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Während ich auf dem Beifahrersitz des zwar nicht mehr brandneuen, aber trotzdem schnittigen schwarz glänzenden Flitzers hockte, musterte ich Shane aus dem Augenwinkel. Er war ein guter und sicherer Fahrer, der sich mit dem Auto genauso geschmeidig durch den Nachmittagsverkehr auf der California Street bewegte wie zu Fuß durch die Cafeteria und die Gänge der Jefferson High. Zwischen den Anweisungen der nervigen Frauenstimme des Navis, das er noch in der Parklücke am Straßenrand mit meiner Adresse programmiert hatte, erzählte er mir, dass er über das Football-Team der Eagles locker mit Sharons Bruder Jeff befreundet war. Von ihr wusste er, wie ich hieß und dass ich aus Deutschland hierhergezogen war, und er wollte wissen, wie es mir hier so gefiel. Shane wohnte in Haight-Ashbury (Klingt jetzt sicher mehr nach Hippies und Beatniks, als es tatsächlich ist, fügte er mit einem kleinen Grinsen hinzu, obwohl es bei uns zu Hause wirklich bunt und ein bisschen chaotisch zugeht), besuchte AP-Kurse in Bio, Chemie und Psychologie und hoffte auf ein Sportstipendium fürs College und das Medizinstudium. Zwar verdiente sein Vater als Unfallchirurg im General Hospital am Potrero Hill ganz gut und auch seine Mutter war immerhin Anwältin. Aber offenbar vertrat sie meist hoffnungslose Fälle, und schließlich waren noch zwei jüngere Schwestern da, die auch einmal aufs College und an die Uni wollten.

Irgendwie wäre es mir lieber gewesen, er hätte dem Klischee des gut aussehenden Sportlers mit weicher Birne oder wenigstens arrogantem Gehabe entsprochen. Immer wieder wanderte mein Blick zwischen seinen großen, biegsamen Händen am Lenkrad und seinem kräftigen Gesicht unter den extrem kurz geschorenen Haaren hin und her und blieb dabei öfter mal an seinem Oberarm kleben, wo der trainierte Bizeps auf gut zwei Zentimetern Länge die Ärmelnaht gesprengt hatte. Dass Shane zu all dem auch noch intelligent war, Gutmenschentum quasi in seinen Genen hatte und durch und durch sympathisch wirkte, schien mir eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Kein Wunder, dass fast die gesamte weibliche Hälfte der Jefferson High und sicher auch der schwule Prozentsatz der anderen Hälfte hinter ihm her waren.

»Da wären wir«, brummte Shane in meine Gedanken hinein, während er den Wagen an Leroy’s auf der anderen Straßenseite vorbei die Sacramento Street bergab ausrollen ließ und dann mit laufendem Motor in zweiter Reihe vor dem vanillegelben Haus mit der Nummer 1474 anhielt.

»Sie haben. Ihr Ziel. Erreicht«, bestätigte die Navi-Lady.

»Danke fürs Mitnehmen.« Ich öffnete den Gurt und griff zu meinem Rucksack. Ohne mich anzusehen, nickte Shane nur und umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad. »Worüber wolltest du eigentlich mit mir reden?«, fragte ich dann behutsam.

Shane blies die Wangen auf und stieß laut den Atem aus. »Ist gar nicht so einfach … Ich … Ach, vergiss es.« Er löste eine Hand vom Lenkrad und fuhr sich damit über den rasierten Schädel; als er sie wieder auf das Lenkrad legte, sah ich, wie sie dabei zitterte.

Zwischen den parkenden Autos auf der rechten Seite trat eine Frau in kurzem Rock und Seidenbluse auf die Straße und stöckelte auf einen cremefarbenen SUV weiter vorne zu; ich schaute ihr zu, wie sie einstieg und in Millimeterarbeit auszuparken begann.

»Magst … magst du vielleicht dein Auto dort abstellen und mit hochkommen?«

»Kaffee wäre prima, danke.« Unaufhörlich wanderten Shanes Augen durch die Küche. »Nett habt ihr’s hier. Vor allem so ordentlich. Meine Mom wäre neidisch! Mit Dads Schichtdiensten, ihrer eigenen Arbeit und uns drei Kids kommt sie nämlich kaum mit Aufräumen hinterher.«

»Wie alt sind deine Schwestern?« Ich reckte mich nach den Kaffeebechern im Oberschrank.

»Tamika ist dreizehn, Kayla acht. Jede für sich kann schon ganz schön anstrengend sein …« Shane unterbrach sich und wartete, bis das Mahlwerk ausgerattert hatte. »Aber zusammen sind sie die Pest.« Ich schmunzelte, ließ den zweiten Kaffee aus der Maschine und holte solange schon mal die Milch aus dem Kühlschrank.

