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»Gefällt’s dir?«, fragte Ted leise. Sonnenbrille auf der Nase, die Jeans bis unters Knie aufgekrempelt und unsere Sneakers an die Finger gehakt, schlenderten wir barfuß durch den Sand. Ich nickte.
»Ich hätte schon früher daran denken sollen, mit dir hierherzukommen«, fügte Ted wie entschuldigend hinzu, und mein Mund bog sich zu einem kleinen Lächeln, während ich weiter meine Augen über den Strand schweifen ließ, der sich als breites goldbraunes Band unter der Anhöhe des Presidio entlangzog. An den Felsen sammelten sich immer wieder die Möwen, bevor sie wie auf Kommando aufstoben und zu dem leuchtend blauen Himmel aufflogen, wo sie unter heiseren Schreien ihre Runden drehten, und in der Ferne spannte sich in intensivem Orangerot die Golden Gate Bridge zu den braunen Hügeln auf der anderen Seite. Das türkisblaue Wasser drängte sich in weiß schäumenden Wellen an den Strand und brachte eine kräftige Brise mit sich, die Strähnen aus meinem Pferdeschwanz löste und damit genauso herumspielte wie mit dem dünnen Strickjäckchen, das ich mir über mein T-Shirt gezogen hatte.
Das schöne Wetter an diesem Samstag hatte eine Menge Menschen an den Baker Beach gelockt. Auf Matten oder Handtüchern fläzten leicht bekleidete Sonnenanbeter herum, eine Gruppe Jungs spielte unter Gelächter und Gebrüll Frisbee, und Kinder bauten Sandburgen oder rannten vergnügt kreischend ins Wasser; es roch nach Salzwasser und Tang, nach Sand und Sonnenmilch.
»In der Schule alles gut?«, erkundigte sich Ted weiter. Ich nickte wieder; in knapp zwei Wochen waren zum Glück Sommerferien, die hier viel länger dauerten als die popligen sechs Wochen in Deutschland. Durch den Umzug hierher zum Jahreswechsel hatte es nicht mehr gereicht, mich im Januar mit Empfehlungen der Jefferson High für einen Sommerkurs an einem College oder einer Uni zu bewerben, und so würde ich die gesamten dreieinhalb Monate damit verbringen, zu lesen und zu faulenzen, ein paar Lücken im Schulstoff zu schließen und zwei größere Arbeiten für Literatur zu verfassen. Und mit Nathaniel; ein Gedanke, bei dem ich in mich hineinlächelte.
»Wie läuft’s bei Dr. Katz?«
»Ganz okay so weit.«
Ted schwieg einige Herzschläge lang. »Wie geht es dir inzwischen in San Francisco?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Mal so, mal so.«
»Möchtest du wieder zurück nach Deutschland?«
Abrupt blieb ich stehen und starrte ihn an. »Was?!« Der Sand unter meinen Füßen fühlte sich an, als würde er ins Rutschen kommen, und ich schluckte. »Willst … willst du mich nicht mehr hierhaben?«
Ted blieb ebenfalls stehen und ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Natürlich will ich das! Ich bin froh, dass du hier bist. Es ist nur …« Er atmete tief durch und kniff die Brauen zusammen. »Mittlerweile habe ich Zweifel daran, ob Karen und ich wirklich die richtigen Entscheidungen für dich getroffen haben. Obwohl wir damals davon überzeugt waren, es wäre das Beste für dich. Sowohl diese Sorgerechtserklärung als auch, dass du bis … bis zum Schluss bei Karen alles mitbekommst. Und dass du danach zu mir ziehst.« Um Teds Mund zuckte es. »Inzwischen frage ich mich, ob wir dir nicht zu viel zugemutet haben.«
Ich hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Keine Ahnung.«
»Ich weiß, ich bin alles andere als ein perfekter Vater. Ich hab mir zwar immer Mühe gegeben, dich merken zu lassen, dass ich Anteil an deinem Leben nehme, aber ich war eben einfach nicht da. Und jetzt wo du hier bist, arbeite ich zu viel. Diese ganzen Vorlesungen und Seminare und Sprechstunden, die Kolloquien und Konferenzen …« Ein zerknirschtes Lächeln flackerte auf seinem Gesicht auf. »Ich kann dieses Jahr nicht mal mit dir in die Ferien fahren wegen der Sommerkurse an der Uni.« Mit einem nachdenklichen Ausdruck blickte er über den Strand, bevor er mich wieder ansah. »Ich möchte dich gern bei mir behalten, Amber. Aber wenn du nicht hier leben willst, hat das einfach keinen Sinn. Oder was meinst du?«
Angespannt kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Die ganzen vergangenen Monate hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als nicht hier sein zu müssen, als so schnell wie möglich wieder nach Deutschland zurückfliegen zu können. Aber jetzt gab es auch Nathaniel und Matt, während die Mails von Julia und Sandra spärlicher in den Posteingang meines Accounts tröpfelten. Nur mit Gabi telefonierte ich noch regelmäßig sonntags. Nathaniel nie wieder zu sehen, war für mich in diesem Moment genauso unvorstellbar, wie San Francisco jemals wirklich als neues Zuhause zu empfinden; es fühlte sich an, als würde ich mit je einem Bein auf zwei verschiedenen Kontinenten stehen, die langsam, aber unaufhaltsam auseinanderdrifteten. »Ich weiß es nicht«, flüsterte ich, und es war ehrlich gemeint.
