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Ich schrie auf, als ich von Nathaniel weggeschleudert wurde, mit der Hüfte über einen Bücherstapel schrammte und ihn umriss, dann mit dem Rücken gegen die Wand unter dem Fenster knallte.

»Amber!«, brüllte Matt auf, und während Abby aufschluchzte, rief Holly: »Nicht! Zurück! Lasst sie!«

Ich sah Nathaniel und Jack, die die von Gaslaternen beleuchtete Straße entlangmarschierten und vor dem Haus an der Ecke haltmachten. Sie steckten die Köpfe zusammen, aber ich konnte nicht hören, was sie einander zuraunten. Schließlich nickte Nathaniel, trat vor das Tor im Eisenzaun und öffnete das Schloss geschickt mit zwei Drähten, die er aus der Hosentasche gezogen hatte, und nachdem er durch den frisch angelegten Garten um das Haus herumgegangen war, genauso die Holztür auf der Rückseite.

Die Bilder begannen sich vor meinen Augen zu überschlagen, wie zwei Filme, die parallel im Zeitraffer vor mir abliefen. Nathaniel tastete sich durch den finsteren Korridor in die Halle vor, während Jack vor dem Haus unruhig hin und her tigerte. Nathaniel kramte ein Streichholz aus der Hosentasche hervor, riss es an und entzündete eine Lampe in der Halle, die einen blassen, weichen Schein verbreitete. Draußen auf der Franklin Street bewegte sich eine Silhouette auf Jack zu. Nathaniel wanderte durch die Halle und betrachtete die Schränke voller Nippes und die Gemälde an den Wänden, trat vor ein Tischchen und streckte die Hand nach der silbernen Uhr darauf aus. Jack zuckte zusammen und blickte erschrocken; einen Herzschlag lang zögerte er und warf einen schnellen Blick zum Haus hin. Dann spurtete er los, so schnell seine Beine ihn trugen, in die Nacht hinaus. Die Silhouette bekam die Konturen eines Mannes in Uniform, der die Reihe schwach beleuchteter Fenster musterte. Hinter einem der blassgelben Rechtecke zeichnete sich ein Schattenriss ab. Nathaniels Schattenriss. Und während ich noch den Nachhall von Jacks fortstürmenden Laufschritten im Ohr hatte und seinen keuchenden Atem, zog der Polizist seine Waffe aus dem Holster und ging auf das Tor im Eisenzaun zu.

»Nathaniel!«, schrie ich gellend.

Wie in einem Spotlight auf einer Bühne sah ich plötzlich alles ganz hell und scharf. Matt, Abby, Holly und Shane, die sich am Rand des Zimmers aneinanderdrängten und gebannt zu mir herüberstarrten. Nathaniel, der in seiner dunklen Hose und dem grauen Hemd mitten in der Halle stand und herumfuhr, als er die Schritte des Polizisten hinter sich hörte. Ich entdeckte die Angst in seinen Augen und wie er einen Gegenstand in der Hand hielt; in dem Schatten, den sein Körper warf, war er nicht genau zu erkennen. Vielleicht eine Waffe, vielleicht auch nur eine kleine Vase oder eine Statue.

Ein greller Knall schien mir das Trommelfell zu zerfetzen und ich schrie auf. Wie eine Luftspiegelung begann die Gestalt des Polizisten zu vibrieren und zu schillern und löste sich dann vor meinen Augen in nichts auf.

Ich sah nur noch Nathaniel, der mit fast so etwas wie Erstaunen auf seine Magengegend herunterblickte, wo sich ein dunkelroter Fleck auf dem Hemd ausbreitete, bevor er zusammensackte und zu Boden fiel.

Nathaniel. Ich rappelte mich auf, stolperte zu ihm hinüber und schmiss mich neben ihm auf die Knie. Zitternd zog ich ihn in meine Arme und bettete seinen Kopf in meinen Schoß. »Nathaniel.«

Fragend sah er mich von unten herauf an, dann schien ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht auf. »Amber. Was …« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Was … warum …« Dann schien er zu begreifen. »So … bin ich … gestorben?«

»Ja«, flüsterte ich und streichelte seine Wange. »So bist du gestorben.«

Er tastete nach meinem Arm und schloss seine kraftlosen Finger darum. »Ich kann dich fühlen.« Seine Miene hellte sich auf. »Richtig … fühlen.«

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie schwer sein Kopf in meinem Schoß lag und wie die Wärme seines Körpers durch unser beider Kleidung auf meine Haut drang, während von seinen Fingern auf meinem Arm eine entsetzliche Kälte ausging.

»Ja«, schluchzte ich und lachte gleichzeitig auf. »Ja, ich kann dich auch fühlen.« Mit bebenden Fingern fuhr ich durch seine Locken, strich über sein Gesicht, auf dem kalter Schweiß stand, dann über seinen Hals, und wollte gleichzeitig jubeln und weinen, als ich seinen Herzschlag unter meinen Fingerspitzen spürte.

Um seinen Mund zuckte es, während er heftig blinzelte, als wollte er Tränen zurückhalten. »Ich hab … so viel … falsch gemacht. Ich hab … einen Menschen umgebracht. Ich … ich wünschte … ich könnte … ungeschehen …« Jäh richtete er den Blick auf mich, und seine Augen, die sich mit meinen trafen, wirkten plötzlich klar. »Es … tut mir leid. Ich bereue es … so sehr.«

Ich beugte mich tiefer über ihn und presste ihn fester an mich, diesen greifbaren menschlichen Körper, der er war. Aus dem das Leben unter heftigem Zittern unaufhaltsam entwich, zusammen mit dem Blut, das aus seiner Schusswunde strömte und sich in einer Lache auf dem Boden sammelte.

»Amber? Es tut … tut so weh.« Immer schwächer wurde seine Stimme und Blut rann in einem dünnen Faden aus seinem Mundwinkel und über das Kinn.

»Bitte bleib bei mir, Nathaniel«, hauchte ich und umklammerte seine Schultern, wie um ihn festzuhalten. »Bitte bleib. Ich brauch dich. Ich …« Einen Wimpernschlag lang zögerte ich, weil mir das, was mir auf der Zunge lang, zu gewaltig vorkam, zu dramatisch. Aber es war die Wahrheit. »Ich liebe dich.«

Um seinen blutverschmierten Mund zuckte es. »Trotz … trotz …«

»Ja. Trotz allem was du in deinem früheren Leben getan hast. Ich liebe dich.«

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, ein Frieden, der alles an Schmerz und Angst fortwischte. »Ich … ich kann sie sehen. Die … andere … die andere Seite.«

Seine Augen verdunkelten sich und wurden dann matt; das Gewicht auf mir ließ nach, und in meinen Armen begann Nathaniel zu verblassen, wurde durchsichtig und löste sich dann ganz auf, bis ich mit leeren Händen dasaß. Und auch der Lichtkegel, der mich umgab, flackerte und verlosch.

Nathaniel war fort. Für immer.