»Was macht dein Dad beruflich?«, wollte Shane wissen, als ich ihm einen Becher Kaffee hinstellte und er sich auf meinem Platz in der Küche niederließ.

»Er ist Professor für Anthropologie an der State University.« Ich pflanzte mich mit meinem Becher Milchkaffee auf Teds Stuhl und zog ein Knie herauf.

»Wow. Abgefahren.« Vorsichtig nippte Shane an seinem Kaffee und seine Brauen schnellten hoch. »Mann, ist der stark!«

»Das ist eine europäische Maschine«, erklärte ich nicht ohne Stolz und schob den Milchkanister näher zu Shane, aber er winkte ab und nippte noch einmal an seinem Becher. »Ted hat mir mal erzählt, dass ihn die erste Tasse Kaffee damals in Deutschland fast umgehauen hat. Aber dann ist er auf den Geschmack gekommen und seither trinkt er ihn immer so wie bei uns in Europa.«

Ein winziges Lächeln blitzte auf Shanes Gesicht auf, bevor er sich mit ernster Miene auf seinen Kaffee konzentrierte. »Sharon hat mir von deiner Mom erzählt. War sie krank?«

Ich trank einen Schluck und sah Shane über den Tisch hinweg an. Er hatte eine angenehme Art, danach zu fragen, nüchtern, aber nicht gefühllos, vor allem ganz ohne Befangenheit oder gar triefendes Mitleid. Sicher würde er später mal einen ziemlich guten Doc abgeben.

»Glioblastom«, erwiderte ich nur.

»Verdammt«, kam es genauso kurz von ihm.

»Yapp.« Ich fing seinen Blick auf und begann zu ahnen, wie viel Mut es Matt gekostet haben musste, damals bei Starbucks die magischen Worte zu sagen. Um ein Haar wären sie mir in der Kehle stecken geblieben, und ich rang heftig mit mir, bis ich dann doch heiser herausbrachte: »Du siehst sie auch, oder?«

Shanes Augen saugten mich förmlich auf, bevor er schnell wegsah. Ein wackliges Lächeln zog über seine linke Gesichtshälfte. »Bis … bis vorhin …« Er schluckte. »Bis vorhin war ich überzeugt, ich wäre der Einzige. Der Einzige, der diesen unheimlichen Typen an der Schule sieht. Und nicht nur ihn.« Ein Lachen, nervös und fast so bitter wie der Kaffee in unseren Bechern, rutschte ihm heraus. »Kannst du dir vorstellen, wie das für mich die ganze Zeit gewesen ist? Jemand wie ich, der Wide Receiver des Footballteams, der fast jeden Pass des Quarterbacks fängt und zum Touchdown bringt – ein As in den Naturwissenschaften, glaubt, er kann Geister sehen. Wie peinlich ist das denn!«

»Hey, nimm mal nicht die ganze Peinlichkeit allein für dich in Anspruch!«, gab ich barsch zurück. »Ich will auch noch was davon abhaben.«

Shane richtete den Blick auf mich, dann breitete sich ein hell leuchtendes Grinsen auf seinem dunklen Gesicht aus. »Verzeihung, Ma’am. Wie unhöflich von mir. Selbstverständlich lasse ich Ihnen Ihren Anteil daran.«

Wir lachten beide leise, bevor wir wieder in unsere Kaffeebecher stierten.

»Als ich dich vorhin da gesehen hab«, sagte er nach einer Weile rau, »wie du so mutig auf ihn zugegangen bist, ihn angeblafft hast, bis er verschwand – da dachte ich zuerst, ich halluziniere. Ich dachte, die ganzen Shrinks, zu denen meine Eltern mich geschleppt haben, hätten recht, genau wie der Reverend unserer Gemeinde. Dass die Geister, die ich zu sehen glaube, eine Projektion meines Unbewussten sind. Ein Weg, um mit meinen Schuldgefühlen umzugehen, vielleicht auch, um mich selbst zu bestrafen. Und dann«, er lachte wieder, wärmer dieses Mal, »und dann sehe ich dich und mir kommt zum ersten Mal der Gedanke, dass es wirklich wahr sein könnte.«

»Siehst du sie, seit … seit …« Shanes eindringlicher Blick brachte mich erst zum Stottern, dann zum Verstummen.

