21
Seine Augen waren grün. Ein tiefes, warmes Grün, fast Oliv. Wie Laub im Spätsommer, kurz bevor es sich zu verfärben beginnt.
Das war das Erste, was mir durch den Kopf schoss; dann sog ich scharf die Luft ein und fuhr hoch.
»Zieh Leine!«, krächzte ich, meine Stimmbänder noch mürbe vom Schlaf, und rutschte auf der Decke rückwärts. Meine Knie zitterten zu sehr, als dass ich hätte aufstehen und davonlaufen können. »Sag mal, hörst du schlecht?! Verschwinde!«
Seine Brauen hoben sich. Dunkel waren sie, irgendwo zwischen Braun und Schwarz, wie regennasse Erde, genau wie seine wilden Locken. Suchend blickte er sich um und sah mich dann wieder unter gerunzelter Stirn an.
Er starrte mich einfach nur an, bevor sein Blick ins Leere glitt. In seinem grobknochigen Gesicht arbeitete es; die Kiefermuskeln spannten sich an und lockerten sich wieder und seine Brauen waren ständig in Bewegung. Super. Ich war mit einem Psycho allein in diesem verlassenen Haus.
»Ja, genau dich mein ich!«, blaffte ich ihn an und hoffte, ich klang wesentlich mutiger, als ich mich fühlte. »Oder siehst du hier sonst noch jemanden?!«
Mit einem Schlag entspannte sich seine Miene und hellte sich auf. Er sah mich wieder an und das Strahlen in seinen grünen Augen traf mich irgendwo weit unten in meinem Bauch.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er dann vorsichtig, als traute er seiner eigenen Stimme nicht, die tief war und ein bisschen heiser klang. Er sprach mit einem Akzent, den ich nicht einzuordnen wusste, härter als das Englisch sonst hier an der Westküste, mit einem gerollten R.
»Ich muss gehen«, murmelte ich und kam unsicher auf die Füße, stieg hastig in meine Sneakers und bückte mich nach meinem Rucksack.
»Warte!« Geschmeidig und fast lautlos sprang er auf und ich wich zurück.
Er war ein Stück größer als ich und auch älter, bestimmt achtzehn oder neunzehn. Und wesentlich stärker, unter dem grauen Hemd ließen sich breite Schultern und feste Muskeln erahnen. Nicht durch Sport gestählt wie bei Shane Diggs, sondern einfach von Natur aus muskulös sah er aus; die geöffneten obersten Hemdknöpfe ließen den Ansatz kräftiger Schlüsselbeine sehen. Er machte einen Schritt auf mich zu und ich noch einen zurück.
»Bleib, wo du bist!«, fauchte ich und packte die Gurte meines Rucksacks fester. »Komm ja nicht näher!«
Er war mir unheimlich mit seinen seltsamen Klamotten; dieses Hemd, das selbst mein Opa nicht angezogen hätte, diese locker fallenden grauschwarzen Hosen und die groben Schnürschuhe, die mich an Springerstiefel erinnerten. Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, und er hob die Hände, die groß und kräftig waren und ein bisschen sehnig.
»Ich tu dir nichts«, raunte er. »Bestimmt nicht! Schau.« Langsam ging er in die Hocke, ließ sich wieder auf dem Boden nieder und legte die Unterarme locker auf die Knie. »Gut so?« Er neigte den Kopf und sah mich schräg von unten herauf an. Eine dicke Haarsträhne kringelte sich in seine Stirn.
Misstrauisch musterte ich ihn. Er war definitiv älter als ich und sah mehr nach einem erwachsenen Mann aus als nach einem Jungen aus meiner Klasse oder der darüber. Ein Sahneschnittchen, hätte Sandra mir wohl entzückt zugeraunt. Vor Sonnyboy Hannes hatte sie mehr auf solche finsteren, verwegenen Typen gestanden, am besten noch mit Motorrad.
Und verwegen und finster sah dieser Typ hier wirklich aus, obwohl seine Haut hell war, fast noch heller als meine. An ihm war so gar nichts, was Mädchen in meinem Alter normalerweise als süß oder knuffig bezeichneten; an ihm war so ziemlich alles das genaue Gegenteil davon. Das flächige Gesicht mit der schweren, kantigen Kinnlinie. Die kräftige, markante Nase. Die geraden Brauen, unter denen die zu den Schläfen hin abfallenden Augen etwas Melancholisches hatten. Das einzig Weiche in diesem harten Gesicht war sein großer Mund mit der schwungvoll gezeichneten Oberlippe.
Er gehörte eher zu diesen Typen, die man mit einem atemlos gezischten heissss! etikettierte. Nur von Weitem, weil man genau wusste, dass solche Typen nichts für einen übrig hatten. Und wenn doch, würde es so einem sicher nicht reichen, ganze Nachmittage lang nur zu knutschen.
Sämtliche Alarmglocken schrillten in meinem Kopf, aber gleichzeitig war es, als würde ich aus der Ferne das Echo einer Melodie hören, die ich zwar kannte, deren Titel mir aber nicht einfiel.
