Kapitel 92
Putumayo,
Kolumbien
17. April 2011
Sie schlugen sich weiter durch den Dschungel, bis sie ein Feld voll rissiger brauner Halme erreichten, das sich nach beiden Seiten ausdehnte. Manuel warf Nathan einen wissenden Blick zu. Nathan verdrängte die Erinnerung an den Angriff der schwarzen Käfer einige Wochen zuvor. Eilig durchquerten sie das Feld und tauchten wieder ein in den Wald.
Nathan hob eine Hand.
Das Wummern eines Hubschraubers, nicht allzu fern.
Nathan ging als erster weiter, mit wachen Augen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, rollte die Sohlen dabei von außen nach innen, um jeden Lärm zu vermeiden. Schließlich erspähte er eine Silhouette vor sich. Er hielt eine Hand hoch, wies nach vorne und zeigte Manuel einen Finger.
»Ein Mann voraus«, flüsterte er.
Sie gingen zu Boden. Die Silhouette verschwand.
Sie warteten. Ein großer schwarzer Käfer hastete über Nathans Arm. Er wischte ihn weg und zerdrückte ihn mit dem Gewehrkolben. Manuel neben ihm schnitt eine Grimasse, als er einen schwarzen Käfer abschüttelte, der ihm in die Haare gekrabbelt war. Etwa eine Stunde später kroch Nathan los. Der Baumwuchs wurde spärlicher, bis sie sich plötzlich vor einer Felswand sahen, die sich rechts und links von ihnen ins Endlose zu ziehen schien. Hier und da wuchs ein Strauch aus der rissigen Wand.
Da war es also, das geheime Hauptquartier der Front. Mitten im Dschungel und unter einem Berg versteckt. Praktisch unmöglich, zufällig darauf zu stoßen.
Nathan warf einen Blick nach oben. Fünfzig Meter weiter sah er die Köpfe zweier Männer auf dem Felsen. Zu ihrer Linken sah er einen weiteren Posten mit einem L85A2 in der Hand. Er trug dieselbe Art schwarzen Kampfanzug wie die Killer, die seinerzeit das Dorf zerstört hatten. Der Posten zog an einer Zigarette. Er wirkte gelangweilt. Die Basis war so gut versteckt, dass sie offenbar keinen Angriff erwarteten.
Hinter dem Posten öffnete sich eine Tür in der Wand. Zwei Bewaffnete kamen heraus und verschwanden im Wald.
Nathan und Manuel warteten bis zum Einbruch der Dunkelheit. Schwarze Käfer eilten an ihnen vorbei; sie folgten einer eigenen Straße in den Dschungel. Sie bekamen zwei Wachwechsel mit, ein Posten so gelangweilt wie der andere. Wolken zogen sich über ihnen zusammen, was die Sichtverhältnisse zusätzlich verschlechterte. Sintflutartiger Regen durchnässte sie bis auf die Haut. Der Posten flüchtete sich unter einen Auswuchs und steckte sich die nächste Zigarette an.
Der Zeitpunkt war perfekt. Nathan tippte Manuel auf die Schulter. »Gib mir Deckung«, flüsterte er.
Manuel nickte und richtete sein Gewehr auf den Posten. Nathan kroch los, den Kopf tief im Laubwerk, nutzte er die Windböen, um seinen Angriff zu kaschieren. Alle paar Meter hielt er inne und sondierte seine Umgebung. Der Posten stand mit dem Rücken zu ihm.
Nathan erreichte einen Felsen, der gleich links von dem Posten aus dem Boden wuchs. Er versteckte sich dahinter und nahm das Gewehr von der Schulter. Der Posten war vielleicht noch fünfzehn Meter entfernt. Nathan spähte um die Kante. So dicht, wie der Regen jetzt fiel, war nicht viel zu sehen. Nathan duckte sich wieder hinter den Felsen.
Die Stahltür in der Felswand ging wieder auf.
Nathan hörte Stimmen, dann wieder das Summen, als die Tür sich wieder schloss. Der Posten war wieder allein; er wickelte ein Proviantpaket aus und führte den Inhalt an den Mund. Das Gewehr lehnte neben ihm an der Wand. Nathan duckte sich in die mittlerweile schlammige Erde und kroch wieder los. Er ließ den Posten nicht einen Moment aus den Augen und behielt den Finger am Abzug.
