Kapitel 96

Putumayo, Kolumbien
17. April 2011

Nathan lief den Korridor hinab und bog dann rechts ab. Manuel war direkt hinter ihm. Er hinkte zwar, konnte aber mithalten. Die Anlage war der reinste Irrgarten, aber sie mussten einen Ausgang finden. Und zwar rasch. Sie konnten hier nicht ewig herumwandern, ohne dass man sie erwischte.

Wieder eine Ecke. Nathan blieb stehen. Zwei Wachen kamen in ihre Richtung. Sie riefen sie an, hoben ihre Sturmgewehre. Nathan ging in die Hocke und feuerte viermal. Die Schüsse hallten von den Mauern wider. Die Wachen kippten nach hinten weg. Nathan lief auf sie zu und gab ihnen den Rest. Dann schnappte er sich ihre Gewehre und gab eines davon Manuel. Sie stiegen über die Leichen und eilten weiter, vorbei an mehreren Nischen zu beiden Seiten des Korridors. Schließlich standen sie wieder vor einer Metalltür.

»Hier geht’s nach draußen«, sagte Nathan. Eine Welle der Erleichterung schlug über ihm zusammen. »Mach dich bereit.«

Sie rannten auf die Tür zu. Wie alle anderen hatte sie links einen Scanner an der Wand. Nathan führte die Karte vorbei. Nichts passierte.

Er wiederholte den Vorgang.

Verdammt. Vielleicht ging die Karte nicht für den Ausgang. Oder vielleicht hatte man sie deaktiviert. Er lief zurück zu den beiden toten Wachen und ging ihre Taschen durch. Er fand zwei Karten und warf sie Manuel zu.

»Versuch’s mit denen. Ich bleibe hier. Nur für den Fall.«

Er ging in die Hocke, dem Komplex zugewandt. Sein Sichtfeld wie sein Verstand waren nach wie vor von unnatürlicher Klarheit. Ein Gefühl der Unbesiegbarkeit durchpulste ihn. Die Droge hatte definitiv auch positive Wirkungen. Er verspürte ein Verlangen nach mehr.

»Die gehen auch nicht«, rief Manuel hinter ihm.

Nathan überlegte fieberhaft. Er hörte bereits Leute kommen. Im Laufschritt. Es wurde gerufen. Er hörte, wie man die Waffen durchlud. Sie saßen in der Falle.

Er griff nach dem Walkie-Talkie an seinem Gürtel und stellte es an.

»Der Alarm ist vorbei«, sagte er. »Alle Ausgänge freigeben. Ich wiederhole: alle Ausgänge freigeben.« Es entstand eine Pause, dann knisterte es.

»Netter Versuch, Kershner«, sagte Amonite. »Aber so geht das nicht.«

Nathan steckte das Walkie-Talkie wieder weg.

Amonites Lachen kam durch. »Jetzt kriegen wir euch.«

Ihnen blieb nur noch eine Möglichkeit. Nathan lief wieder an die Metalltür. Er fummelte in seinem Rucksack nach dem letzten Semtex.

»Gib mir Deckung«, sagte er zu Manuel.

Er platzierte den Sprengstoff an Tür und Wand. Manuel bezog Position in einer der Nischen. Nathan spulte den Draht ab und verband das Semtex mit dem Zünder.

Es wurde geschossen. Geschrien.

Manuel schoss zurück.

Nathan blendete seine Umgebung aus. Er musste sich jetzt konzentrieren, damit er mit den Drähten nicht durcheinanderkam.

Wieder wurde geschossen. Jemand schrie.

»Nathan!«, rief Manuel. »Viel länger halte ich sie nicht auf!« Nathan legte letzte Hand an die Verdrahtung. Für einen Check war keine Zeit mehr. Geduckt, um sich keine Kugel einzufangen, lief er zu Manuel.

Er zog ihn in einen der Alkoven.

»Du kannst uns mal, Amonite«, sagte er ins Walkie-Talkie. »Wir gehen!«

Er drückte auf den Detonator.

Die Explosion riss die Metalltür aus der Wand.

