Kapitel 39

Bogotá, Kolumbien
13. April 2011

»Das ist Korruption von einem Ausmaß, wie ich es nie erlebt habe«, sagte Lucia und beugte sich so weit über den Holztisch, dass Nathan zu seiner Überraschung einen Hauch von ihrem Parfüm mitbekam. »Selbst für kolumbianische Maßstäbe.«

Nathan nippte an seiner dampfend heißen Tasse Kaffee. Er war früh aufgewacht und fast so erschöpft wie am Abend zuvor. Er warf einen Blick über die anderen Tische in dem Café nach Pariser Art. Drei dicke amerikanische Touristen saßen über einen zerknitterten Stadtplan gebeugt. Ein junges Paar zankte sich um die Reste eines Stücks Schokotorte. Ein grauhaariger Geschäftsmann hackte auf seinen Laptop ein, bellte dann etwas in sein Telefon.

»Stimmt was nicht?«, fragte Lucia.

»Alles in Ordnung.«

»Ich komme immer hier her.«

»Ah ja.«

»He, sehen Sie sich die Schlagzeile an.« Lucia griff nach einer Zeitung, die von einer hölzernen Schiene an der Wand hing. »Mexikos Präsident fordert Debatte über Legalisierung von Drogen.«

Nathan setzte sich zurecht, um einen besseren Blick auf den Eingang zu haben.

»Da wird sich noch was ändern. Warten Sie’s ab.« Sie überflog den Artikel.

»Langsam wird auch dem Letzten klar, dass der Krieg gegen Drogen ein Riesenfehler ist. Finden Sie nicht auch?«

»Wie lange geht das denn schon?«

»Was?«

»Na, diese Operation. Amonite Victor. Wie lang?«

»Sechs Monate. Ein Jahr. Vielleicht länger. Das hat mir keiner sagen können. Ich wusste bis vor ein paar Tagen noch nicht einmal, wer das ist.«

»Sind Sie sicher, dass sie das Sagen hat?«

»Ist nur eine Vermutung.« Sie senkte die Stimme. »Ich meine, es gehen tonnenweise Drogen nach Europa und in die USA, direkt unter der Nase von FBI, DEA, Interpol und weiß Gott wem sonst noch. Überlegen Sie sich das mal.«

Nathan nippte wieder an seinem Kaffee. Lucia war in Fleisch und Blut so leidenschaftlich wie auf dem Bildschirm.

»Was?«, fragte Lucia.

»Amonite hat dazu nicht genügend Köpfchen.«

»Da habe ich was anderes gehört.«

»Ich weiß, die Amerikaner haben hier eine Menge Einfluss, aber–«

»Sie ist keine Amerikanerin.«

»Ah ja.« Nathans Blick wanderte wieder zum Eingang. Dort stand ein kleiner Mann mit langem Haar und gestutztem Bart und sondierte die Menge. Jeder Muskel in Nathan verspannte sich.

»Na, jedenfalls nicht nur«, fuhr Lucia fort. »Sie ist auch Kolumbianerin. Sie ist in Amerika geboren, ihre Eltern stammen von hier.«

Der suchende Blick des Mannes richtete sich auf ihren Tisch. Er ging an die Bar und sprach mit der Kellnerin, die kichernd rot anlief.

»He, hören Sie eigentlich zu?«, fragte Lucia.

Nathan sah ihr in die Augen; sie waren haselnussbraun mit grünen Flecken, und jetzt blitzten sie vor Zorn. Er musste daran denken, wie sie auf George losgegangen war.

Er machte eine rollende Bewegung mit der Hand. »Machen Sie nur weiter.«

»Amonite ist dabei, ein Netz aufzubauen, gegen das das Medellín-Kartell sich wie eine Schülerbande ausnehmen wird.« Sie begann an den Fingern abzuzählen: »Die Crips und Bloods in Los Angeles, die Mexikaner von La Eme, die Jamaikaner, die Haitianer, die russische Mafia, die italienische Mafia, sogar die Yakuza.«

Der Geschäftsmann drehte sich nach ihr um.

Lucia senkte die Stimme wieder zu einem Flüstern. »Ein weltweites Netz.«

»Und in Kolumbien?«

»Das sage ich Ihnen doch jetzt schon seit einer halben Stunde. Die sind ungeheuer mächtig: Staat, Armee, Polizei.«

Der kleine Mann mit dem langen Haar setzte sich an einen Tisch in der Ecke und zog ein Buch aus der Tasche. Nathan war so nervös, dass er sich beherrschen musste, nicht auf den Mann loszugehen. Er faltete die Hände und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lucia zu. Mit einem merkwürdigen Funkeln in den Augen sah sie ihn an.