Dreizehn Meter… zehn Meter… sieben Meter…
Ohne seine Mahlzeit wegzulegen, richtete der Posten sich auf und griff mit der anderen Hand nach seiner Waffe. Er stapfte auf die Stelle zu, wo Manuel versteckt war. Hatte er ihn gesehen? Nathan huschte vorwärts in eine kleine, dicht bewachsene Mulde. Ein Affe kam aus dem Dschungel und tanzte davon. Der Mann kehrte auf seinen Posten zurück und lehnte das Gewehr wieder gegen die Wand. Er befand sich zwei Meter vor Nathan, mit dem Rücken zu ihm. Der Regenguss war zu einem Tröpfeln geworden.
Nathan hängte sich das Gewehr über die Schulter und zog seine Pistole. Jeden Muskel gespannt, atmete er tief ein. Ein letzter Blick nach allen Seiten, die Luft war rein.
Er sprang los. Seine Linke legte sich über den Mund des Mannes, mit der Rechten hielt er ihm die Pistole ins Kreuz. Der Mann erstarrte, ließ seine Mahlzeit fallen. Nathan zerrte ihn herum, bugsierte ihn an die Stelle, wo Manuel lag und stieß ihn neben ihm in den Schlamm. Manuel rollte sich auf die Seite und richtete seine Waffe auf ihn.
Mit großen Augen lag der Mann da. Er war noch ein junger Kerl, wahrscheinlich kaum achtzehn Jahre alt; er hatte einen Stoppelbart und kurzes dunkles Haar. Er trug eine schwarze Lederjacke mit hochgerollten Ärmeln, um den Hals eine Goldkette mit einem Kreuz. Nathan durchsuchte ihn, fand jedoch nur eine Börse mit Familienfotos und etwas Geld. Er war nur ein kleiner Fußsoldat, definitiv kein ausgebildeter Killer der Front.
»Sag ihm, dass wir ihm nichts tun, wenn er pariert«, sagte Nathan zu Manuel.
Manuel redete in schnellem Spanisch auf den jungen Kerl ein. Der nickte nervös.
»Frag ihn, wie viele Leute da drinnen sind«, sagte Nathan, seine Pistole jetzt unter dem Kinn des Postens.
Manuel sprach noch mal mit ihm und wandte sich dann wieder an Nathan.
»Es gibt einen Hintereingang«, sagte er. »Hier sind kaum Wachen. Weiter drinnen werden es mehr.«
»Sag ihm, er soll uns aufmachen. Und keine Tricks.«
Manuel dolmetschte dem Posten, der vorsichtig auf die Beine kam. Nathan hielt sich direkt hinter ihm, Manuel blieb einige Meter zurück. Der Posten taumelte auf die Felswand zu. Er holte eine Schlüsselkarte aus der Tasche und hielt sie vor einen Scanner neben der Metalltür. Mit einem Summen tat sie sich auf.
Sie traten in einen höhlenartigen Schacht. Neonlampen warfen in regelmäßigen Abständen ihren Schein von der nassen Decke. Nathan blieb immer einen Schritt hinter seinem Gefangenen; er konnte die Angst des Jungen geradezu spüren. Sie erreichten eine Kreuzung, an der sie drei Möglichkeiten hatten: rechts, links und geradeaus. Manuel flüsterte dem Jungen etwas ins Ohr. Der machte eine Kopfbewegung nach rechts.
Nathan lauschte. Nur das Tropfen des Kondenswassers von der Steindecke war zu hören. Sie folgten dem Posten den Korridor hinab, bis sie an eine weitere Metalltür kamen. Nathan nahm die Schlüsselkarte des Postens und hielt sie vor den Scanner. Die Tür ging auf und gab den Blick auf einen langen Raum voll Tischen mit Laborgerätschaften frei, Reagenzgläser, große weiße Maschinen, Computer, allerhand elektronisches Gerät.
