Empfangsvorgang
Wie eine → Äußerung beim Empfänger ankommt, hängt nicht nur davon ab, wie sie formuliert ist, sondern auch davon, mit welchem Ohr (→ Vier Ohren) der Empfänger sie hört, was er überhört und was er in sie hineinlegt. Die ankommende Äußerung mit all ihren → Botschaften ist auch und nicht zuletzt ein Ergebnis des Empfangsvorgangs. Was läuft beim Empfänger ab, bevor er reagiert und damit seinerseits zum Sender wird? Wir unterscheiden drei Schritte (s. Abb. 20):
Empfangsvorgang
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Wahrnehmung: Die Äußerung des Senders trifft als akustisches und optisches Signal auf das Ohr des Empfängers und wird als Sprache entschlüsselt. Heinz sagt zu Karla: «Du hast die Haustür nicht abgeschlossen.»
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Interpretation: Die Äußerung bleibt keine bloße Lautkombination, sie wird vom Empfänger mit einer Bedeutung ausgestattet. Sie hatte bereits eine Bedeutung, als sie «auf die Reise geschickt» wurde. Aber der Sender konnte seine Botschaften nicht direkt vermitteln, sondern musste sie in Signale (verbale und nonverbale Zeichen) übersetzen. Damit seine Botschaften ankommen können, ist er darauf angewiesen, dass der Empfänger diese Signale zu entschlüsseln weiß. Dadurch gewinnt die Äußerung wieder eine Bedeutung. Diese kann jedoch anders sein als die Ursprungsbedeutung, weil der Empfänger mit seinen Ohren und mit seinen Deutungsmustern interpretiert. Hören und Interpretieren fallen zusammen. Vielleicht hört (= interpretiert) Karla: «Wie konntest du nur so leichtsinnig sein?!»
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Innere Reaktion: Die Interpretation ist der Auslöser für die innere Reaktion, z.B. Gefühle. Je nach Interpretation wird das Gefühl variieren. Da Karla Heinz’ Äußerung so interpretiert, dass er sie für leichtsinnig hält, könnte sich bei ihr ein Gefühl von Ärger, Empörung oder Schuldbewusstsein einstellen. Innere Reaktionen können auch Phantasien und Gedanken sein, die der Empfänger sich über den Sender macht (z.B. «Wahrscheinlich hatte Heinz wieder einen schlechten Tag in der Firma.»). Phantasien lassen sich in diesem Zusammenhang als Vermutungen des Empfängers über Gedanken und Gefühle des Senders verstehen, die nicht auf erkennbares Verhalten des Senders zurückzuführen sind.
Diese Mischung aus Wahrnehmung, Interpretation und innerer Reaktion beeinflusst die Antwort des Empfängers. Karla könnte entsprechend sagen: «Bist du jetzt mein Kindermädchen oder was!?»
Die Antwort des Empfängers beruht immer auf dem Empfangsresultat. Dies kann, muss aber nicht deckungsgleich sein mit dem, was der Sender ausdrücken wollte (→ Botschaft). Somit hat auch der Empfänger Einfluss auf das kommunikative Geschehen und trägt Verantwortung dafür. Sich dessen bewusst zu werden, ist der erste Schritt, um die Annahmen zu überprüfen, die in der eigenen Interpretation stecken. Zum Beispiel könnte Karla fragen: «Ist das ein Vorwurf?» und Heinz würde vielleicht sagen: «Nein gar nicht – nur, dass du daran denkst, sie noch abzuschließen!»
Wie wir das Wahrgenommene interpretieren und welche Gefühle diese Interpretation auslöst, hat mit unserer seelischen Tagesform, unserer Beziehung zum Sender, unserer ganzen Persönlichkeit zu tun. Durch unsere Lebensgeschichte und unsere Beziehungserfahrungen sind wir für manche Interpretationen offener als für andere. Wenn ich aus Sätzen wie «Du siehst aber müde aus!» oder «Dir würde ein Urlaub mal gut tun!» stets nur eine Kritik an meinem Äußeren heraushöre statt beispielsweise die Sorge des Senders um mein Wohl, liegt der Verdacht nahe, dass ich mich schnell bewertet fühle. Solche einseitigen Empfangsgewohnheiten können die Kommunikation erschweren, da eine andere Interpretation als die eigene gar nicht möglich scheint.
Literatur
Miteinander reden 1, S. 80ff. (S. 72ff.)