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Mit weichen Knien kletterte ich aus dem Taxi. Das schmale Straßenschild über der Fußgängerampel verriet, dass die Querstraße, auf der ich stand, »Hyde« hieß, und während der Fahrer bei laufendem Motor unser Gepäck aus dem Kofferraum wuchtete und Ted ihn bezahlte, schulterte ich meinen Rucksack und besah mir das Haus vor mir genauer. Unter dem schnörkeligen Schriftzug Lilypad mit einer endlos langen Telefonnummer und dem Logo einer Seerose waren die Tüllgardinen der Schaufensterscheiben im Erdgeschoss malerisch zusammengerafft. Neonbuchstaben verkündeten rot glühend OPEN, und ein Klappschild auf dem Bürgersteig listete rot auf weiß die Dienstleistungen bei Lilypad auf: Spa Manicure. Spa Pedicure. Skin Care. Waxing. Body Massage. Da sollte ich wohnen?
»Schönen Tag noch!«, rief der Taxifahrer, sprang in den Wagen und brauste davon, um wenige Augenblicke später mit kreischenden Reifen irgendwo abzubiegen.
»Sind nur noch ein paar Schritte«, erklärte Ted. »Das zweite Haus auf der linken Seite ist es. Soll ich deinen Koffer nehmen?«
Ich schüttelte den Kopf und hievte meinen Trolley den Bordstein hinunter. Wir überquerten die Fahrbahn und stapften dann bergan.
Laternenpfosten und Stoßstange an Stoßstange parkende Autos säumten die steile Straße; sämtliche Motorhauben blickten uns entgegen – eine Einbahnstraße. Bis auf den grauen Betonklotz am oberen Ende des Blocks waren die Häuser hier in gedämpften Farben gehalten, in Mattbraun, Zartgrau, Altrosa, immer mit Weiß abgesetzt, und bei ausnahmslos allen wölbten sich in den oberen Stockwerken unterschiedlich gestaltete Erker vor, die zusammen mit den vereinzelt stehenden Laubbäumen dem Straßenzug etwas Verspieltes gaben. Auf der Hyde Street fuhr mit dröhnendem Dieselmotor ein Bus vorbei, und aus der Ferne hörte ich die Sirene eines Polizei-, Feuerwehr- oder Rettungswagens, die genauso jammernd klang wie in amerikanischen Krimis. Sonst war es still.
Neben dem hellbraunen Eckhaus mit seinen kantigen Linien und der vergitterten Einfahrt zur Tiefgarage wirkte das zweite Haus in der Zeile, gelb wie Vanillepudding, fast ein bisschen altmodisch. Um den halbrunden Erker in der Mitte waren Gitterplattformen mit verschnörkeltem Geländer und Feuerleitern angebracht, und weiße Ornamente aus Stuck schmückten den Zwischenraum unter den hohen, zweigeteilten Fenstern der vier durchgängigen eckigen Erker, die sich zu beiden Seiten anschlossen; die Fassade des Erdgeschosses bestand dagegen aus Backsteinen in einem sanften Graubraun. Obwohl es erst Nachmittag war und draußen die Sonne schien, brannte die Lampe über der verglasten Front des Eingangs mit den fast schwarzen Rahmen, und die schlanken weißen Säulen links und rechts waren mit Tannengirlanden aus Plastik umwickelt, in denen rote Glaskugeln hingen.
»Komm, ich trag ihn dir hoch.« Ted streckte die Hand nach meinem Trolley aus.
»Danke, kann ich selber«, murrte ich. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich am Fenster unmittelbar über uns die Gardine bewegte.
Ted seufzte, ging dann aber mit seinem Koffer voraus, während ich meinen mit beiden Händen packte und Stufe für Stufe an dem zierlichen schmiedeeisernen Treppengeländer vorbei hinaufschleifte. Schnaufend kam ich oben an und mein Blick blieb auf den glänzend polierten Ziffern aus Messing über der Tür kleben. 1474, Sacramento Street. Meine neue Adresse.
