Kapitel 61

Bogotá, Kolumbien
14. April 2011

Nathan erspähte Lucia in dem Augenblick, in dem sie um die Ecke kam. Sie sah sich verstohlen um und ging dann geradewegs auf das Café zu, in dem sie verabredet waren. Wo immer sie vorbei kam, drehte man sich nach ihr um. Entweder sie ignorierte die Leute bewusst oder sie hatte keine Ahnung, wie attraktiv sie war. Nathan drückte sich tiefer in den dunklen Eingang. Als sie vorbeikam, tippte er ihr auf die Schulter. Sie fuhr herum. Ihr Blick war sofort seidenweich.

»Nathan, du siehst ja furchtbar aus?«

Nathan griff nach seinem Haar. Es war verkrustet und hart. Sein Gesicht war praktisch schwarz.

Sie wich einen Schritt zurück. »Du stinkst!«

Nathan sondierte die Passanten. Einige warfen neugierige Blicke nach ihnen. Weiter unten hatte Polizei in schwarzen Uniformen das Ende der Straße blockiert. Man überprüfte die Papiere der Passanten.

»Erklär ich später.« Nathan packte Lucia am Arm und führte sie in die andere Richtung. »Wo ist Manuel?«

»Trifft sich mit einem Kontakt. Wir müssen uns mit ihm treffen.«

»Sind wir im Hotel sicher?«

»Nicht direkt.«

»Suchen wir uns ein anderes.«

Sie sprangen in einen TransMilenio-Bus. Die Leute wichen aus, als Nathan sich vorbeidrängte. Eine Frau zog ihren Sohn von einem Sitz und verdrückte sich.

Nathan setzte sich. »Der Gestank muss ja wirklich ziemlich übel sein.«

»Riechst du dich denn nicht?«, fragte Lucia. Sie ließ einen Platz zwischen ihnen frei.

»Nicht die Spur.«

Sie zischelte missbilligend. Nathan sah, wie der Junge ihn anstarrte, und zwinkerte ihm zu. Seine Mutter zog ihn mit sich fort.

Zwei Fahrkartenkontrolleure stiegen vorn in den Bus. Nathan lehnte sich gegen das Fenster und tat, als schliefe er. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war ein Streit mit der Obrigkeit.

Er hörte die Kontrolleure nach den Fahrkarten fragen. Sie kamen auf sie zu. Er legte das Kinn an den Hals und wandte das Gesicht ab.

»Boleto, por favor.«

Einer der Kontrolleure stupste seine Schulter. Nathan sank nach vorne, als wäre er betrunken. Er ballte die Fäuste und öffnete einen Spaltbreit die Augen. Der Kontrolleur war ein kleiner Kerl mit feschem Schnurrbart und gefurchter Stirn. Im Nu war ein Streit im Gange. Lucia sagte dem Mann in Schnellfeuerspanisch, er solle den armen Mann in Ruhe lassen. Der Inspektor schüttelte Nathans Schulter. Nathan spannte die Muskeln, bereit, loszuspringen, wenn der Bus wieder hielt.

Münzen klimperten. Lucia sagte so viel, wie dass sie glücklich werden sollten mit ihrem Geld. Der andere Kontrolleur wurde laut. Der mit dem Schnurrbart fasste Nathan unters Kinn. In selben Augenblick, in dem er Nathan auf die Beine ziehen wollte, ertönte ein Klingeln, der Bus hielt und die Türen gingen auf. Nathan sprang hoch, stieß den Kontrolleur mit dem Schnurrbart gegen seinen Kollegen und sprang durch die offene Tür. Lucia lief gleich hinter ihm drein. Man rief hinter ihnen her. Jemand schrie. Er erhaschte noch einen Blick von den Kontrolleuren, die sie anfunkelten, als der TransMilenio wieder losfuhr.

»In Bogotá mag man keine Penner«, sagte Lucia auf ihrem Weg die Straße entlang.

»Ich weiß. Ich hab gesehen, was man mit ihnen macht.«

»Du musst unter die Dusche. Du erregst viel zu viel Aufmerksamkeit.«

Sie blieben vor einem Drei-Sterne-Hotel stehen. Es hatte Pfeiler vor dem Eingang und eine Drehtür mit Blattgold auf den Scheiben. Ein roter Teppich führte die Stufen zur Lobby hinauf. Auf einer Seite stand ein hoteleigener Wachmann in grüner Kampfhose und schwarzen Stiefeln. Er hatte eine abgesägte Flinte im Arm.

