Systemische Psychologie
Der Grundgedanke der Systemischen Psychologie ist: Wie ein Mensch sich verhält, wie er fühlt und welche Störungen (Symptome) er produziert, das hängt nicht so sehr von seiner «Seele», seiner individuellen Persönlichkeit und seiner Geschichte ab, sondern vor allem von dem «Schachbrett», auf dem er sich gegenwärtig befindet, zusammen mit anderen Beziehungspartnern, mit denen er in Wechselwirkung tritt.
Mit dieser Fokussierung auf Kontext und Beziehungen grenzt sich die Systemische Psychologie von jeder Individualpsychologie ab, die den inneren Menschen zum Gegenstand der Betrachtung und Behandlung macht. Angenommen, ein Kind entwickelt ein Symptom, zum Beispiel es nässt im Bett ein. Ein Individualpsychologe würde schauen: Was ist los mit dem Kind? Wie kann man es heilen? Für den Systemischen Psychologen wäre das Kind nur der «Symptomträger», vergleichbar mit dem, der auf einem in Seenot geratenen Schiff die Leuchtmunition hochschießt. Eine adäquate Rettungsmaßnahme würde sich nicht auf diesen Schützen richten, sondern auf das Schiff. Im Falle eines einnässenden Kindes wäre das Schiff vermutlich die Familie bzw. alle, die zum → «System» gehören, zum beziehungswirksamen Umfeld des Kindes. Welchen Beitrag «leistet» das Kind mit seinem Symptom zur (vermeintlichen) Erhaltung des Systems?
Aus diesem Ansatz ging in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Familientherapie hervor (zum Beispiel Selvini Palazzoli). Insbesondere Paul Watzlawick war es, der die Systemische Psychologie auch für die Kommunikationslehre nutzbar gemacht hat. So hat er z.B. auf die «Kreisförmigkeit» (Zirkularität) kommunikativer Abläufe hingewiesen (→ Teufelskreis, → Interpunktion). Folgenreich war auch seine Unterscheidung von der «Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung». Die Wirklichkeit erster Ordnung bezieht sich auf das unbestreitbare Faktische: Entweder befinden sich die Augentropfen im Kühlschrank oder nicht – das kann man nicht «so oder so sehen». Vieles jedoch, was zwischen Menschen passiert und worüber sie kommunizieren, gehört der Wirklichkeit zweiter Ordnung an: Hier hat jeder seine Sichtweise, hier konstruiert jeder seine Welt. Systemische Psychologen sind mehr oder weniger radikale Konstruktivisten und leiten ihre Klienten gerne dazu an, neue Sichtweisen auf ihre Wirklichkeit zu entwickeln. Nicht, weil diese «richtiger und zutreffender» wären, sondern weil sie möglicherweise weniger leiderzeugend sind. Gelingt es ihnen erst einmal, ein leiderzeugendes System zu «verstören», ist das vielleicht schon die Heilung.
Die Kommunikationspsychologie nach Schulz von Thun macht sowohl Anleihen bei der Systemischen Psychologie als auch bei der Individualpsychologie. Im Kommunikationsideal der → Stimmigkeit ist die Herausforderung enthalten, Selbstbewusstsein und Systembewusstsein miteinander zu verbinden. Der Mensch ist ebenso Teil eines Ganzen wie selbst ein Ganzer, beide Perspektiven ergänzen sich (Beratung mit doppelter Blickrichtung, → Beratung). Das innere Wachstum des Individuums steht dabei sehr im Zentrum, wobei kurioserweise diese Persönlichkeitsentwicklung als «innere Teamentwicklung» begriffen (→ Inneres Team), also «systemisch» konzipiert wird. In der treffenden Formulierung von Helm Stierlin: der Mensch im System und das System im Menschen!
Ganz im Einklang mit dieser Sichtweise haben Systemische Psychologen/Familientherapeuten den «inneren Menschen» wiederentdeckt und zurückerobert. So spricht Schwartz (1997) von der «inneren Familie», und Wittemann (2000) prägte den Begriff «Individualsystemik».
Literatur
Stierlin, H.: Ich und die anderen.
Schwartz, R. C.: Systemische Therapie mit der inneren Familie.
Watzlawick, P./Beaven, J.: Menschliche Kommunikation.
Wittemann, A.: Die Intelligenz der Psyche.