»Was machst du hier?« Ich klang nicht annähernd so feindselig, wie ich es hätte sollen.
Einer seiner Mundwinkel hob sich. »Was machst du hier?«
Blödes Spiel, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. Aber was er konnte, konnte ich auch. »Geht dich das was an?«
Der andere Mundwinkel zog mit dem ersten gleich. »Allerdings.«
Ich blinzelte verwirrt, während ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, aber alle Möglichkeiten, die mir durch den Kopf gingen, ergaben keinen Sinn. Bis ich kapierte, dass er wohl ein Obdachloser sein musste, der ab und zu hier hauste. Klar, das passte, hier gab es so viele davon, vor allem rings um den Union Square. Das erklärte auch seine komischen Klamotten, die er sicher aus der Altkleidersammlung hatte. Ich spürte so etwas wie Mitgefühl, dass ein noch so junger Kerl auf der Straße lebte und sich zum Pennen in ein leer stehendes Haus flüchtete. Aber mir war auch unbehaglich zumute, weil ich mich fragte, wie er so weit abrutschen konnte. Alkohol oder andere Drogen? Tatsächlich ein Psycho? Verkorkste Kindheit? Im Gefängnis gewesen und nicht wieder auf die Füße gekommen? Unwillkürlich machte ich noch einen Schritt rückwärts.
Am meisten jedoch beschäftigte mich der Gedanke, dass die Freude, die ich an diesem verlassenen Haus gehabt hatte, verdorben war; nie wieder würde ich mich hier wohlfühlen, nie wieder sicher, allein und unbeobachtet. Und ich schämte mich dafür, weil dieses Problem winzig war im Vergleich zu dem, womit er sich vermutlich herumschlagen musste.
»Wie heißt du?«, fragte er mich in meine Gedanken hinein.
»Amber«, antwortete ich verwundert und wie im Reflex; erst im nächsten Moment ging mir auf, dass das womöglich extrem blöd von mir gewesen war, und ich trat einen weiteren Schritt zurück.
»Amber«, wiederholte er langsam, und mit seinem stark rollenden R klang es wie das Schnurren eines großen Katers. Am-berrrrr … Der Nachhall seiner Stimme hing noch einige Augenblicke im Raum und seine grünen Augen leuchteten auf. Mir lief es erst kalt den Rücken hinunter. Dann heiß. Sehr heiß.
»Und du?«, flüsterte ich.
Sein Mund verbreiterte sich. »Nathaniel.«
Nathaniel. Das Echo der fernen Melodie, die ich mehr spürte als hörte, hatte etwas Verlockendes, und wieder glitt ein sehnsüchtiges Ziehen durch mich hindurch. Nathaniel.
»Ich muss jetzt … jetzt wirklich los«, gab ich wackelig von mir und machte einen halbherzigen Schritt in den Raum hinein.
»Willst du die nicht erst zubinden?« Meine Augen folgten seinem Zeigefinger zu meinen Sneakers, um die sich die losen Schnürsenkel schlängelten. Die perfekte Stolperfalle.
Mir schoss das Blut ins Gesicht; hastig setzte ich meinen Rucksack ab und ging in die Knie. Mit unsicheren Fingern nestelte ich an den Schnürsenkeln herum und warf immer wieder rasche Blicke in seine Richtung, um ihn im Auge zu behalten. Während ich mich damit abmühte, meine Schuhe zuzubinden, ließ Nathaniel, den Kopf an die Wand gelehnt, mich wiederum nicht aus den leuchtenden Augen. Uah. Freaky.
Als ich es endlich geschafft hatte, die zweite Schleife zuzuziehen, schnappte ich mir meinen Rucksack, schnellte hoch und keuchte erschrocken auf. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war Nathaniel aufgestanden und lehnte jetzt mit einer Schulter an der Wand. Seine Art, sich flink und geräuschlos zu bewegen, war wirklich unheimlich.
»Sehen wir uns morgen?«, kam es leise von ihm, die Hände in den Hosentaschen. Verdammt lässig sah er dabei aus.
»Ähmm … ich fürchte, ich … ich glaube, ich muss morgen, äh …«, stotterte ich herum. Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Das Leuchten in seinen Augen verlosch und sein Blick wanderte zu Boden. Mein Magen wand sich wie ein Wurm. Ich verstand selbst nicht, weshalb ich mich mit einem Mal so schlecht fühlte. »Also, vielleicht, wenn … hm … mal sehen«, murmelte ich schnell hinterher und schulterte meinen Rucksack. Mit einem kurz hingeworfenen »Mach’s gut« drehte ich mich abrupt um und ging mit schnellen Schritten davon.
Ich hatte kaum das Tor im Eisenzaun hinter mir zugezerrt, da begann ich zu laufen. Immer wieder warf ich bang einen Blick über meine Schulter, ob er mir vielleicht folgte, und erst als ich in der Sacramento Street die Wohnungstür hinter mir zugeschlagen hatte und mich mit dem Rücken dagegenfallen ließ, atmete ich auf.
Dann fiel mir ein, dass ich meine Bücher dortgelassen hatte. Meine Decke. Und mein Notizbuch.