Kapitel 94

Putumayo, Kolumbien
17. April 2011

Nathan wachte auf. Er lag auf der Seite in einem kleinen fensterlosen Raum mit Betonwänden. Nur durch einen Spalt unter der Tür drang etwas Licht in den Raum. Behutsam berührte er seine Seiten. Die Rippen taten entsetzlich weh, aber er fand keine Frakturen. Die Schusswunde an seinem linken Arm hatte sich geöffnet; Blut sickerte heraus, aber wirklich ernst war sie nicht. Er tastete mit einem Finger nach seinem Mund; er hatte sich in die Zunge gebissen; er spürte das süße Blut.

Mental fühlte er sich stark. Nach allem, was er hinter sich hatte, würde er sich von Amonite jetzt auch nicht mehr brechen lassen.

Hallende Schritte näherten sich. Die Tür ging auf. Zwei bewaffnete Frontleute kamen herein und rissen ihn auf die Beine. Sie zerrten ihn in einen anderen Raum und fesselten ihn an einen Metallstuhl. Da saß er dann, teilnahmslos, wappnete sich gegen das, was da kommen mochte.

Amonite kam herein, einen ernsten Ausdruck im Gesicht.

»Also«, sagte sie, während sie sich auf einen Stuhl vor ihm setzte, »hast du’s dir überlegt?«

Den Blick auf die Wand gerichtet, stählte Nathan sich in Erwartung der Strafe, die jetzt begann.

Nathan rollte sich auf dem Boden ein, fuhr einmal mehr zusammen unter dem Schmerz angeknackster Rippen, Prellungen und den Brandwunden, die Amonites Zigaretten hinterlassen hatten. Sie war mit ihrem ganzen rasenden Zorn über ihn hergefallen. Irgendwann hatte er das Bewusstsein verloren. Ein Gorilla der Front hatte ihm einen Eimer eisiges Wasser übergekippt, und die Quälerei hatte von vorne begonnen. Bilder von Amonites zornverzerrtem Gesicht, auf immer in sein Gehirn gebrannt, stellten sich ein.

Er hatte sich nicht brechen lassen.

Unter großen Mühen setzte er sich auf. Amonite hatte etwas von einer richtigen Strafe geschrien, als man ihn halb bewusstlos aus der Folterkammer zog.

Die Tür ging auf. Eine Wache kam herein, zog einen Stuhl hinter sich her, stellte ihn in der Mitte der Zelle ab, machte Licht und setzte sich hin. Nathan hob eine schützende Hand vor die Augen. Der Mann schlug sie weg.

Nathan lehnte sich zurück. Er war erschöpft. Die Quälerei ging nun schon seit Stunden, der Mann hinderte ihn am Einschlafen, bis Nathan alles egal war: Amonite, die Front, SOCA, Gott und die Welt. Er legte sich auf die Seite. Wieder fielen ihm die Augen zu.

Der Wärter trat ihn wach.

Das war also die richtige Strafe. Selbst die härtesten Männer waren unter Schlafmangel zusammengebrochen. Wenn die Gedanken erst einmal abzudriften begannen und die Halluzinationen einsetzten, konnte alles passieren.

Mit einem Knall flog die Tür auf. Amonite kam herein. Sie trug ein Schulterholster mit einer Pistole über ihrem Uniformhemd.

»Redest du jetzt?«, fragte sie ihn.

Nathan schüttelte den Kopf.

»Wie du meinst«, sagte Amonite. »Du wirst es bereuen.«

Hunger. Schmerz.

Nathan hatte das alles schon durchgemacht. Man hatte ihn geschlagen, gefoltert, gebrannt. Man hatte ihn für tot gehalten und liegen lassen. Er hatte seine besten Freunde in seinen Armen sterben sehen. Er hatte sich von Ratten und Unkraut ernährt. Aber gebrochen hatte man ihn nie. Und das würde man auch diesmal nicht.

Er setzte sich eben auf und lehnte sich gegen die Zellenwand, als die Tür wieder aufging. Amonite stand im Rahmen.

»Du bist wie eine lästige Fliege, die einfach nicht verschwinden will, was?«

»Und du eine Töle, die nicht genug kriegen kann, was?«

Sie marschierte hinüber und trat ihm gegen die Brust. Blut hustend fiel er vornüber.

»Du dummes Stück Scheiße«, sagte sie.