»Das mit Lauren war vermutlich mit das Erste, was du über mich gehört hast, oder?« Ich nickte beschämt. »Schon klar.« Er atmete tief ein. »Ich finde es komplett krank, wie es die ganzen Tussen antörnt, dass meine Freundin tödlich verunglückt ist. Als ob jede davon überzeugt wäre, sie und nur sie könnte wiedergutmachen, was da bei mir kaputtgegangen ist. Um dann die allseits bewunderte und beneidete Prinzessin an meiner Seite zu spielen.« Er trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. »Du bist irgendwie … anders.« Ein kleines Lächeln schien auf seinem Gesicht auf. »Lauren hätte dich bestimmt auf Anhieb gemocht.« Sein Lächeln bekam etwas Trauriges, als er seinen Becher abstellte und in die Gesäßtasche seiner Jeans langte, seinen Geldbeutel hervorzog und ein Foto herausfischte, das er vor mir auf den Tisch legte.

Neugierig lehnte ich mich vor. Das Mädchen mit den langen, silbrigblonden und ein bisschen verwuschelten Haaren, das in einem übergroßen weißen Herrenhemd auf einem Fensterbrett saß, war einfach nur schön. Ihr ebenmäßiges, ungeschminktes Gesicht wirkte sanft, und obwohl sie mit ernster Miene in die Kamera schaute, hatte sie ein schalkhaftes, fast freches Funkeln in den türkisblauen Augen mit den dichten Wimpern. Der üppig geschwungene Mund sah aus, als ob er gern lächelte oder lachte, und die beiden winzigen Leberflecke auf ihrer linken Wange waren wie das Tüpfelchen auf dem i. Und sie war viel zu jung, um schon tot zu sein.

»Lauren …« Shanes Stimme klang kratzig, wie aufgeschürft. »Lauren war ein ganz besonderer Mensch, witzig und klug und warmherzig. Und unglaublich begabt. Malerin wollte sie werden oder Musikerin, sie hatte genauso viel Talent für Pinsel und Farbe wie am Klavier. Sie war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Meine Seelenverwandte. Die andere Hälfte meines Ichs.« Immer leiser hatte er gesprochen, bis er nur noch flüsterte. »Und dann«, seine Brauen zogen sich zusammen, »und dann war sie plötzlich einfach nicht mehr da. Von einer Sekunde zur nächsten.« Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und schaute zur Balkontür hinaus. »Schon die ganze Nacht über hatte es geregnet, aber wir wollten uns davon das Wochenende in Muir Woods nicht verderben lassen und sind trotzdem in strömendem Regen losgezogen. Evan, Chase und Maddie vorneweg, Lauren und ich hinterher. Meine Idee, weil der Boden so rutschig war. Wenn du fällst, fang ich dich auf, hab ich zu ihr gesagt, ich kann das, ich bin darin geübt. Sie hat gelacht und mir einen Kuss gegeben, bevor sie sich an mir vorbeigedrückt hat und in großen Schritten weitergelaufen ist. Ich sehe sie immer noch vor mir, in ihrer blauen Wanderjacke, die Kapuze über den Kopf gezogen und in ihren Wanderstiefeln, die an ihren dünnen Beinen viel zu klobig aussahen.«

Ich wandte mich halb ab, zog auch das zweite Knie zu mir herauf und umschlang beide fest; ich konnte ihn nicht dabei anschauen, es war schlimm genug, ihm zuzuhören.

»Der Weg musste unterspült gewesen sein. Sie schrie nicht mal, als der Boden unter ihr nachgab und sie die Böschung hinabstürzte.« Er machte eine kleine Pause. »Aber das Geräusch, als sie mit dem Kopf gegen einen Baumstamm prallte, das höre ich immer noch.«

Schaudernd schloss ich die Augen.

»Warst du mal in Muir Woods?«, hörte ich ihn nach einer Weile leise fragen. Ich blinzelte zu ihm herüber und schüttelte den Kopf. »Ist schön da. Lauren war gern dort. Sie mochte die Mammutbäume.« Einer seiner Mundwinkel bog sich aufwärts. »Sie gehörte zu den Menschen, die dauernd Bäume umarmen müssen.« Er umfasste seinen Kaffeebecher und rieb mit dem Daumen über den Rand. »Danach war ich noch oft dort. Ich wollte verstehen, wie es passiert ist. Warum die anderen drei heil über diese Stelle kamen und Lauren nicht. Und ich glaubte, ich könnte ihr dort am nächsten sein, wo sie gestorben ist.« In einer schwachen Bewegung hob er die Schultern. »Aber da war nichts von Lauren zu spüren. Nichts außer meinen Erinnerungen an jenen Tag. – Kennst du Hitchcocks Vertigo

