Kapitel 103
Unweit von Bogotá,
Kolumbien
19. April 2011
Es war Nacht, als Nathan wieder aufwachte. Lucia saß im Sessel und starrte ihn mit einem leeren Blick in den Augen an. Die Müdigkeit hatte sich in ihre Wangen geätzt. Sie hatte einen Laptop auf den Knien. Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie ihn aufwachen sah.
»Wie geht’s dir denn?«
»Bescheiden«, sagte Nathan. »Aber offensichtlich lebe ich noch.«
»Du hast 36 Stunden geschlafen. Die Ärzte sagen, dein Zustand sei stabil. Und keine Spur von dieser Ochronose. Aber du brauchst viel Ruhe.«
Nathan gab sich alle Mühe, sich aufzusetzen. Jede einzelne Faser in seinem Körper tat weh. Er fasste sich an die Rippen und verzog das Gesicht. Mindestens zwei waren gebrochen. Er sank wieder in die Matratze. Erinnerungen an seinen Kampf mit Amonite stellten sich ein.
»Was ist passiert?«, fragte er.
Lucia zog ihren Sessel näher ans Bett. Sie hatte blaue Flecken an der rechten Wange. Am Hals.
»Bist du in Ordnung?«, fragte Nathan und streckte die Hand nach ihr aus.
»Nichts Ernstes. Sie haben mir den Kopf geröntgt, aber es ist noch alles ganz. Die bösen Bullys von der Front haben mich nur vermöbelt.«
Nathan schluckte. Sein Mund war wie ausgetrocknet und sein Kopf schien sich jeden Augenblick spalten zu wollen.
»Gib mir doch etwas Wasser, ja?«
Lucia reichte ihm einen Becher vom Nachttisch.
»Also, wie ist es ausgegangen?«, fragte er.
»Amonite ist tot. Sie hat den Absturz nicht überlebt.«
Nathan nickte. Schon gar wo sie bereits tot war, bevor der Hubschrauber in die Luft flog. Er wusste das, weil er sie getötet hatte. Aber er hatte jetzt nicht die Kraft, darauf einzugehen.
»Und El Patrón? War er wirklich Escobar?«
»Wenn nicht, dann jemand, der ihm sehr nahe stand und sich für ihn ausgegeben hat. Manuels Leute haben den Laptop gehackt, den du im Rucksack hattest. Tonnenweise E-Mails und Dateien. El Patrón war das Gehirn der Front. Er hat sie mit Gewalt von den Häftlingen übernommen, die sie gegründet hatten. Er hat Amonite und Sir George mit an Bord geholt. Er hatte Zugang zu Hunderten von Millionen Dollar auf Bankkonten in der Schweiz und auf den Caymans. Könnte das Geld gewesen sein, das Escobar vor zwanzig Jahren beiseite geschafft hat. Aber vielleicht kam es auch woanders her. Wir wissen es nicht.«
»George musste Escobar gekannt haben, als er hier Anfang der 90er Botschafter war«, sagte Nathan. »Was ist mit der Front?«
»Aufgelöst. Manuels Leute haben ihnen kräftig den Hintern versohlt. Sie haben ein Versteck in der Nähe der Festung gefunden, wo die Front die Hubschrauber und Trucks hinschaffte, die George ihr geliefert hat. Sie waren dabei, eine Armee aufzubauen. Stark genug, um halb Kolumbien zu übernehmen. Die anderen Kartelle hätten keine Chance gehabt.«
»Und du?«
»Ich bin da ganz allein ausgebüxt. Wie ein richtig großes Mädchen.« Sie lächelte, legte eine Hand auf die seine. »Manuel hat mir gesagt, dass du wegen mir noch mal zurück bist. Danke.«
»Die wussten Bescheid.«
»Wer?«
»Na die in der Festung.« Nathan umfasste Lucias Hand und schnitt eine Grimasse, als ihm ein Stich durch das Bein fuhr. »Sie haben uns am Treffpunkt erwartet. Sie haben Manuel erwischt.«
»Einer der Campesinos war ein Spion der Front.«
»Haben sie ihn erwischt.«
Lucia nickte. »Er wurde bestraft.«
Nathan schloss die Augen. Der Alptraum war vorbei.