Der rasende Zorn, der ihn packte, wischte Erschöpfung und Schmerzen für einen Augenblick weg. Er warf sich nach vorne, umfasste ihre Beine, zerrte daran, versuchte hochzukommen, sie auf den Boden zu ziehen. Sie geriet ins Wanken, taumelte nach hinten, befreite sich aber dann wieder. Nathan brach keuchend zusammen. Amonite lehnte sich an die Wand gegenüber und nickte jemandem vor der Tür zu.

Ein hochgewachsener Mann in einem weißen Overall kam herein.

»Das hier ist Dr. Herbert Grantling«, sagte Amonite. »Er hat ein kleines Geschenk für dich.«

Die Augen zu Schlitzen verengt, spähte Nathan ihn an. Grantling hatte ein kleines Köfferchen dabei, das er auf dem Boden absetzte. Er schlug es auf, sodass Nathan einige Reihen kleiner Phiolen mit verschiedenen Flüssigkeiten zu sehen bekam. Nathan verließ der Mut. Er wusste genau, was kommen würde. Er versuchte taumelnd auf die Beine zu kommen, aber zwei Frontleute stürzten herein und warfen ihn wieder um. Man band ihm Hände und Füße mit einer Kette zusammen und trat ihn, bis er das Bewusstsein verlor.

Als er wieder zu sich kam, kniete Grantling über ihm, eine Spritze in der Hand, deren Nadel in Nathans Arm stak. Nathan schrie auf und versuchte sich ihm zu entwinden. Die beiden Kerle von der Front pinnten ihn auf den Boden.

Als die Flüssigkeit in Nathans Körper eindrang, durchströmte ihn ein warmes Gefühl, das sich zu einer Lust auswuchs, die einem Orgasmus gleichkam. Er stieß ein verzücktes Stöhnen aus und spürte, wie ihm Arme und Beine erschlafften. Ein Kaleidoskop von Farben drehte sich vor seinen Augen und verwandelte sich in Bilder paradiesischer, engelgleich leuchtender Frauen. Eine Welle von Energie schwappte durch seine Venen, die ihn unter einem Schauer an der Kette zerren ließ. Grantlings Gesicht begann sich erst zu krümmen und dann zu drehen. Die Zelle entfernte sich und drang dann wieder auf ihn ein. Amonites Augen wurden zu rotglühenden Kohlen. Ein Rauschen wie das eines Wasserfalls kam auf ihn zu.

Nathan schloss die Augen und legte sich zurück. Er verlor jedes Zeitgefühl, hatte keine Schmerzen mehr, vergaß, wo er war. Er war nur noch Lust. Dann eine Stimme.

So sollte das Leben sein. Genieße es.

Als Nathan wieder zu sich kam, war niemand mehr da. Er hatte pochende Kopfschmerzen und das Gefühl, jemand schabte ihm von innen mit Rasierklingen an der Haut. Er hatte keine Ahnung, wie lange er das Bewusstsein verloren hatte, und konnte sich kaum noch erinnern, wo er war.

Die Tür schlug wieder auf. Amonite kam herein, Grantling kam hinter ihr drein.

»Hättest du gerne mehr?«, fragte Amonite und beugte sich so tief über ihn, dass er ihren fauligen Atem roch.

Nathan schüttelte den Kopf.

Sie nickte Grantling zu, der eine weitere Spritze aus dem Koffer holte. Nathan wand sich auf dem Boden, um von ihm wegzukommen. Aber seine Kraft war wie weggewischt. Und dann sehnte sich irgendetwas in ihm nach der Lust, die ihm die Droge verschafft hatte, und dass sie ihm die Schmerzen nehmen würde.

Grantling kniete neben ihm. Diesmal war die Wirkung sogar noch stärker. So stark, dass er für einen langen Augenblick das Bewusstsein verlor. Die Lust war so intensiv, dass es wehtat. Stimmen schwirrten ihm durch den Kopf, Stimmen in einer unverständlichen Sprache, bis sich eine herauskristallisierte, die klar und unheilvoll zu ihm sprach.

Es gibt eine Möglichkeit.

Nathan schloss die Augen, zwang sich zurück in die Normalität.

Eine Möglichkeit, die Schmerzen zu lindern.

Schmerzhafte Blitze schossen durch Nathans Gehirn. Sein Blickfeld füllte sich mit Bildern von Schädeln unter dahinschmelzender Haut.

Dann nichts.

Zwei Stimmen.