Dunkel erinnerte ich mich an einen uralten Film in grellem Technicolor, an eine wilde und schwindelerregende Verfolgungsjagd über Hausdächer, an das lange, vergrämte Gesicht von James Stewart und an eine sehr blonde Schauspielerin. »Nicht so wirklich.«

»Spielt hier, in SanFran, und ist auch in der Stadt und in der Umgebung gedreht. Darin geht es um Tod, Trauma und Wiedergeburt. Ich mochte immer dieses Spiel von Schein und Sein.« In seinem Gesicht zuckte es, und leiser fügte er hinzu: »Heute sehe ich diesen Film mit ganz anderen Augen. Jedenfalls …« Mit einem Räuspern rutschte er auf dem Stuhl herum. »Jedenfalls gibt es darin auch eine Szene in Muir Woods. An dieser Scheibe eines alten Mammutbaums, auf dessen Jahresringen bedeutende Daten wie die Ankunft von Kolumbus, die Unabhängigkeitserklärung und der Goldrausch in Kalifornien eingetragen sind. Und Kim Novak zeigt im Film Jimmy Stewart, wo auf den Jahresringen sie geboren und wo sie gestorben ist, in ihrem früheren Leben.« Ein wackeliges Lächeln umspielte seinen Mund. »Schon unheimlich, dass Lauren und ich früher manchmal diese Szene nachgespielt haben. Sie war echt gut als Kim Novak.« Er atmete tief durch, löste seine Hand vom Kaffeebecher und begann stattdessen seine Worte zu unterstreichen, indem er mit der Handkante Markierungen auf der Tischplatte andeutete. »Genauso geht es mir. Mein Leben ist in zwei Hälften zerfallen. In ein Leben, bevor Lauren starb, ein richtiges Leben, und in den kümmerlichen Rest danach. Wie bei einem Jahresring markiert dieser eine Tag in Muir Woods die Grenze dazwischen. Seither fühle ich mich auch nur noch halb. Als … als ob ein Teil von mir mit ihr gestorben wäre an jenem Tag. – Oh Mann, entschuldige. Ich wollte nicht meinen ganzen Seelenmüll bei dir abladen!« Er stützte den Ellenbogen auf und legte seinen kurz geschorenen Schädel in die Handfläche, rubbelte sich kräftig darüber, bevor er mit einem Aufschnaufen wieder den Kopf hob und mich zerknirscht ansah. »Tut mir echt leid.«

Ich schüttelte den Kopf und griff zu meinem Kaffeebecher. »Muss es dir nicht. Ist schon okay.«

Er warf mir ein erleichtertes Lächeln über den Tisch zu. »Ist total verrückt, ich kenn dich nicht mal richtig – und trotzdem hab ich das Gefühl, du verstehst mich irgendwie. Meine Mom und mein Dad sind echt klasse, aber wenn ich versuche, mit ihnen darüber zu reden, kommen sie mir mit Gottes Plan, mit Glaube und Vergebung, und das hilft mir einfach nicht weiter. Und obwohl jeder Shrink versucht hat, es mir auszureden, krieg ich einfach diese Fragen nicht aus meinem Hirn. Warum ich unbedingt wollte, dass sie vor mir über diesen Pfad marschiert. Warum ich nicht vorausgegangen bin. Warum ausgerechnet unter ihr der Boden wegbrach, wo sie doch nur so ein Fliegengewicht war. Ob mir viel weniger passiert wäre, wenn ich an ihrer Stelle dort abgestürzt wäre. Weil ich anders gefallen wäre, durch mein Gewicht, durch den Sport. Weil ich kräftigere Knochen hab, einen härteren Schädel.« Er schnaufte noch einmal auf. »Und den anderen Jungs brauch ich damit gar nicht erst zu kommen. Heeyyy, Shane«, unter Grimassen und mit einer schlenkernden Handbewegung ahmte er einen besonders lässigen Typen nach, »das Leben geht weiter! Schau nach vorn oder lenk dich wenigstens ab, Gelegenheit dafür hast du ja genug!« Kopfschüttelnd setzte er hinzu: »Und dass ich seither Geister sehe, macht’s natürlich nicht besser. Als ob … als ob …«

»Als ob du hinter einer Glaswand sitzt?«, warf ich leise ein.

Shane sah mich an und seine Miene entspannte sich. »Du weißt, wie das ist.«

Ich nickte, und wir lächelten uns an, bevor wir langsam unseren lauwarmen Kaffee austranken. Schweigend, weil es nichts mehr zu sagen gab. Weil dieses Gefühl zwischen uns keine Worte brauchte. Das Gefühl, mit unserer Seele, in der ein Loch klaffte, nicht allein zu sein.