay?« Ich nickte wieder. »Ein paar Dollar leg ich dir neben das Telefon und dort liegt auch ein Zettel mit meinen Telefonnummern. Bis heute Abend.«

»Bis dann«, flüsterte ich, die Augen immer noch auf den Karton vor mir geheftet, und die Wohnungstür fiel hinter Ted ins Schloss.

Langsam stellte ich den Kaffeebecher ab, zog mir die Ärmel bis über die Fingerspitzen und klemmte die Hände in meine Kniekehlen. Nachdem wir aus dem Krankenhaus zurück gewesen waren, hatte Ted noch telefoniert, um meine Kreditkarte sperren zu lassen, und sicherheitshalber auch die SIM-Karte meines Handys. Mit meinem Leichtsinn hatte ich ihm Umstände gemacht und Sorgen bereitet, und trotzdem blieb er ruhig und schenkte mir sogar ein neues, teures Handy und besorgte mir noch mal eine Kreditkarte. Ich stellte mir lieber nicht vor, was Mam in derselben Situation mit mir gemacht hätte; temperamentvoll wie sie war, konnte sie ganz schön in die Luft gehen, wenn sie sich aufregte, auch bei mir. Was zum Glück nicht oft vorgekommen und immer schnell wieder gut gewesen war. Ich dachte daran, wie wir eigentlich ständig knapp bei Kasse gewesen waren, Mam und ich, weil sie nicht so irre viel verdiente und Ted mit seinen befristeten Forschungsstellen die ganze Zeit über genauso wenig. Und daran, dass Opa und Oma mich zurück nach Deutschland holen wollten. Undankbar kam ich mir vor, weil Ted sich solche Mühe gab und ich nichts anderes wollte, als nach Deutschland zurückzufliegen.

Irgendetwas fühlte sich dabei falsch an, und ich wusste nicht, ob ich das war oder all diese Gedanken, die ich in meinem Kopf nicht zusammenbekam. Wie Puzzleteile, die einfach nicht ineinanderpassen wollten. In meiner Brust verhedderte sich irgendwas und ballte sich schließlich zu einem harten Knäuel zusammen.

Hinterher hätte ich nicht mehr sagen können, warum ich ausgerechnet dorthin zurückging.

Vielleicht war es die leere Wohnung gewesen, durch die ich nach dem Duschen ziellos tigerte. Im Fernsehen kam an diesem Vormittag auf sämtlichen Kanälen nichts Nennenswertes außer ein paar Folgen Navy CIS, die ich schon in- und auswendig kannte, und für eine DVD oder ein Buch hatte ich irgendwie keinen Nerv. Vielleicht war es der Schreck, als plötzlich ein Schlüssel in der Wohnungstür klackte und eine beleibte Frau mit schwarzem Wuschelkopf in rot glänzendem Jogginganzug hereinplatzte: Mrs Ramirez, die ich an meinen Schultagen bisher immer verpasst hatte und die mich erst mit einem Schwall von schnatternden Begrüßungsworten überschüttete und dann besorgt wegen des Blutergusses auf meiner Wange löcherte, bevor sie mit Staubsauger, Wischmopp und Staubwedel bewaffnet wie ein Tornado durch die Räume wirbelte und ich mich in mein Zimmer flüchtete. Sicher lag es nicht an Julias Mail, die alles Mögliche an Neuigkeiten aus der Schule enthielt, die mit mir gar nicht mehr viel zu tun hatten. Und auch nicht daran, dass keine Silbe von dem drinstand, was ich gleich darauf auf Facebook entdeckte.

Lukas Rutloff ist in einer Beziehung mit Svenja Herzberger.

Ewig starrte ich auf diese Meldung mit 23 Likes und 18 Kommentaren, gerade mal einen knappen Tag alt, und es tat nicht einmal weh. Eher war ich erleichtert, dass es jetzt endlich raus war und ich es hinter mir hatte.

Möglich, dass es an dem Traum lag, den ich heute Nacht gehabt und der mir ausnahmsweise mal keine Angst eingejagt hatte.

Warum auch immer – ich klappte meinen Laptop zu, zog mir meine graue Kapuzenjacke über und griff mir die Schlüssel. Im Vorbeigehen warf ich Mrs Ramirez, die gerade im Badezimmer das Waschbecken auf Hochglanz polierte, ein kurzes »Bye« zu und schlüpfte schnell aus der Wohnung.

Als ob ich vorgestern in dem verlassenen Haus, in dem ich mich versteckte, etwas vergessen hätte. Etwas so unglaublich Wichtiges, dass ich es unbedingt und jetzt sofort dort suchen musste.