»Der ist hinüber.«

»Bist du sicher?«

»Schau doch. Keine Reaktion.«

»Was machen wir denn dann?«

»Warten.«

»Wir könnten ihn etwas aufmischen.«

»Damit er uns krepiert wie die anderen? Amonite würde durchdrehen.«

»Das Miststück.«

»Na ja, was willst du machen. Versuchen wir’s später noch mal.«

Schmerzen. Ihm war, als drückte ihm jemand ein heißes Bügeleisen gegen die Stirn. Seine Gedanken verklumpten. Knochen knarrten.

Wieder die Stimmen.

»Er ist immer noch weggetreten.«

»Ich probier’s mal mit etwas Wasser.«

»Hat ja keine Eile.«

»Das hat sich bei Amonite aber ganz anders angehört.«

»Ist mir egal, was die sagt.«

»Bin gleich wieder da. Sie will ihn endlich soweit haben.«

Schritte. Eine Metalltür knallte zu. Schritte entfernten sich.

Sein Gehirn kam ihm vor wie verflüssigt, als schwappte es bei der geringsten Bewegung gegen die Schädelwand. Die Haut auf seinem Rücken war wund von dem steinernen Boden. Farben und Muster tanzten über den Rand seines Gesichtsfelds.

»Willkommen im Land der Lebenden.«

Ein Gesicht kam angeschwommen. Kurzes, lockiges schwarzes Haar rund herum, Pockennarben auf den Backen wie Hunderte von kleinen Einstichen, irgendwo dazwischen ein Schnurrbart. Das Gesicht lächelte so gelangweilt wie geringschätzig.

»Fühlt man sich beschissen?«

Eine Hand griff nach Nathans Kinn und schob es hin und her.

»Also aussehen tust du jedenfalls so.«

Die Hand tätschelte Nathan die Backe.

»Ist wirklich zu schade.«

Nathans rasender Zorn sorgte für einen plötzlichen Energieschub. Noch bevor ihm selbst klar wurde, was er tat, fuhr seine Rechte vor und schlang seinem Gegenüber die Kette seiner Handschellen um den Hals.

»Was zum–«

Nathans Linke legte sich über den Mund des Mannes und drückte zu. Mit einem Ruck riss er ihn herum und zog ihn zu Boden. Er zog die Kette straff. Der Mann krallte nach Nathans Gesicht. Nathan beugte sich zurück, zog dabei die Kette noch fester zu, spürte, wie sie sich in den Hals des Mannes grub. Der Mann stöhnte, grunzte, schlug um sich, rammte Nathan den Ellbogen in die Brust.

Dann griff er nach seiner Pistole.

Nathan kickte die Hand des Mannes beiseite und trat sie in den Boden. Eine grausame Macht hatte von ihm Besitz ergriffen. Er zerrte jetzt mit beiden Händen an der Kette, zog die Knie hoch und stemmte sich damit gegen die Achseln des Mannes, bis er das Gefühl hatte, ihm den Kopf abzureißen. Das Stöhnen wurde zu einem Gurgeln, das Gurgeln zu einem Wimmern, dann schnappte der Mann ein letztes Mal hilflos nach Luft. Seine Arme erschlafften, droschen dann noch einmal in einem letzten verzweifelten Aufbäumen auf Nathan ein, bevor jede Kraft aus ihnen wich. Mitten in einem Tanz greller Lichter, seine Schläfen pochend, hielt Nathan die Kette gespannt.

Nach einer Weile ließ er los. Der Körper des Mannes sank auf den Steinboden. Nathan ging seine Taschen durch, bis er eine der elektronischen Schlüsselkarten fand. Er versuchte sich die Benommenheit aus dem Kopf zu schütteln und sie durch die chemische Energie zu ersetzten, die wie ein Vulkan in ihm tobte.

Wo waren nur die Schlüssel für die Kette?

Jedenfalls hatte der Mann sie nicht in den Taschen. Nicht im Hemd. Nicht am Gürtel.

Vom Korridor drangen Schritte herein. Es näherte sich jemand.

Nathan zerrte an seinen Ketten. Der Türgriff bewegte sich.

Nathan machte sich an dem Holster des Mannes zu schaffen, bis er die Waffe herausbekam.

Die Tür öffnete sich knarrend. Einer seiner Wärter kam herein.

»He, du wirst nicht glauben, was–«

Als er Nathan sah, blieb der Mann wie vom Blitz getroffen stehen vor Überraschung. Seine Hand griff nach der Waffe.

Nathan schoss ihm in den Kopf.

Schwarzer Koks
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