»Ich dachte, der Präsident hätte in der Politik aufgeräumt?«

»Die Sanierung des Kolonialviertels macht aus Bogotá nicht über Nacht Genf.«

»Haben Sie ein Beispiel?«

»Wofür?«

»Amonites Macht.«

»Sie sind nicht leicht zu überzeugen, was?« Lucia verschränkte die Arme. »Vor ein paar Tagen meinte ein Ministerialdirektor im Innenministerium, wir bräuchten eine Debatte über die Legalisierung von Drogen. Ich kannte ihn schon geraume Zeit. Ein anständiger Kerl in einem verdorbenen Ministerium.«

»Was ist passiert?«

»Niedergeschossen. Vor seinem Haus. Zwei Kugeln in den Kopf.«

»Woher wissen Sie, dass Amonite dahintersteckt?«

»Der Mann war eine meiner wichtigsten Quellen über ihre Verbindungen zur ASI«, sagte Lucia. »Er hatte eine umfangreiche Akte zusammengestellt. Und die wollte er mir aushändigen.«

»Wo ist sie denn jetzt?«

»Wahrscheinlich verbrannt, zusammen mit seinem Haus, seiner Frau und den beiden Kindern. Die Feuerwehr kam zu spät.« Lucia stieß ein hohles Lachen aus.

»Es hieß, sie seien im Verkehr stecken geblieben.«

Mit heulender Sirene fuhr ein Polizeifahrzeug vorbei. Hinter ihm drein folgte ein gepanzerter Truck. Lucia schien das nicht mal zu bemerken. Sie starrte in ihren Kaffee, als meinte sie, die Zukunft darin zu sehen.

»Und Lloyd-Wanless?«, fragte Nathan. »Wie passt der da rein?«

»Ich habe im Fernsehen mit ihm diskutiert. Ein totales Desaster.«

»Ich weiß.« Nathan lächelte. »Ich hab’s gesehen.«

Lucia lief rot an. »Er ist eloquent. Und sondert denselben alten Antidrogen-Bullshit ab.«

»Aber das ergibt doch alles keinen Sinn.«

»Was?«

»Haben Sie einen Stift?«, fragte Nathan einen Kellner, der eben vorbeikam.

»Danke.«

Er schnappte sich eine Serviette und begann zu kritzeln, machte Kringel um Namen und verband sie mit Linien.

»Amonite, Lloyd-Wanless, die Front, die ASI, der schwarze Koks«, sagte Nathan. »Sie alle sind auf die eine oder andere Weise miteinander verbunden. Das wissen wir. Aber irgendwas fehlt. Genau hier.« Er stach mit dem Stift in die Mitte der Serviette. »Ich weiß, wie diese großen Kartelle operieren. Ich habe sie studiert. Es gibt immer eine Machtbasis, immer genau in der Mitte.«

»Könnte es Lloyd-Wanless sein? Wenn er in den 90ern hier Botschafter war. Er könnte da so einige Kontakte geknüpft haben. Vielleicht sind sie es beide, er und Amonite?«

»Nein. Ich habe Ihnen doch grade gesagt«, sagte Nathan, »ich kenne Amonite. Ich war schon mal im Clinch mit ihr. Sie ist skrupellos, professionell, beinhart. Aber es reicht nicht dazu, so etwas zu leiten. Auch bei Lloyd-Wanless nicht. Er ist mächtig, ehrgeizig, aber er hat nicht die Ressourcen für einen großen Boss. Es gibt da noch jemand anderen.«

»Aber wen?«

Nathans Hand glitt unter die Jacke, um nach der Waffe zu tasten. Er versuchte den Langhaarigen nicht anzusehen, der seine Taschen nach etwas durchging.

»Wer?«, wiederholte Lucia mit gekräuselter Stirn. »Na wie auch immer. Ich bin gleich wieder da.«

Sie machte sich auf den Weg zu den Toiletten.

Der Mann brachte eine Börse zum Vorschein, legte einige Münzen auf den Tisch und verließ das Café.

Nathan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er rief Manuels Nummer an. Manuel hätte sich mit ihm im Hotel treffen sollen, war aber nicht aufgetaucht. Das Telefon klingelte endlos, bevor es auf Voicemail schaltete. Nathan versuchte es noch einmal, legte dann wieder auf. Er überlegte, was als nächstes zu tun war, als Lucia wieder hereinkam. Ihr langes, dickes schwarzes Haar wellte sich um ihre zierlichen Schultern. Ihr enganliegendes weißes T-Shirt und die schwarzen Jeans betonten ihre sportlichen Kurven. Der junge Mann mit dem Schokokuchen starrte sie mit so unverhohlenem Verlangen an, dass seine Freundin ihm mit beiden Händen den Kopf zurechtschob.

Anmutig glitt Lucia wieder auf ihren Platz. »Na, sind wir wieder auf der Erde?«

»Manuel meldet sich immer noch nicht.«

»Keine Bange. Der kommt schon. Er weiß ja, wo wir abgestiegen sind.« Lucia warf einige Münzen auf den Tisch und nahm ihre Lederjacke von der Stuhllehne. »Kommen Sie. Gehen wir. Ich kenne da jemanden, der uns weiterhelfen kann.«

Schwarzer Koks
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