Gruppendynamik
Sobald Menschen in → Gruppen zusammenkommen und dort miteinander interagieren, werden Kräfte frei: Sympathie und Antipathie, Solidarität und Rivalität, Vereinzelung und Cliquenbildung, Vertrauen und Fremdeln. Und über kurz oder lang entstehen fast unweigerlich Konflikte. Wie viel persönliche Themen haben Platz in einem Kommunikationsseminar, in dem es um professionelle Gesprächsführung geht? Wie viel Raum darf der Einzelne sich in der Gruppe nehmen? Gruppendynamik findet statt, sobald Menschen aufeinandertreffen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen (müssen). Das gilt für die erste Zusammenkunft der Teilnehmer eines Volkshochschulkurses ebenso wie für ein Lehrerkollegium, das seit 15 Jahren zusammenarbeitet. Sich wiederholende Phasen der Auseinandersetzung, Einigung und Kooperation sind nötig, damit sich eine Gruppe weiterentwickeln kann.
Von B. W. Tuckman (1965) stammt die Differenzierung von Gruppenprozessen in die vier Phasen Forming (Findungsphase), Storming (Konfrontationsphase), Norming (Vereinbarungsphase) und Performing (Kooperationsphase). Die vier Phasen gehen nicht stufenförmig, sondern fließend ineinander über, und sie werden meist nur in dem Umfang durchlaufen, der zum aktuellen Zeitpunkt gerade notwendig ist. So streitet man sich in einer konstruktiven Stormingphase nicht um alle denkbaren strittigen Punkte, sondern nur um die gerade vordringlichen. Diese Strukturierung ist ein Versuch, das komplexe Gruppengeschehen zu verstehen – darüber hinaus kann sie Führungs- und Leitungskräften dabei helfen, Gruppen in ihrer Entwicklung zu unterstützen (s. Abb. 27).

Wiederkehrende Phasen des Gruppen-/Teamprozesses (nach Tuckman, erweitert von Stahl)
Jede der Phasen beinhaltet im Kleinen alle Phasen in ihrer Gesamtheit.
Forming: Das Thema dieser Phase ist «Kontaktaufnahme». Die Teilnehmer einer mehrteiligen Seminarreihe lernen sich im ersten Kurs in der Vorstellungsrunde kennen. Konventionen bestimmen den Umgang miteinander, man siezt sich und macht Smalltalk. In den Pausengesprächen werden Gemeinsamkeiten gesucht («Urlaub in Andalusien wollen Sie machen? Ja, da war ich auch schon mal, wunderschöne Gegend!»). Konflikte werden in dieser Phase eher vermieden, zu groß ist die Gefahr, gleich als Unruhestifter dazustehen. Es geht darum, eine erste Orientierung darüber zu bekommen, wie man sich in dieser Gruppe (besser nicht) verhält, was man tun und was man vielleicht lieber lassen sollte.
Storming: Hier stehen die Unterschiedlichkeit der Beteiligten und die daraus resultierenden Konflikte im Vordergrund. Die Anfangsunsicherheit legt sich mehr und mehr, die Unterschiede der Gruppenmitglieder treten dadurch stärker in den Vordergrund. Einige Teilnehmer verfügen über mehr Berufserfahrung, haben vielleicht in der Vergangenheit bereits ein thematisch ähnliches Seminar besucht, während andere mühsam mit dem Transfer der Seminarinhalte auf ihren beruflichen Kontext beschäftigt sind. Die Gruppenmitglieder geraten mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen über das Was (Ziele der Gruppe) und Wie (Verfolgung der Ziele) aneinander. Die Ersten meinen «Man profitiert doch von der Unterschiedlichkeit der Erfahrung», die Zweiten finden, «Profilneurotiker sollten sich woanders ausleben», und die Dritten sind der Auffassung: «Das Tempo muss an die Langsamsten angepasst werden!»
Norming: In dieser Phase geht es um Regelungen und Vereinbarungen. Das Norming bildet das Fazit des Storming, die Konsequenzen aus der Konfrontation werden gezogen. Die Gruppe erarbeitet sich eine Antwort auf die Frage, wie sie angesichts der deutlich gewordenen Unterschiede miteinander arbeiten will: Wie kann den verschiedenen Teilnehmerbedürfnissen Rechnung getragen werden? Was können die Einzelnen, was kann die Leitung und was kann die Gruppe dazu beitragen? Ergebnis eines Normings könnte sein, die Seminargruppe in Kleingruppenarbeitsphasen bewusst unter dem Aspekt Homogenität versus Heterogenität aufzuteilen, also Teilnehmer mit ähnlichen Berufsfeldern oder vergleichbaren Kenntnisständen zusammenzubringen.
Performing: Das Thema dieser Phase ist Kooperation. Die im Norming erarbeiteten Vereinbarungen und Regeln werden im Performing einer Realitätsprüfung unterzogen. Im Idealfall erlebt die Gruppe ihre gemeinsame Nützlichkeit (Synergieeffekt), das Miteinander-Arbeiten ist produktiv und wird vom Engagement jedes Einzelnen getragen. Die Teilnehmer können erkennen und anerkennen, dass sowohl in der Perspektive der Erfahreneren als auch der jungen «Hasen» Wertvolles für die Gruppe und das Thema steckt. Die Gruppe «performt» so lange, bis eine Überarbeitung der getroffenen Vereinbarungen nötig wird, weil diese nicht mehr zur Gruppe passen.
E. Stahl hat die vier Phasen von Tuckman um die Phase des Re-Forming ergänzt.
Re-Forming: Diese Phase steht im Zeichen der Bilanzierung, des Innehaltens und Überprüfens, der Neuausrichtung und Standortbestimmung. Stimmt das Vorgehen noch? Jedes neue Zusammentreffen der Teilnehmer in der Gruppe am Morgen eines Seminartages ist ein kleines Re-Forming. Zwischen den Seminaren zieht jeder für sich Bilanz, ob Kosten und Nutzen in einem guten Verhältnis stehen und ob die Teilnahme sich für ihn lohnt. Mit diesen inneren Bilanzen treffen die Teilnehmer im nächsten Seminar aufeinander, einer weiteren Re-Forming-Situation.
Literatur
Stahl, E.: Dynamik in Gruppen.
Tuckman, B. W. (1965): Developmental sequences in small groups. Psychological Bulletin, 63, S. 384–399.