»Wie geht es weiter«, fragte er.
»Der Präsident ist tot.«
»Wie?«
»Von einem Attentäter erschossen. Bei der Gala. Dann flog der Saal in die Luft. Sir George hat es erwischt, General Zathanaís, das halbe Kabinett und eine Menge anderer.«
»Und der schwarze Koks? Da muss doch noch was da sein.«
»Manuel hat alles vernichten lassen.« Sie wies auf den Laptop. »Du kannst hier alles über die Pläne der Front nachlesen. Hört sich so an, als wollte der Reverend weltweit ins Geschäft einsteigen. Was ist denn eigentlich aus dem geworden?«
Nathan erklärte es ihr. Lucia erschauerte.
»Diese abscheulichen Käfer«, sagte sie. »Hast du die Felder gesehen? Die Front hat dort ihre Abfälle aus der Koksproduktion entsorgt. Tonnenweise hochgiftiger Chemikalien. Die Käfer sind mutiert. Die fressen jetzt alles auf. Wird nicht leicht sein, die wieder loszuwerden.«
»Wo sind wir denn eigentlich?«, fragte Nathan.
»In einem Militärkrankenhaus. Streng geheim.« Sie strich ihm über den Kopf. »Wir sind in Sicherheit.«
Es dauerte Tage, bis Nathan aus dem Bett konnte, um wenigstens an einer Krücke herumzulaufen. Den Ärzten zufolge machte er gute Fortschritte, vor allem sein rechter Arm und das linke Bein. Die Wunde an der Seite bereitete ihnen mehr Sorgen, aber er sei außer Gefahr.
Nathan und Lucia sahen sich die Nachrichten im Fernsehen an. In ganz Kolumbien war es zu Aufständen gekommen; die Menschen hatten die Nase voll von Drogenkriegen und Korruption. Der Interimspräsident hatte den Notstand ausgerufen. Panzer rumpelten durch die Straßen. Von Amerikanern und Briten ausgebildete Söldner gingen auf die Demonstranten los, von der kolumbianischen Polizei mit Panzerfahrzeugen und Wasserwerfern unterstützt.
Hunderte kamen um.
»Was machen wir denn nun?«, fragte Nathan Lucia.
»Ich werde weiterkämpfen. Die ASI ist schließlich noch da. Die Drogengesetze sind noch die alten. Um ehrlich zu sein, ich glaube, Amerikaner und Europäer sind froh, dass der Präsident ermordet wurde. Ist ja gut und schön, wenn sich Ex-Präsidenten gegen den Drogenkrieg aussprechen, aber amtierende? Schon gar in einem Land, das eine so zentrale Rolle im Krieg gegen die Drogen spielt wie Kolumbien.«
»Du meinst, die hatten was damit zu tun?«
»Das bezweifle ich. Ich denke, das waren El Patrón und Sir George im Alleingang. Sie hatten zu viel zu verlieren, wenn Kolumbien Drogen legalisiert. Ihr ganzes Imperium wäre zusammengefallen. Deshalb haben sie im Präsidenten einen Verräter gesehen.«
»Und jetzt?«
»Wir haben eine Schlacht gegen ein Drogenkartell gewonnen, aber der Krieg wird weitergehen, bis das System sich ändert. Oder zusammenbricht.«
Er starrte aus dem Fenster auf die Felder hinaus. Auf der anderen Seite eines Stacheldrahtzauns ernteten Bauern Kaffeebohnen und warfen sie in Körbe unter dem Arm. Wie viel würden sie an diesem Feld wohl verdienen? Wahrscheinlich nichts im Vergleich zu dem, was sich mit Koka verdienen ließ.
Lucia schlang einen Arm um seine Taille und legte ihren Kopf an seine Brust.
»Und du?«, fragte sie. »Was hast du denn so vor?«
»Ich habe nichts, wozu ich zurückkehren könnte: kein Zuhause, keine Familie, keinen Job.«
»Du hast mich.«
Er blickte auf sie hinab. Noch immer sah er das zornige Funkeln in ihren Augen, aber es war auch etwas Neues dabei, etwas, was ihn zutiefst berührte.
Er streichelte ihre Wange.
»Ich habe dich.«