»Kannst du mir noch ein bisschen Zeit geben? Ein halbes Jahr vielleicht? Wenn du dich bis Weihnachten hier immer noch nicht wohlfühlst, versuche ich, mit den Seemanns eine Vereinbarung zu treffen, und du ziehst zu ihnen. Wäre das in Ordnung für dich – hältst du es so lange noch hier aus?«
Ich starrte vor mich hin und kam mir total schlecht vor, weil ich oft so ekelhaft zu ihm war und er immer noch Verständnis hatte für meine Probleme. »Okay«, piepste ich.
»Okay«, wiederholte er mit einem erleichterten Ausatmen.
Ich hob die Augen zu ihm an. »Warum … warum habt ihr diese Sorgerechtserklärung überhaupt gemacht, Mam und du?«
Verblüfft sah er mich an. »Na – weil wir deine Eltern sind.« Ein kleines Lächeln zuckte um seinen Mund und er deutete auf den Sand zu seinen Füßen. »Wollen wir uns hinsetzen?«
Ich nickte und hockte mich neben ihn. Verstohlen sah ich ihn von der Seite her an, wie er die Unterarme auf die angezogenen Knie legte und aufs Meer hinaussah.
»Als diese neue gesetzliche Regelung bei euch in Deutschland eingeführt wurde, kam Karen sofort damit an«, erzählte er. »Uns war beiden schnell klar, dass wir das machen wollen. Für den Fall, dass Karen irgendwann einmal wieder einen neuen Partner hat, für den Fall, dass ich jemals heirate und noch mehr Kinder habe. Damit immer klar ist: du bist und bleibst meine Tochter, mit allem, was dazugehört.«
Ich wich seinem Blick aus und begann, Sand auf meine nackten Füße zu häufen. »Kann ich dich was fragen?«
»Klar. Alles, das weißt du doch.«
Ich zögerte noch ein, zwei Augenblicke, dann fragte ich leise: »Hast du eigentlich eine Freundin?«
Ich spürte seine Augen auf mir. »Nein. Warum fragst du?«
»Nur so«, erwiderte ich achselzuckend. »Warum hast du keine?«
Ted lachte auf und klang dabei leicht verwirrt. »Na ja, ich war viel unterwegs in den letzten Jahren und das ist nicht unbedingt eine gute Basis für eine Beziehung. Auch meine Freunde sind über den ganzen Erdball verstreut. Hier in San Francisco habe ich eigentlich nur Hank, den ich noch von der High School kenne. Vielleicht magst du mal mitkommen? Hanks Frau Tammy ist sehr nett und sie haben zwei kleine Töchter.«
Ich konzentrierte mich ganz darauf, den Sand über meinen Füßen festzuklopfen. »Warst du nach Mam denn mit niemandem mehr zusammen?«
Er räusperte sich, und mit einem schnellen Seitenblick sah ich, wie er sich die Nasenspitze zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. »Hm. Doch. Schon irgendwie. Aber nicht so richtig.« Seine sichtbare Verlegenheit ließ mich ein bisschen in mich hineingrinsen. Er machte eine kleine Pause und fügte dann leise hinzu: »Hat Karen denn … Ah, vergiss es«, unterbrach er sich mit einem tiefen Ausatmen und fuhr sich durch die Haare. »So was sollte ich dich nicht fragen. Geht mich nichts an.«
Ich zeichnete Rillen und Schleifen in die glatt geklopfte Sandfläche über meinen Fußrücken und dachte an die Zeiten, in denen Mams Handy abends ab und zu gepiepst hatte und sie mit strahlenden Augen und einem kleinen Lächeln um den Mund zurückgesimst hatte. Ich hatte ein bisschen gebraucht, um diese SMS mit den lustigen Samstagabenden in Verbindung zu bringen, die ich bei Gabi und Heiner mit Brettspielen, Filmen oder einfach Essen und Quatschen verbrachte, um anschließend auf dem Ausziehsofa in Heiners Arbeitszimmer zu schlafen. Nachdem ich kapiert hatte, dass Mam an diesen Abenden eine Verabredung hatte, hatte ich jedes Mal aufs Neue gehofft, sie würde mir bald einen neuen Vater vorstellen, der dann bei uns leben würde oder wir bei ihm, und zeitweise hatte ich die Vorstellung sogar ganz gut gefunden, noch ein oder zwei Geschwister zu bekommen. Aber ich lernte nie einen Mann kennen, mit dem Mam sich traf, und es dauerte auch nie sehr lange, bis dann keine SMS mehr kamen.