Ted hatte seinen Schlüsselbund hervorgenestelt und schloss auf; mit einem kurzen Blick auf die beschrifteten Klingelknöpfe stellte ich fest, dass hier eine Menge Leute wohnten, grob geschätzt waren es wohl um die vierzig Parteien.
Auch in der großzügigen Halle mit den vanillegelben Wänden und braunen Türen waren die Deckenlampen eingeschaltet und verbreiteten ein gedämpftes Licht, dazu blinkten die Lämpchen des mit Unmengen von Glitzerkram behängten riesigen Christbaums auf der rechten Seite hektisch. Eine auf antik gemachte, glänzende Steinbank stand im Winkel neben der Eingangstür; im Spiegel dahinter erhaschte ich einen Blick auf mich, rotgesichtig und verschwitzt, meine Haare auf der einen Seite platt gedrückt, auf der anderen zerzaust, und ich streckte mir selbst die Zunge heraus. Vor einem endlosen Gang mit zahlreichen Türen drückte Ted neben der breiten Treppe mit dem weiß lackierten Geländer auf den Knopf der beiden Aufzüge. Während ich noch überlegte, ob die glänzenden braun-weißen Steinfliesen, auf denen die Trolleyräder ratterten wie Knallfrösche, tatsächlich aus Marmor sein könnten, hörte ich hinter uns eine Tür aufgehen.
»Ah, Professor Fowler, Sie sind zurück!«
»Hallo, Mrs Hanson«, erwiderte Ted freundlich, und jetzt drehte auch ich mich um.
Im Türspalt stand eine mollige Frau, die gut an die siebzig war und deren zu sorgfältigen Löckchen gelegtes Haar in einem Lilaton schillerte, der perfekt auf ihren Jogginganzug aus glänzendem Material abgestimmt war. Aus der Wohnung hinter ihr drang überlaut eine aufgeregte Männerstimme in breitestem Amerikanisch, gefolgt von einem schwungvollen Werbejingle; offenbar lief der Fernseher oder ein Radio.
»Wie schön, Sie haben uns wirklich gefehlt!«, rief sie aus, ein strahlendes Lächeln auf ihrem runden, zerknitterten Gesicht. »Hatten Sie einen guten Flug?« Neben ihren Turnschuhen mit dem breiten Streifen in Metalliclila schob sich ein riesiges weißes Plüschknäuel durch den Türspalt: eine Monsterkatze, die mich interessiert aus ihren gelben Augen anblinzelte, bevor sie sich schnurrend am Türrahmen zu reiben begann.
»Ja, danke.« Ted machte eine Geste mit der flachen Hand zu mir hin. »Meine Tochter Amber. – Mrs Hanson, die gute Seele des Hauses.«
»Aber nicht doch«, erwiderte sie und winkte unter einem leisen Lachen verlegen ab; dann nahm sie mich genauer in Augenschein und klatschte in die Hände. »Nein, so ein großes Mädchen haben Sie schon, das hatten Sie mir gar nicht gesagt!« Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht, und mit betrübter Miene fügte sie hinzu: »Das mit deiner Mutter tut mir ja so unsagbar leid! Du armes, armes Kind! Mein allerherzlichstes Beileid!« Ächzend bückte sich Mrs Hanson und hob ihre Katze hoch, die mit einem unwilligen Maunzen Protest einlegte. »Mein Beileid natürlich auch Ihnen, Professor!«
Meine Kehle war plötzlich eng und ich musste heftig schlucken. Schon klar, es gehörte sich, sein Beileid auszudrücken, und es war bestimmt auch gut gemeint, und trotzdem hasste ich es wie die Pest. Immer erwischte es mich unvorbereitet, und immer genau dann, wenn ich gerade einmal für fünf Minuten nicht daran gedacht hatte, dass Mam nicht mehr da war. Ich hasste diese Art von Mitgefühl, die wie eine trübe Brühe an mich hinschwappte und mich durchtränkte, dass ich bis ins Mark fror und mir schlecht wurde. Ich sehnte mich danach, nicht ständig mit diesen bedauernden, kummervollen und doch neugierigen Blicken bedacht zu werden. Danach, nicht dauernd in diesem behutsamen Tonfall angesprochen und wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Ich wünschte mir, dass man normal mit mir umging, so wie früher. Aber noch mehr wünschte ich mir, alles könnte tatsächlich noch so wie früher sein, bevor Mam überhaupt krank geworden war. Ich gab ein gemurmeltes »Danke« von mir und starrte dann angestrengt auf die zerschrammten Spitzen meiner Stiefel.
