Kapitel 90
Putumayo,
Kolumbien
17. April 2011
Stachliges Gestrüpp zerrte an Nathans Kleidung. Mit der Machete bahnte er sich einen Weg durch das dichte Unterholz. Gräser, Farne, Gestrüpp und Ranken behinderten sein Fortkommen; alles wuchs dem bisschen Licht entgegen, das durch den dichten Baldachin des Regenwalds drang.
Manuel hackte ein paar Meter vor ihm auf den Wald ein. Sein Arm hob und senkte sich wie eine Maschine. Schweiß lief ihm den Hals hinunter und sammelte sich in einem dunklen Fleck auf dem Rücken seines grünen Hemds. Trotzdem arbeitete er sich durch den Dschungel wie unter dem Einfluss einer übernatürlichen Kraft. Die furchtbaren Prügel, die er bezogen hatte, hätte man ihm jedenfalls nicht angemerkt. Aber vielleicht hatte er auch schon vor Jahren gelernt, seinen Schmerz zu verdrängen.
Nathan blieb einen Augenblick stehen. Bilder von seiner toten Schwester kamen ihm in den Sinn.
Manuel sah sich nach ihm um. »Alles in Ordnung?«
Nathan nickte.
Manuel holte die mittlerweile zerschlissene Karte aus der Gesäßtasche seiner Kampfhose. Er breitete sie aus. Nathan griff sich eine Ecke, Manuel die andere.
»Wir befinden uns hier in Sekundärdschungel«, sagte Manuel und wies mit dem Finger. »Hier drüben ist alles Primärdschungel. Da geht es sich leichter. Da ist auch der Stützpunkt.
»Was haben die Typen dich denn gefragt?«
»Ob ich allein bin.«
»Und?«
»Was denkst du? Ich verrate doch nicht meine Freunde.«
»Sie schienen ziemlich relaxt«, sagte Nathan.
»Weil die Front ihrer Ansicht nach so oder so nicht mehr aufzuhalten ist.«
Sie arbeiteten sich weiter. Das dichte Unterholz dünnte aus. Die Bäume hoben sich wenigstens sechzig Meter über ihre mächtigen Wurzeln hinaus; erst weit oben entwickelten sie eine Laubkrone. Es wurde kühler hier, da das dichte Laubwerk über ihnen die Hitze abhielt. Auf dem Boden drängten Farne durch den Teppich aus Laub und Moos.
Sie legten eine Pause ein. Nathan riss einen Energieriegel aus seinem Rucksack auf.
»Lucia«, sagte Manuel und sah Nathan dabei neugierig an, »sie mag dich.«
Nathan biss in den Riegel.
»Ich sehe einer Frau so was an, weißt du«, sagte Manuel. »Ich sehe es in ihren Augen. Als wir gestern losflogen, war sie ziemlich aus der Fassung.«
Nathan hob die Achseln.
»Ich spüre deinen Kummer«, sagte Manuel. »Lass dich davon bloß nicht auffressen.«
Nathan verschlang den letzten Bissen seines Powerriegels und spülte mit einem Schluck Wasser aus seiner Flasche nach. Er nahm seine Machete auf und prüfte mit dem Daumen die Schneide. Sie war noch scharf. Er stand auf, biss die Zähne zusammen und wollte eben wieder auf den Dschungel einhauen, als ihm ein Gedanke kam.
»Manuel, ich wollte dich schon lange was fragen.«
Manuel stand auf. »Schieß los.«
»Sagt dir der Name El Patrón etwas?«
Manuel wich zurück, als hätte man ihn geohrfeigt. »Wo hast du den gehört?«, fragte er.
»Von den Agenten im Schutzhaus der Botschaft in Bogotá.«
»Das ist unmöglich.« Manuel schüttelte grimmig den Kopf. »Du musst dich verhört haben.«
»Warum? Wer ist El Patrón? Don Camplones? Ich dachte, den hätte man zusammen mit Amonite in Mexiko erschossen. Aber wo sie davongekommen ist, denke ich mal, könnte er doch auch überlebt haben. Was nicht gerade die beste Nachricht für uns wäre. Wenn Amonite eine Psychopathin ist, gegen Camplones ist sie ein Waisenkind.«
»Das ist einfach nicht möglich.« Manuel rieb sich die Schläfen. »El Patrón ist vor Jahren umgekommen. Ich habe die Fotos gesehen. Die Leiche. Die Nachrichten waren voll davon.«
»Wer war er?«
»El Patrón«, sagte Manuel und senkte die Stimme zu einem Flüstern, »war Pablo Escobar.«