»Auch nicht so richtig«, sagte ich jetzt. Teds Augen und meine trafen sich und wir tauschten ein kleines Lächeln.
»Deine Mutter war eine tolle Frau, die man nicht so leicht vergisst«, sagte er dann leise. »Ich hab ihr lange nachgetrauert. Du bist ihr übrigens sehr ähnlich. In vielen Dingen. Du machst auch immer so«, schmunzelnd schob er sich mit dem Zeigefinger eine Braue über dem Rand der Sonnenbrille zu einem Dreieckswinkel hoch, »wenn du kurz davor bist, auszuflippen.«
Ich lächelte, wackelte mit den Zehen und sah zu, wie die Sandkruste Risse bekam und dann brach. »Warum habt ihr euch eigentlich getrennt, du und Mam?«
»Ach«, erwiderte Ted mit einem Aufschnaufen, »das war damals alles ganz schön schwierig. Wir waren ja noch sehr jung und kannten uns auch noch nicht lange, da mussten wir ziemlich plötzlich neben dem Studium Eltern für dich sein. Es war toll, dich kleines Wesen bei uns zu haben, aber auch ganz schön anstrengend. Wir waren ständig knapp bei Kasse und mussten irgendwie den Alltag zwischen dir und der Uni organisieren. Dann hatte ich ja auch nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung, die ich mit einem Job am Lehrstuhl zwar verlängern konnte, aber dafür noch weniger Zeit für euch hatte. Das hat unserer Beziehung nicht gutgetan.«
Ich lehnte mich vor und fegte den Sand von meinen Füßen, pulte mir dann die Körnchen zwischen den Zehen hervor. »Hättet ihr denn nicht einfach heiraten können? Wegen der Aufenthaltsgenehmigung, meine ich. Oder es wenigstens noch mal miteinander versuchen?«
»Wir haben es noch mal versucht«, hörte ich ihn sanft sagen. Er klang traurig. »Das erste Mal, als du ungefähr drei warst, und das zweite Mal nach meiner Doktorarbeit. Da musst du fünf gewesen sein. Ja, genau, fünf warst du. Erinnerst du dich, als du da ein paar Tage bei Gabi warst? Wir sind nach Heidelberg gefahren, Karen und ich, weil ich dort schon immer mal hinwollte. Und weil wir dachten, nur wir zwei, in einer romantischen Umgebung … Aber wir haben uns eigentlich nur gestritten und sind dann drei Tage früher als geplant wieder zurückgekommen.« Er machte eine kleine Pause. »Ich wollte tatsächlich heiraten, aber Karen nicht. Sie wollte nicht so spießig sein wie ihre Eltern, hat sie immer gesagt.«
Ich sah ihm zu, wie er mit den Zehen im Sand herumgrub und dann unter einem Seufzen das eine Bein von sich streckte, während er den Unterarm auf dem anderen Knie ruhen ließ. »Wenn man noch sehr jung ist, sieht manches anders aus. Man ist überzeugt, wenn man nur genug liebt, schafft man alles. Auch, zusammenzubleiben, egal was kommt. Und es ist niederschmetternd, wenn man einsehen muss, dass Liebe manchmal einfach nicht reicht.« Einen weichen Zug um den Mund, sah er mich an. »Ich wünsche dir, dass du diese Erfahrung nie machen musst.«
Ich musste an Nathaniel denken und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Mein Blick fiel auf Teds Fuß und ich stutzte. In einer schnellen Bewegung reckte ich mein Bein vor und drückte meine Ferse dicht daneben in den Sand.
»Hey, schau mal!«, rutschte es mir heraus. »Du hast ganz genau die gleichen Füße wie ich!«
Ted betrachtete unsere Füße, die sich in ihrer Form wirklich verblüffend ähnelten: ziemlich groß und flach, mit langen, schlanken Zehen, abgesehen vom großen Zeh, der ein bisschen knubbelig geraten war. »Stimmt. Ich hab genau die gleichen Füße wie meine großartige Tochter.«
Verlegen erwiderte ich sein Lächeln, und ich hatte überhaupt nichts dagegen, als er zu mir herüberlangte und mir kurz über das Schulterblatt rieb, während wir nebeneinandersaßen und den Wellen zuschauten.