Narzissmus
«Hochmut kommt vor dem Fall», weiß der Volksmund. Bei einem Menschen mit narzisstischer Störung ist beides zugleich vorhanden, ein ständiges seelisches Hoch-Tief: das erhebende Selbstgefühl der Grandiosität und der nagende Selbstzweifel mit dem Generalverdacht, nichts wert zu sein (→ Minderwertigkeitsgefühl).
Es gibt wohl keinen Menschen, für den die Selbstwertfrage (Wie gut bin ich, wie komme ich an?) ohne Bedeutung wäre. Den «Narzissten» jedoch treibt diese Sorge übermäßig um. Dies hat charakteristische Folgen für seine Kommunikation und die Art, mit anderen Menschen umzugehen. Typisch ist ein Mangel an Sachlichkeit (er nimmt alles sehr persönlich) und an → Empathie (Einfühlung in andere Menschen), eine hohe Empfindlichkeit und Kränkbarkeit (→ Kränkung, empfindliches Beziehungsohr → Vier Ohren), ein Imponier- und Machtgehabe (→ Selbstkundgabe) sowie eine Tendenz, den anderen herabzusetzen und klein zu machen (um sich durch den Kontrast des eigenen Selbstwertes zu vergewissern). Ein begabter Narzisst kann aber auch eine positive Leuchtkraft und eine «gewinnende» Liebenswürdigkeit entfalten, sodass die Reaktionen der Mitwelt zwischen Bewunderung, Faszination, Belustigung, Empörung, Genervtheit und Angst vielfältig schwanken können.
Der gute Umgang mit einem «narzisstischen» Partner oder Vorgesetzten stellt eine kommunikative Herausforderung dar. Groß ist die Gefahr, sich infolge eigener starker Gegengefühle in einen zwischenmenschlichen → Teufelskreis zu verstricken und in Angst, Lähmung, Feindseligkeit oder in unkritische Idealisierung zu verfallen – oder in alles gleichzeitig. Anerkennung und Konfrontation, Empathie und Humor wären die vier wichtigsten Wegweiser, aber für ein gedeihliches Miteinander steht ein langer Weg bevor.
Eine narzisstische Störung hat wahrscheinlich frühe Wurzeln: Das kleine Kind musste eine liebende Spiegelung seines wahren Selbst entbehren und verfiel auf die Notlösung, ein gewinnendes/schützendes Selbst anstelle des «wahren» Selbst» aufzubauen und sich damit zu identifizieren. Neben dieser Individualgenese müssen aber auch Merkmale und Auswüchse unserer Gesellschaft beachtet werden. In einer «Casting-Gesellschaft» wird ständig der Scheinwerfer auf das Individuum und seine Qualitäten gerichtet. So wird sie zu einer Brutstätte des Narzissmus: Selbstmarketing und Selbstinszenierung werden zu Schlüsselqualifikationen, sich selbst gut «zu verkaufen» wird zum menschlichen Ideal. Top oder Flop!?
Literatur
Miteinander reden 2, S. 181ff. (S. 153ff.)
Winkler, M./Commichau, A.: Reden, S. 13ff.