Der Posten trat etwas zu schnell über die Schwelle. Seine Hand hob sich, vermutlich in Richtung eines Schalters, mit dem die Tür von der anderen Seite zu schließen war. Nathan sprang vorwärts, legte den Arm um den Hals des Jungen und drückte zu. Der Körper des Jungen erschlaffte.
Nathan nickte Manuel zu, der ihm half, den Posten in eine Ecke zu schaffen. Er hatte einen großen Schrank entdeckt. Er riss einen Ärmel vom Hemd des Jungen und knebelte ihn damit. Er holte einige Kabelbinder aus seinem Rucksack und fesselte ihn an Händen und Füßen. Sie schleppten den bewusstlosen Körper zum Schrank und warfen ihn auf einen Haufen leerer Kartons.
Außer der, durch die sie gekommen waren, führten zwei weitere Türen aus dem Raum.
»Ich bringe den Sprengstoff an«, sagte Nathan zu Manuel. »Check du die Türen.«
Manuel reichte ihm den Rucksack. Nathan begann das Semtex auszupacken, Zünder und Draht. Er war eben dabei, alles zu sauberen Stapeln zu ordnen, als er Manuel auf sich zulaufen hörte.
»Nathan, komm.«
»Warte.«
»Komm! Gleich!«
Manuels gutes Auge war zusammengekniffen; er hatte die Lippen geschürzt. Offenbar machte ihm etwas zu schaffen. Nathan packte den Sprengstoff wieder ein und folgte ihm durch die nächste der Türen in einen weiteren Korridor. Manuel legte ein ziemliches Tempo vor, seine Schritte auf dem Steinboden weithin zu hören. Am anderen Ende hielt er die Karte vor den Scanner neben der Tür. Als sie sich öffnete, schlug ihnen ein schier unerträglicher Gestank entgegen.
Manuel zog Nathan hinein. Nathan öffnete die Augen, um sich an das düstere Licht zu gewöhnen. Sie befanden sich in einem weiteren langen Raum. Die Wände waren mit grünem Schleim überzogen. Der hintere Teil lag völlig im Dunkeln. Nathan kniff die Augen zusammen. Irgendetwas schien sich zu bewegen.
Er fuhr zurück. Er hatte schon ja so einiges gesehen, sowohl in seiner Zeit bei den Spezialkräften als auch bei der SOCA. Verstümmelte Körper. Gefolterte. Verbranntes Fleisch. Aber all das war nichts gewesen gegen den Anblick, der sich ihm jetzt bot. Es war eine ganze Masse bis zum Skelett abgemagerter Körper. Zuerst dachte er, sie seien tot. Dann merkte er, dass sich einige von ihnen bewegten. Wie Würmer in einem Komposthaufen. Sie lagen auf verrotteten Matratzen und dreckigen Laken. Die Reste ihrer Kleidung hingen ihnen in Fetzen von den knochigen Schultern. Blicklose Augen huschten durch tiefe Höhlen. Es war das Bild eines Konzentrationslagers, das sich ihnen da bot.
»Das sind meine Landsleute.« Tränen in den Augen, wandte Manuel sich Nathan zu. »Wir müssen ihnen helfen.«
»Dann müssen wir uns was anderes überlegen.«
»Madre Día.« Manuel fiel auf die Knie und übergab sich. Die Gefangenen wandten sich in Richtung des Geräuschs. Einige hoben die Arme, wie um sich zu schützen. Zwei von ihnen krochen auf Nathan und Manuel zu wie Aasfresser auf ein totes Tier.
Nathan hob das Gewehr und trat einen Schritt zurück. Er tippte Manuel auf die Schulter.
»Wir müssen hier raus«, sagte er.
Sein Gesicht eine Maske des Entsetzens, stand Manuel auf. Die Gefangenen kamen näher. Ohne den Blick von ihnen zu nehmen, trat Nathan zurück. Und stieß mit jemandem zusammen.
Den Finger am Abzug, fuhr er herum.
Amonite Victor stand hinter ihm, ein unheilvolles Grienen auf dem breiten Gesicht. Hinter ihr stand ein Rudel bis an die Zähne bewaffneter Killer der Front.
»Suchen wir was Bestimmtes?«, fragte sie.