Kapitel 66

Bogotá, Kolumbien
14. April 2011

Lucia saß vor den Abendnachrichten. Der Präsident verkündete eben eine neue Reihe von Antiterrormaßnahmen gegen die Front 154, als Nathan in das Apartment kam. Sein Gesicht war schmutzig und blutverschmiert. Sein kurzes Haar war schlammverkrustet. Die neue Jacke war ebenso zerrissen wie das Hemd. Sie stürzte hinüber und schlug die Tür hinter ihm zu. Dann griff sie nach seinen Händen, zog ihn zur Couch und legte ihn hin. Sie hatte einen Kloß im Hals.

»Dein Arm«, rief sie. »Was ist denn passiert?«

Nathan hatte die Augen geschlossen. Sein linker Arm hing über die Lehne des Sofas. Blut tropfte auf den gefliesten Boden. Bei Lucia kam das Medizinstudium durch. Sie rollte seinen Ärmel hoch. Es war eine Schusswunde, aber die Kugel hatte ihn nur gestreift. Sie lief ins Bad und kam mit Tüchern zurück. Sie begann die Wunde zu versorgen, fühlte nach seinem Puls, tastete ihn nach Brüchen ab, um sicherzugehen, dass sonst alles in Ordnung war. Trotz Blut und Dreck hatte er einen wunderbar fitten Körper. Jedes Spiel seiner Muskeln sprach von großer Kraft.

Lucia unterdrückte ihre Erregung. Ihre Gefühle für Nathan erstaunten, ja schockierten sie, als wären es nicht ihre eigenen, als hätte etwas von ihr Besitz ergriffen, das sie völlig zu vereinnahmen drohte: ihre Gefühle, ihren Körper, ihren Verstand.

Seine Lippen bewegten sich, gaben aber keinen Laut von sich. Sie beugte sich vor. »Was sagst du?«

»Ich… ich… muss… wieder… los.«

»Nicht in dem Zustand.«

»Doch.« Nathan fasste nach ihrer Hand. »Manuel erwartet mich.«

»Du musst dich erst ausruhen.«

Er hatte ein irres Funkeln im Blick, das ihr bislang entgangen war.

»Lass los.« Lucia versuchte sich loszureißen. »Du tust mir weh.«

Er verstärkte seinen Griff.

»Nathan, lass los!«

Er zog sie an sich heran. Sie versuchte sich ihm zu entwinden. Dann flackerte in seinen Augen so etwas wie eine Erkenntnis auf und er ließ von ihr ab. Lucia wich zurück und rieb sich die Hand.

»Tut mir Leid.« Er sank zurück auf das Sofa. »Tut mir wirklich Leid.«

»Ruh dich aus, während ich nach dem Rechten sehe.« Aber er war bereits eingeschlafen.

Lucia kümmerte sich den Rest des Tages um Nathans Wunde. In einer Apotheke ganz in der Nähe kaufte sie einen Ersten-Hilfe-Kasten und säuberte sie. Gegen zwei Uhr morgens erwachte er. Mit einem Flattern der Lider schlug er die Augen auf. Sie hatte eben sein Gesicht bewundert, das sie zum ersten Mal richtig sah. Angst huschte darüber hinweg. Er fuhr auf, saß dann da, die Hände gehoben. Dann erkannte er Lucia und entspannte sich.

»Geht’s besser?«, fragte sie und beugte sich vor, um ihn bei der rechten Hand zu nehmen. Er versuchte nicht, sich ihr zu entziehen. Er nickte nur, bevor er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ.

»Wir müssen damit morgen zum Arzt«, sagte sie.

»Kommt nicht in Frage.«

»Was ist passiert?«

Er schüttelte den Kopf wie um unerwünschte Gedanken loszuwerden. Dann sah er ihr direkt in die Augen, als sehe er sie zum ersten Mal.

»Du siehst großartig aus«, sagte er und zog sie an sich heran.

Sie lief rot an, wehrte sich jedoch nicht. Verlangen stieg in ihr auf. Seine Linke schloss sich um ihren Nacken und zog sie ganz nahe an ihn heran. Ihre Finger streichelten seine Brust. Sie küsste ihn, zunächst zaghaft, dann leidenschaftlich, als sie seinen warmen, süßen Mund zu kosten begann. Ihr Verlangen wurde so stark, dass es sie schier zerreißen wollte. Ihr wurde klar, dass sie das wollte, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Ihre Finger beschäftigten sich mit seinem Gürtel, während er ihre Bluse aufknöpfte. Seine Hände schienen überall, strichen über jede Kontur ihres Körpers, steigerten ihre Erregung ins Unerträgliche. Sie fuhren die Kurve ihres Rückens entlang, die Wölbung ihre Hüfte. Dann glitten sie nach vorn.

»Nein!« Lucia stieß Nathan weg. »Ich kann nicht.«

»Was ist denn?«

»Nichts.«

»Aber–«

»Ist nicht deine Schuld.« Sie knöpfte sich die Bluse wieder zu, kaum dass sie zu ihm aufzublicken wagte. »Ist meine Schuld, ich bin… Ich kann nicht… Tut mir wirklich Leid.«

Sie blickte auf. Einen Augenblick meinte sie, so etwas wie Kummer, Trauer, Schmerz in seinen Augen zu sehen. Dann fiel eine Klappe. Sein Gesicht wurde teilnahmslos, kalt. Er starrte durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht da.

Lucia rutschte vom Bett und taumelte ins Wohnzimmer. Das Verlangen nach ihm erfasste sie mit der Gewalt eines Erdrutsches nach einer Flut. Sie sank auf die Couch und starrte ausdruckslos auf die Bilder, die lautlos über den Bildschirm flackerten: zerstörte Autos vor blinkendem Blaulicht, weinende Frauen. Sie wäre am liebsten zurück zu ihm, um sich ihm hinzugeben, das Versprechen von Erlösung und Glück einzulösen, das sie kurz gesehen hatte, bevor sie es wieder beiseite stieß.

Auf dem Newsticker war von einer erneuten Welle von Bombenattentaten die Rede, wie man sie seit den Tagen Pablo Escobars nicht mehr gesehen hatte. Dutzende waren umgekommen, noch viel mehr verletzt. Die Front 154 hatte in einem Video auf YouTube die Verantwortung übernommen.

Lucia kam sich so alleine vor. Sie schien Blei in der Brust zu haben. Sie schämte sich. Sie rollte sich auf der Couch ein, legte den Kopf in die Hände und brach in Tränen aus.

Schwarzer Koks
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