Polarisierung

Menschen sind sich oft nicht einig. Der eine ist dafür, der andere dagegen. Im guten Fall kann der eine sehen und einräumen, dass sein Standpunkt auch Nachteile enthält und der Standpunkt des anderen durchaus auch Vorteile – und umgekehrt. Hier bestehen günstige Aussichten auf einen guten  Dialog, denn die Standpunkte sind zwar verschieden, haben sich aber nicht polarisiert. Von einer Polarisierung sprechen wir, wenn die Standpunkte auseinanderdriften bis hin zur völligen Unvereinbarkeit; wenn A in seinem Standpunkt nur noch die Vorteile sieht und glaubt, die Vernunft ganz auf seiner Seite zu haben, während ihm der Standpunkt des anderen geradezu als Ausgeburt der Unvernunft erscheint – und umgekehrt.

Menschliche Unterschiede tendieren leider zur Polarisierung. Es lohnt sich, diese Dynamik in ihrer seelischen Funktionsweise gut zu verstehen, erst dann kann man, vorbeugend oder heilend, etwas dagegen tun. Auch gegensätzliche Werte oder Bedürfnisse, die eigentlich in einem Ergänzungsverhältnis stehen, werden in der Polarisierung als getrennt und miteinander unvereinbar wahrgenommen.

Beispiel: Nähe und Distanz sind zwei sich ergänzende Bedürfnisse in der Partnerschaft. Idealerweise spüren und leben beide Partner ihre Nähe- bzw. Distanzbedürfnisse und respektieren sich hierin gegenseitig. Kommt es zwischen ihnen jedoch zu einer Polarisierung, übernimmt der eine Partner die «Näheposition» und der andere die «Distanzposition». Mit dieser fixierenden Aufteilung geht das ursprünglich dynamische Wechselspiel der beiden Pole verloren. Nähe und Distanz werden nicht mehr als sich ergänzende, sondern sich widersprechende Positionen wahrgenommen (s. Abb. 51).

Abb. 51:

Polarisierung von Nähe und Distanz

Ist mit der Polarisierung zusätzlich eine Abwertung der anderen Position verbunden, zeigt sich diese oft in wechselseitigen Vorwürfen («Du klammerst!» bzw. «Du bist ein notorischer Einzelgänger!»).

Die Polarisierung ist ursächlich für die «Vorwurfsrichtung» bzw. die Über-Kreuz-Kommunikation im  Werte- und Entwicklungsquadrat und wird gleichzeitig durch sie weiter verfestigt. Hier erkennen wir sehr schön und auf einen Blick, wie jeder der beiden sich in der Wertezone verortet und den anderen mit seinem Verhalten im «Keller» sieht, wo sich die Werte durch Übertreibung in Unwerte verwandelt haben, und ihn dafür anprangert (s. Abb. 52).

Abb. 52:

Über-Kreuz-Kommunikation mit «Vorwurfsspießen»

Neben der zwischenmenschlichen Polarisierung gibt es auch eine innermenschliche Polarisierung: eine Person spürt zwei oder mehrere innere Antriebkräfte in sich, die miteinander unvereinbar scheinen. Eskaliert die Polarisierung dieser inneren Anteile, kommt es zu einer seelischen «Pattsituation» ( Inneres Team) oder zu alternierenden Extremverwirklichungen (z.B. Hineinschlingen und Erbrechen).

Die Depolarisierung, also die Aufhebung der Polarisierung, wird mit Hilfe geeigneter  Interventionen angestrebt, z.B. eines Konfliktdialoges, der die Versöhnung der Gegensätze zu erreichen versucht. Ziel der Depolarisierung ist die  Integration der beiden Werte zu ihrem ursprünglich positiven Ergänzungsverhältnis (siehe Abb.)

Literatur

Schulz von Thun, F.: Miteinander reden – Fragen und Antworten, S. 153f.

Miteinander reden von A bis Z
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