Interkulturelle Kommunikation
Die Kommunikation zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten findet vor dem Hintergrund der jeweiligen kulturellen Gepflogenheiten und Konventionen statt. Diese werden dabei vom Kulturangehörigen nicht als kulturspezifisch empfunden – sie sind im Gegenteil so verinnerlicht, dass er sie als «richtig» und «normal» empfindet. Damit einher geht oft die implizite und unbewusste Annahme, überall auf der Welt müsse ein ähnlicher Code herrschen.
Solange wir mit Menschen kommunizieren, die den eigenen kulturellen Code teilen bzw. um diesen wissen und sich deshalb entsprechend verhalten, können wir uns auf einen gewissen Stil des Umgangs verlassen. Beispiel: Ich frage in Hamburg einen Fußgänger nach dem Weg zum nächsten Bahnhof. Dann kann ich davon ausgehen, dass er mir entweder den Weg erklärt oder aber antwortet, dass auch er den Weg nicht weiß. Die kulturellen Regeln, die bei der Reaktion des anderen ins Spiel kommen, könnten beispielsweise lauten:
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Antworte, wenn dich jemand etwas fragt!
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Zeige dich hilfsbereit!
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Wenn du den Weg nicht weißt, dann sage das! Wenn du den Weg kennst, dann erkläre ihn!
Entsprechend bin ich gewöhnt, nur «richtige» Informationen zu bekommen; in diesem Fall bedeutet das für mich: Was mir der andere sagt, wird stimmen – so oder so. Ich lege also zugrunde, dass der andere mir (sachlich betrachtet) die Wahrheit sagen wird. Wenn ich dagegen durch Bangkok gehe und einen Fußgänger nach dem Weg frage, kann das damit enden, dass ich orientierungslos durch die halbe Stadt laufe. Warum? Zu den kulturellen Regeln in Thailand gehört, dem Fragenden und Hilfesuchenden in jedem Fall eine Antwort zu geben, auch wenn diese ihn nicht an das gewünschte Ziel führt und nach seinem Verständnis sogar «falsch» ist. Die kulturellen Regeln, die hier zur Anwendung kommen, könnten lauten:
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Antworte, wenn dich jemand etwas fragt!
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Zeige dich hilfsbereit!
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Erkläre auf jeden Fall einen Weg; wahre dein Gesicht und das des Gegenübers!
In beiden Fällen greift also die Regel, einen Fragenden zu unterstützen und ihm zu antworten. In beiden Fällen haben die Personen «wahr» geantwortet – jedoch auf der Basis eines ganz unterschiedlichen Grundverständnisses der Situation. Während es für mich als Deutsche in Hamburg in allererster Linie um die Wegbeschreibung geht, könnte es dem Thai in Bangkok in erster Linie um das Wahren der persönlichen Ehre und der guten Beziehung gegangen sein. Das Situationsverständnis lautet hier: Es ist unhöflich, einen Fragenden ohne Empfehlung gehen zu lassen.
Das Maß der kulturellen Gemeinsamkeit, der Kommunalität, auf das wir in der Kommunikation bauen dürfen, ist umso höher, je enger das soziale Netz gestrickt ist, in dem wir uns bewegen. Wenn ich im Hausflur unseres Mehrparteienhauses meine Nachbarn treffe, grüßen wir uns kurz und haben damit der Form Genüge getan. Wenn sich daraus ein Schwätzchen ergibt, ist das schön, es gibt aber diesbezüglich keine Erwartungshaltung. Ganz anders stellt es sich dar, wenn ich in meinem Wochenendhäuschen auf dem Lande bin. Dort gilt die Regel: Wenn Nachbarn sich auf der Straße treffen, halten sie einen kurzen «Schnack» über Neuigkeiten. Wer die kulturellen Normen des Dorfes nicht teilt (und dazu gehören auch soziale Aktivitäten wie der Besuch des Schützenfestes), muss damit rechnen, als Sonderling angesehen und vielleicht sogar ausgegrenzt zu werden. Es kann also auch zwischen Menschen einer Nationalität zu folgenreichen kulturellen Zusammenstößen kommen.
Wenn ich lernen möchte, mit kulturell bedingten Irritationen und Störungen besser umzugehen, kann die Auseinandersetzung mit so genannten «kulturellen Dimensionen» hilfreicher sein als die mühsame Analyse von Einzelfällen. Eine zentrale kulturelle Dimension ist das Spannungsfeld zwischen Kollektivismus und Individualismus. Kollektivismus bedeutet, dass ein Angehöriger einer Kultur sich in erster Linie über seine Zugehörigkeit zum größeren Ganzen (zur Nation, Firma, Familie etc.) definiert und sein Handeln auf das Gelingen des übergeordneten Gemeinschaftsziels ausrichtet. Der Individualismus hingegen betont stark die persönliche Entfaltung und Verwirklichung des Einzelnen und sieht dies als Grundrecht an (wenn auch innerhalb bestimmter Grenzen).
Um solche kulturellen Dimensionen näher in den Blick zu nehmen und sie handhabbar zu machen, ist das → Werte- und Entwicklungsquadrat ein hilfreiches Werkzeug. In diesem Modell verkommt jeder Wert (z.B. Kollektivismus) zu einem Unwert, wenn er übertrieben wird. Daher braucht er einen Schwesterwert, mit dem er ausbalanciert werden muss. Erst in der Balance kann sich das Positive entfalten. Aus der Perspektive des Modells gewinnen wir wichtige Erkenntnisse über komplementäre kulturelle Werte im Allgemeinen und über Kollektivismus und Individualismus im Besonderen:
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Die beiden Werte sind keine Gegensätze, sondern sie ergänzen sich in fruchtbarer Weise.
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Jeder Wert ist ohne den anderen in Gefahr, in die Übertreibung abzurutschen. Reiner Kollektivismus führt zur Auslieferung des Einzelnen: «Du bist nichts, dein Volk ist alles!» Umgekehrt führt eine Überbetonung des Individualismus in den verantwortungslosen Egozentrismus (s. Abb. 34).
Abb. 34:Kommunikation im Spannungsfeld zwischen «Ich» und «Wir»
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Zu interkulturellen Befremdungen kann es kommen, wenn man sich im Wertehimmel der eigenen Kultur sonnt («Bei uns zählt der Einzelne noch etwas, und jeder kann seines eigenen Glückes Schmied sein!») und den anderen in «der Finsternis der Übertreibung» verortet («Bei denen ist der Einzelne austauschbar und wird in unmenschlicher Weise eingemeindet!»).
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Entsprechend liefert uns das Modell aber auch die «Würdigungs- und Entdeckungsrichtung» für das, was eine wertvolle Ergänzung in der eigenen Kultur sein könnte. So würde uns als eher individuumsorientierter Kultur ein wenig mehr Gemeinschaftsorientierung sicherlich gut tun.
Das Werte- und Entwicklungsquadrat kann uns dabei unterstützen zu erkennen, dass kulturelle Unterschiede nicht grundsätzlich, sondern graduell bestehen. Für die Vertiefung und Differenzierung dieser Erkenntnis hilft uns das Modell vom → Inneren Team ebenso wie das → Kommunikationsquadrat und das Modell vom → Teufelskreis.
Literatur
Kumbier, D./Schulz von Thun, F. (Hg.): Interkulturelle Kommunikation.