»Warte hier«, sagte Lucia. »Ich komm dich gleich holen. Mach mir keinen Ärger.«

Nathan lehnte sich gegen die Wand. Der Wachmann sah ihn von oben bis unten an. Fußgänger kamen zwischen den Autos durch. Einige sahen ihn argwöhnisch an. Mopeds rasten vorbei. In der Ferne waren Sirenen zu hören.

Die Stadt hatte plötzlich etwas Unheilvolles. Nathan taten die Aussteiger leid, Tramps, Drogenabhängige, die sich hier auf der Straße durchschlagen mussten. Jetzt erfuhr er am eigenen Leib die Ablehnung, die sie täglich erfuhren.

Lucia kam durch die Drehtür. »Alles klar. Komm mit.«

Sie eilten durch die Marmorlobby auf eine Reihe von Aufzügen zu. Fünf Minuten später waren sie in einem Doppelzimmer in der dritten Etage mit einem Fenster auf die Straße hinaus. In der Ecke gab es einen kleinen hölzernen Sekretär mit einer Schreibtischlampe mit dunklem Schirm. An den Wänden hingen Fotos von Bogotá und den Bergen im Hintergrund. Der Boden war weiß gefliest.

Lucia bugsierte Nathan direkt ins Bad und warf ihm ein Handtuch zu.

»Unter die Dusche. Sofort.«

Nathan zögerte. Lucias Augen leuchteten auf. Sie wandte sich ab.

»Ich besorge was zum Anziehen«, sagte sie im Hinausgehen. Eine Viertelstunde später kam Nathan aus der Dusche. Er wand sich ein Frottiertuch um die Hüften und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Er ignorierte den Bart und das lange Haar. Seine Brust wie auch seine Seiten waren grün und blau geschlagen. Die betreffenden Stellen taten höllisch weh. Es würde so einige Tage dauern, bis die Prellungen besser wurden. Seine Fingernägel waren noch voller Dreck. Also hielt er sie unter den Wasserhahn und schrubbte mit Seife drauflos.

Schließlich ging er ins Schlafzimmer und setzte sich auf die Bettkante. Ihm schwamm der Kopf von den Ereignissen der letzten Tage. Er konnte von Glück reden, da herausgekommen zu sein. Allerdings dürfte Amonite mittlerweile die halbe Front auf ihn angesetzt haben. Er legte sich auf das Bett und breitete die Arme aus. Wieder kam ihm Caitlin in den Sinn. Der Schnitt in ihrem Hals. All das Blut.

Ich krieg die schon, Caitlin. Die werden bezahlen.

Sich vage der Regentropfen am Fenster bewusst, fiel er in einen unruhigen Halbschlaf voll merkwürdiger Träume. Schließlich öffnete sich die Tür. Lucia stand im Rahmen und starrte ihn an. Ihr dunkles Haar war nass und klebte an ihren Wangen wie ein Rahmen um ihr rundes Gesicht.

»Hier.« Sie warf eine Plastiktasche neben ihm auf das Bett. »Kleine Bescherung von Gap.«

Nathan drehte sich um und rieb sich die Augen. Ein Hauch von Parfüm lag in der Luft. Lucia hatte noch eine zweite Tüte. Immer wieder sah sie ihn an. Sie wirkte besorgt.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er, als er die große Tasche auf sich zuzog.

»Wir müssen Manuel finden.«

»Weiß er, dass wir hier sind?«

»Wie sollte er?«

Nathan stieg in eine nietnagelneue Jeans. »Hast du seine Nummer?«

»Ich habe mein Handy weggeworfen, so wie du’s mir gesagt hast.«

»Stimmt was nicht?«, fragte Nathan. Er zog sich ein weißes T-Shirt über.

Lucia antwortete nicht.

Nathan zuckte die Achseln. »Dann suchen wir ihn eben.«

Sie machten sich auf den Weg. Jetzt, wo Nathan wieder sauber und präsentabel war, achtete niemand weiter auf sie. Er erspähte einen Münzfernsprecher auf der anderen Straßenseite. Lucia gab ihm einige Münzen. Er wählte Manuels Nummer.

»Sí?«

»Wo steckst du?«

»Nathan! Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«

Nathan blickte die Straße hinauf und hinunter. Ein Neonschild fiel ihm ins Auge. »Josepe’s. An der Calle Ciudad. In einer Stunde.«

»Ist Lucia bei dir?«

»Ja.«

»Ich habe eine gute Nachricht.«

»Und die wäre?«

»Sag ich dir, wenn wir uns treffen.«

Schwarzer Koks
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