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Am-berrrr. Zwei Laute, ein doppelter Klang, so leise, so sanft, wie ein Einatmen, ein Ausatmen, die über mein Gesicht strichen. Nathaniels Augen, die in meine blickten, sein Mund, der sich auf meinen legte, und während ich mich an ihn klammerte, gab etwas in mir nach. Ich schluchzte auf und mit Nathaniel ging ich auf in Wärme und Seligkeit. Als würde ich nun zu etwas Strömendem, Fließendem, das ihn einhüllte. Mein Atem brandete auf und lief wieder aus wie die Wellen des Pazifiks, und wie von Wellen geschaukelt fühlte ich mich. Wellen, die höher und höher aufbrandeten und wieder ausliefen, langsam und sacht und doch mit wachsender Ungeduld. Frei und doch getragen war ich, ohne Halt und doch aufgehoben.

Wie das Raunen des Windes, das Flüstern dürrer Blätter trieben Stimmen in mir herauf, von irgendwoher in der Ferne und doch so nah, genau wie die Schritte, die herankamen und sich wieder entfernten. Zu leise, zu weit entfernt, als dass ich erschrocken wäre, aber so nahe, dass ich verwirrt blinzelte. Stimmen und Schritte, die zart heranwogten und wieder verklangen. Das Geklapper von Pferdehufen, durch die Entfernung genauso gedämpft wie das Knirschen von Wagenrädern, ließ mich schmunzeln, und gleich noch mehr, als ich das Rattern eines Cable Cars und das Bimmeln seiner Glocke hörte. Blass und zart wie die die Lichtspiele eines alten, ruckelnden Filmprojektors huschten Bilder hinter meinen Augenlidern vorüber, genauso wackelig und verschwommen. Kinderfüße in weißen Kniestrümpfen und Lackschuhen, die um mich herumsprangen. Herrenschuhe marschierten mal energisch, mal in grüblerischer Langsamkeit an mir vorüber. Lange, dunkle Röcke mit einer gestärkten weißen Schürze glitten an mir vorbei, unter denen bei jedem Schritt raschelnd ein Rüschensaum und feste Schnürstiefeletten hervorblitzten und ihre vornehmeren Gegenstücke aus teuren Stoffen mit vielen Volants und teuren Spitzen. Elegante Pumps mit glitzernder Stickerei schritten, eilten und wirbelten unter den gerafften Säumen großer Abendroben um mich herum und brachten in ihrem Luftzug die Fetzen eines Musikstücks mit sich. Den freudigen Ausruf einer Frauenstimme hörte ich und ein perlendes Lachen, ein Kichern, ein Weinen; das Knallen eines Korkens und ein sprudelndes Schäumen, das helle Klingeln von Gläsern und das Gemurmel einer tiefen Männerstimme. Bilder und Klänge, die zu mir heranwehten wie flüchtige Erinnerungen und nach und nach wieder davonflogen.

Dann hörte ich nur noch meinen Atem, der schwer und schnell ging. Das Rauschen in meinen Ohren und das heftige Trommeln meines Pulsschlags, während ich mich vollkommen blind diesem Auf und Ab überließ, in dem Nathaniel und ich ineinanderflossen. Bis ich dicht an meinem Ohr seine Stimme hörte und er meine Hand so fest packte, dass es wehtat und doch so unendlich schön war. Eine wilde, tosende Flut schoss in mir hoch, und mit einem Aufschluchzen ertrank ich in einem Glücksgefühl, das in jeden Winkel meines Seins strömte.

Die Zeit stand für mich still. Ich hatte kein Gefühl mehr für den Raum, der mich umgab und nicht einmal mehr für mich selbst, obwohl jede Faser meines Körpers zu vibrieren schien. Als hätte ich keinen Kontakt mehr mit dem Boden unter mir, als hätten sich meine Konturen aufgelöst und ich mich mit der Luft, die mich umgab, vermischt.

Nathaniel war es, der mich zu mir zurückbrachte. Indem er mich sanft auf den Mund küsste, auf die Wangen, meine Stirn. Mir über die Haare strich, mich an sich zog und festhielt.

»Amber«, murmelte er meinen Namen. »Amber.« Am-berrr. Als ob darin alles steckte, was er empfand, was er dachte und was er mir sagen wollte. Am-berrr.

Während ich stumm blieb. Stumm und überwältigt von dieser ungeheuren Macht, die mich derart mutig, ja tollkühn hatte sein lassen. Weil es das Aufregendste war, was ich je erlebt und gewagt hatte, Nathaniel so zu sehen und zu berühren, wie ich es getan hatte. Dass er mich so sah, dass er mich so berührte, wie er es getan hatte. Nicht weil er ein Geist war, dem für eine Nacht wieder eine greifbare, spürbare Gestalt gegeben wurde. Sondern weil er Nathaniel war.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, wozu mein Körper, meine Seele an Empfindungen fähig waren; unglaublich stark fühlte ich mich. Wie der Entdecker einer neuen Welt, in die noch kein Mensch vor mir je einen Fuß gesetzt hatte, eine Welt, die von nun an mir allein gehörte, mir und Nathaniel.

Nach und nach fiel diese Stärke in sich zusammen, als ich merkte, wie es in mir glühte und brannte. Klein kam ich mir mit einem Mal vor, geradezu winzig. Zerbrechlich und erschreckend verwundbar, und ich begann zu zittern. Ich war den Tränen nahe und froh darüber, dass Nathaniel kein weiteres Wort verlor, nur zu einem Zipfel der Decke griff, mich darin einhüllte und an sich presste. Womöglich gab es auch gar keine Worte, die ausdrücken konnten, was wir fühlten, als wir eng aneinandergeschmiegt dalagen und uns in die Augen sahen, grenzenloses Staunen im Blick und ein Lächeln auf dem Gesicht, das zugleich strahlend, zärtlich und ungläubig war.

Weil uns etwas geschenkt wurde, das eigentlich ganz und gar unmöglich war, uns aber vorkam wie das Natürlichste der Welt. Weil wir wie füreinander geschaffen waren, Nathaniel und ich.

Und ich war mir sicher, dass keine zwei Seelen einander jemals näher gewesen waren als unsere beiden in dieser Nacht.