»Haben Sie beide denn Silvester schon etwas vor?«, hörte ich Mrs Hanson über das nun doch zufriedene Schnurren der Katze hinweg fragen, und ich unterdrückte ein Stöhnen. Silvester mit einer neugierigen Nachbarin war so ziemlich das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte.
Pling. Der eintreffende Aufzug versprach Rettung.
»Wir müssen erst mal richtig ankommen«, antwortete Ted diplomatisch, schnappte sich meinen Trolley und verfrachtete ihn in den Aufzug. »Dann sehen wir weiter. Ihnen einen schönen Tag, Mrs Hanson.« Mit der einen Hand nahm er seinen eigenen Koffer auf und schob mich mit der anderen vor sich her in den Aufzug.
»Danke, Ihnen auch! Und alles Gute!«, rief Mrs Hanson; dann hatte Ted schon den Knopf mit der Zahl Drei darauf gedrückt und die Tür ging zu.
Verstohlen musterte ich Ted, während der Aufzug mit uns aufwärts ruckelte. Einen Fuß in den groben Bergstiefeln über den anderen gekreuzt und die Hände in den Taschen seiner Jeans, lehnte er mit dem Rücken an der Wand. In einem grauen Hoodie mit dem verwaschenen Aufdruck SFSU unter der offen stehenden Daunenjacke und seinen schwarzen Rucksack über der Schulter, eine Spur von rötlichen Bartstoppeln auf dem Gesicht und die Augen hinter den Brillengläsern klein vor Müdigkeit, ähnelte er eher einem Studenten nach der letzten Examensklausur als einem Universitätsprofessor. Vor allem passte er irgendwie überhaupt nicht in dieses gediegene, fast ein wenig protzige Haus.
Auf eine Art war er immer in meinem Leben vorhanden gewesen, in Form von Fotos, E-Mails und bunten Postkarten, die fremdländische Briefmarken und Stempel trugen, genau wie die Pakete, die fast immer lange nach Weihnachten eintrafen. In Telefonaten, in denen seine Stimme von Knistern und Rauschen und einem blechernen Nachhall verzerrt klang, und in den Erzählungen von Mam, die konsequent immer ins Englische wechselte, wenn sie von ihm sprach. Trotzdem war er nie mehr als eine unwirkliche Vorstellung gewesen; die paar Mal, die wir Zeit zusammen verbracht hatten, konnte ich locker an beiden Händen abzählen, und jedes Mal wenn ich kurz davor gewesen war, ihn »Papa« oder »Daddy« zu nennen, war er wieder abgereist. An irgendeinen so entlegenen Ort der Welt, dass ich ihn manchmal nicht einmal auf Google finden konnte.
Pling. Die Tür des Aufzugs öffnete sich, und wir schwenkten nach rechts in einen langen Korridor ein, in dem sich die Kombination aus gelben Wänden und hellbraunen Türen der Eingangshalle wiederholte. Nur dämpfte hier der Flor eines braunen Teppichbodens unsere Schritte und die Räder der Koffer. Das Haus war wesentlich größer, als es von der Straße aus gewirkt hatte; als Ted endlich vor einer Tür mit der Aufschrift »3g« haltmachte, sah ich, dass der Korridor dahinter noch ewig weiterging.
Ted schloss auf und ließ die Tür hinter uns beiden wieder zuschnappen, bevor er in bemüht heiterem Tonfall verkündete: »Hier wären wir also!«