59
Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.
Ich musste sie nur anschauen, um zu sehen, wie sehr sie sich in den wenigen Tagen verändert hatte. Da war dieser besondere Glanz in ihren Augen, wenn sie versonnen vor sich hinstarrte, ein kleines, verklärtes Lächeln um den Mund. Dieser Glanz, der immer wieder verlosch und dunklem Schuldbewusstsein wich. Wie sie nur noch halbherzig ihre Finger durch mich hindurchgleiten ließ und offenbar vergessen hatte, wie gern sie den Funkenzauber gehabt hatte, wenn ihre Fingerspitzen an meine stießen. Dieser Hunger, den ich an ihr immer wahrgenommen hatte, schien gestillt, dieser Hunger auf mehr, als ich war.
Vor allem aber schien sie sich mir zu entziehen; ich spürte weniger von dem, was in ihr vorging. Als würde sich das Loch in ihrer Seele, durch das all die Farben, all die Formen ihrer Gefühle zu mir herübergeströmt waren, langsam schließen. Sie war dabei, mir zu entgleiten. Jemand war dabei, mir mein Funny Girl zu nehmen.
Ich betrachtete sie, wie sie halb im Schein ihrer Nachttischlampe, halb in meinem Schatten dalag, und plötzlich wusste ich es. Da war etwas Starkes, ungeheuer Lebendiges an ihr, das nur von ihm kommen konnte und an ihr haftete. Von seinen Berührungen, sicher auch seinen Küssen. War ich wirklich so blind und taub gewesen den Sommer über? Vermutlich. Zu trunken von Ambers Nähe. Überschwemmt von neuen Eindrücken und Gedanken und zu bemüht, ein Teil ihrer Welt zu werden.
»Es ist Shane, nicht wahr?«
Ihr Kopf ruckte hoch; entsetzt sah sie mich an und verbarg dann ihr Gesicht vor mir. Ich spürte, wie ein Zittern durch sie hindurchlief, als ob sie mit sich rang. Und schließlich nickte sie.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie dann kläglich.
Ich war nicht einmal zornig. Nur unendlich traurig; ich hatte so sehr gehofft, dieser Tag würde noch lange auf sich warten lassen. Es tat weh. Scheußlich weh.
Ich streckte die Hand aus, um ihr über das Haar zu streichen, ließ sie dann aber wieder sinken. Mit ihr war mein Dasein so viel schöner geworden, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie es ohne sie sein würde. Wieder allein in dem Haus zu sein, für dieses fahlgraue Band aus Zeit, das sich endlos vor mir ausdehnte. Ohne Amber dort bei mir zu haben, ohne jede Nacht hier mit ihr zusammen zu sein. Ich wünschte mir, ich könnte jetzt, auf der Stelle, auf die andere Seite hinübergehen; selbst in der Hölle konnte mich nichts Schlimmeres erwarten, als ohne sie sein zu müssen.
Ich wünschte mir, ich könnte Amber packen und festhalten, von ihm fernhalten, jetzt und für immer. Von jedem von ihnen. Damit sie die Meine blieb, jetzt und für immer. Und jetzt war ich derjenige, durch den ein Zittern lief, als ich den Sog spürte, der von ihrer Seele ausging. Es wäre so einfach, ich müsste mich nur in sie hineinfallen lassen, ihre leibliche Hülle ausfüllen und mich in ihre Seele krallen, dann könnte sie mir keiner mehr nehmen. Nicht in diesem Leben und vielleicht auch nicht danach.
So einfach wäre es. Aber ich konnte nicht. Früher oder später würde sie mich dafür hassen. Sicher würde sie mich auch hassen, wenn ich mir seinen Körper, seine Seele nähme. Und dabei wünschte ich mir doch nichts mehr, als dass sie mich liebte. Mich, Nathaniel.
Vielleicht war es auch einfach Zeit, vielleicht brauchte sie mich einfach nicht mehr.
Ich beugte mich über sie, drückte meinen Mund in ihr Haar und schob mich von ihr fort.
Noch ehe ich das offene Fenster erreicht hatte, fuhr sie hoch. »Nicht!«
Der Klang ihrer Stimme, halb ein Wispern, halb ein Schrei, ließ mich innehalten. Und noch mehr das, was plötzlich zu mir heranflutete, ein zäher, dunkelroter Schleier aus Angst, Trauer, Zorn und Sehnsucht, so viel Sehnsucht. Als ob ihre Seele blutete.
»Bitte«, raunte sie heiser. »Bitte bleib bei mir.« Sie bebte am ganzen Körper. »Bitte.«
Erstaunt sah ich zu, wie ihre Augen feucht wurden, dann vor Tränen schwammen, bis die erste Träne ihre Wange hinabrollte, dann die nächste und noch eine.
Ich hatte sie noch nie weinen sehen.