Die Explosionen brachten Amonite ins Taumeln. Sie verlor das Gewehr und schlug rücklings auf dem Steinboden auf. Ihr Gesicht schien zu brennen. Dicke Schwaden und Brandgeruch erfüllten die Luft. Glühende Metallsplitter landeten um sie herum. Weiter vorne begannen Männer zu schreien. Dazwischen wurde geschossen.

Sie checkte im Geiste ihren Körper durch. Nur kleinere Verbrennungen. Schwankend kam sie auf die Beine. Dex lag neben ihr. Er rührte sich nicht. Sein Oberkörper war eine blutige Masse. Sie griff nach seinem Puls am Handgelenk. Dann am Hals.

Tot.

Sie ballte die Faust und schlug damit auf den Boden. Dex, ihr engster Mitarbeiter! Umgenietet von diesem eigensinnigen SOCA-Clown!

»Kershner!«, rief sie. »Dafür wirst du bezahlen!«

Sie lief in die Schwaden. Die Metalltür war aus dem Rahmen gerissen; ihre Teile lagen drinnen und draußen herum. Überall lag versprengtes Gestein. An einigen Stellen war die Erde ganz schwarz.

»Er ist abgehauen«, sagte eine der Wachen hinter ihr.

Sie fuhr herum, drauf und dran dem Kerl in die Fresse zu hauen, als das Wummern eines Helikopters die Luft zittern ließ. Ihr Herz tat einen Satz. War das bereits El Patrón? Er kam zu früh. Und obendrein im falschen Augenblick.

Sie vergaß Kershner fürs erste und lief auf die Kuppe des Hügels zu. Ein Lynx senkte sich langsam aus dem Himmel, verspritzte Erdkrümel, Grass, Laub und Schlamm. Amonite hielt sich die Hand vors Gesicht und trat ein paar Schritte zurück.

Der Hubschrauber landete. Die Tür auf der Seite ging auf. Amonites Herz ging noch schneller als ohnehin schon. Ihre Hände waren ganz nass; sie schien einer Ohnmacht nahe. Was zum Teufel sollte sie El Patrón erzählen? Würde er sie auf der Stelle erschießen lassen?

Ein Frontmann sprang heraus und zog jemanden hinter sich her. Es war eine junge Frau mit schlankem Körper, schwarzem Haar. Sie hatte den Kopf gesenkt, aber Amonite hatte sie schon mal gesehen.

Aber wo war El Patrón?

Amonite schob sich an den beiden vorbei und spähte in den Hubschrauber. Es war sonst niemand mehr drin.

Sie stieß einen Stoßseufzer der Erleichterung aus.

»Wer zum Teufel ist das denn?«, fragte sie den Frontmann mit der Gefangenen.

Die Frau hob den Kopf. Ihrer hübschen, wenn auch angeschlagenen Larve war sofort anzusehen, dass sie sie erkannte. Amonite spürte das breite Grinsen auf ihrem eigenen Gesicht. Lucia Carlisla! Sie hatte ganz vergessen, dass sie unterwegs hierher war.

»Komm her, meine Liebe«, sagte Amonite. Sie fasste Lucia bei den Schultern und zog sie auf sich zu. »Was bin ich froh, dich zu sehen.«

Jetzt kam ihr dieser Kershner garantiert nicht mehr aus.

Knisternd kam Leben in Nathans Walkie-Talkie.

»Wir haben hier jemanden, der mit dir reden will, Kershner.« Es war Amonite.

Eine dünne Stimme kam durch das Rauschen: »Nathan?«

»Lucia!«, rief Nathan. »Bist du okay?«

»Lauf, Nathan! Sieh zu, dass du hier rauskommst!«

»Halt den Mund, du dummes Luder«, sagte Amonite.

Das Knistern verstummte.

Nathan sprang auf die Beine. Er musste da noch mal rein und Lucia herausholen.

Aber Manuel hielt ihn zurück.

»Nein, nicht«, sagte er. »Denk an den Plan.«

Schwarzer Koks
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