A
Abgrenzung
Zur Kontaktfähigkeit des Menschen gehört sowohl → Empathie (sich in den anderen hineindenken und hineinfühlen) als auch Abgrenzung (nicht mit ihm verschmelzen, sondern grenzziehend zwischen ihm und sich selbst zu unterscheiden, den «Eigenton» zu bewahren und nicht von der Melodie des anderen übertönt zu werden). Beispiel: Stefanie arbeitet als Pflegerin im Krankenhaus. Ihre anteilnehmende Art ist bei den Patienten sehr beliebt. So wird sie immer wieder ins Vertrauen gezogen und erfährt zum Teil von schicksalhaften Erfahrungen und Ereignissen. Fehlte es ihr an Abgrenzungsfähigkeit, könnte ihr das geschilderte Elend so unter die Haut gehen, dass sie die Gedanken daran und die damit verbundenen Gefühle kaum wieder los wird und sich eventuell sogar allein dafür verantwortlich fühlt, den Betroffenen Linderung zu verschaffen. Dann geriete sie in einen emotionalen Sog, der die Grenze zwischen «Ich» und «Du» zum Verschwimmen bringt. Dieser Zustand wird auch als Konfluenz bezeichnet. Neben der Fähigkeit zur Anteilnahme und zum Mitgefühl braucht es daher auch die Fähigkeit sich abzugrenzen (s. Abb. 1).
Abgrenzung im Wertequadrat
Aus diesem Grund benötigt man im → Inneren Team außer den mitfühlenden und anteilnehmenden Mitgliedern auch jemanden, der deutlich macht: «Dies ist (zwar tragisch, aber) sein Schicksal, nicht meins!», jemanden, der auch auf die eigenen Bedürftigkeiten und Sorgen guckt: «Jetzt geht es mal wieder um mich!», und jemanden, der je nach Kontext auch distanziert bzw. fachlich-professionell auftritt: «Ich bin für die Niere zuständig, nicht für die Lebensgeschichte.»
Schulz von Thun unterscheidet zwischen äußerer und innerer Abgrenzung. Wer auf die geäußerte Not eines anderen mit dem Satz reagiert: «Das ist dein Problem!», der ist nach außen (in seinen → Äußerungen) gut abgegrenzt. Aber ist er auch innerlich abgegrenzt? Vielleicht spürt er, wie stark er dazu neigt, sich von dem geschilderten Problem bekümmern zu lassen oder die Schuld bei sich zu suchen, und versucht mit seiner brüsken Reaktion diesen Impuls in sich selbst zu bekämpfen. Wäre er innerlich gut abgegrenzt, müsste er nicht so brüsk abweisend reagieren und könnte einfühlend teilhaben an der Not des Gegenübers, ohne davon über Gebühr innerlich erfasst zu werden und ohne sich selbst unter Druck zu setzen, für Lösung und Abhilfe zuständig zu sein. Fehlende innere Abgrenzung wird also häufig durch äußere Abwehr ersetzt. Wer aufgrund von fehlender Abgrenzung zu stark in Mitleidenschaft gezogen wird (häufig in helfenden Berufen) und deshalb versucht, sich zu schützen, der landet manchmal in der Überkompensation (→ Werte- und Entwicklungsquadrat), in einer abgestumpften Gleichgültigkeit.
Ein anderer Aspekt betrifft die Abgrenzung gegenüber Vorwürfen und Kritik. Hier kommt es darauf an, nicht nur mit dem Beziehungs-Ohr (→ Beziehung, → Vier Ohren) darauf zu hören, welche vermeintliche Kritik oder Konfrontation in einer Äußerung stecken könnte, sondern auch mit dem Selbstkundgabe-Ohr (→ Selbstkundgabe, → Vier Ohren) mitzubekommen, was der andere über sich selbst mitteilt. Beispiel: Hans kommt von der Arbeit nach Hause und betritt die Küche mit den Worten: «Wie sieht es denn hier aus!?» Hört seine Frau Hannah dies nur mit dem Beziehungs-Ohr («Du bist für das Aufräumen der Küche zuständig!» und «Du bist säumig!»), dann setzt sie sich sofort selbst auf die Anklagebank. Mehr Abgrenzung gelingt ihr mit dem Selbstkundgabe-Ohr, wenn sie beispielsweise auch hören kann: «Ich hatte einen so schlechten Tag, dass mich alles auf die Palme bringt, das nicht perfekt ist» (s. Abb. 2).
Das Beziehungs- und Selbstkundgabe-Ohr im Wertequadrat
Auch das Hören mit dem Selbstkundgabe-Ohr darf natürlich nicht übertrieben werden, da sonst die Gefahr besteht, immun gegen kritisches → Feedback zu werden und sich jeglicher Betroffenheit und Verantwortung zu entziehen. Hält man es jedoch in dynamischer Balance (→ Werte- und Entwicklungsquadrat) zum Beziehungs-Ohr, so kann es in Konflikten eine gute Möglichkeit zur Abgrenzung darstellen und den → Teufelskreis einer reflexartig aufflammenden Empfindlichkeit und Kränkbarkeit unterbrechen.
Literatur
Miteinander reden 2, 104ff., 266ff. (S. 89ff., 223ff.)