Kapitel 6
East London,
England
5. April 2011
»He, Schwesterherz, großer Tag heute.« Nathan setzte sich an den Küchentisch und griff sich eine Scheibe Toast. »Ich habe meine Präsentation vor den Abteilungsleitern.«
Caitlin saß, das Ende eines Bleistifts im Mund, über dem Kreuzworträtsel des Guardian. Sie trug einen weiten violetten Morgenrock, der ihre dralle Figur hervorhob. Ihr langes braunes Haar hing ihr unordentlich zu beiden Seiten ins Gesicht wie ein Mopp. Sie hatte dunkle Ränder unter den Augen und sah so erledigt aus, wie Nathan sich fühlte.
Nathan schenkte sich einen großen Becher Kaffee ein. Er brauchte eine Koffeinspritze, um nicht umzukippen vor Jetlag und der Erschöpfung nach dem erledigten Auftrag.
Caitlin kratzte sich mit dem Bleistift die Stirn. »Gar nicht so einfach heute.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Nö.« Sie zog die Brauen zusammen. »Obwohl, wart mal, doch, warum nicht. Du solltest das wissen: Bei ihr bleiben Außenstehende aus Sicherheitsgründen außen vor.«
»Wie viele Buchstaben?«
»Elf.«
»Mal sehen.« Nathan rieb sich den Bart. »Geheimsache.«
»Bist ein Genie.« Caitlin trug das Wort ein. Das Fenster hinter ihr vibrierte, als ein Laster an ihrem Wohnblock vorbei Richtung Bahnhof King’s Cross rumpelte.
»Denkst du, dass die auf dich hören?«
»Wer?«
»Der Vorstand.«
»Oh.« Hatte sie ihn also doch gehört. »Alles andere wäre verrückt.«
»Bist ein unverbesserlicher Optimist.« Caitlin begann in der Zeitung zu blättern. »Hier, lies mal. ›SOCA unter Beschuss: Schlüsselfiguren des organisierten Verbrechens noch immer auf freiem Fuß‹.«
Nathan überflog den Artikel. Es hieß darin, Tony Blair habe die Serious Organised Crime Agency mit großem Trara im April 2006 als Großbritanniens Antwort auf das FBI ins Leben gerufen. Die SOCA habe eine Liste von 130 Schlüsselfiguren aufgestellt, die ihrer Ansicht nach in Großbritannien die Organisierte Kriminalität, so etwa Drogen- und Menschenhandel, kontrollieren. Nur habe sich die neue Behörde in Kontroversen verheddert. Sie verschwende zu viel Geld. Ihre Aufklärungsarbeit sei zu vernachlässigen. Zu wenige der Unterweltbosse säßen hinter Schloss und Riegel.
Nathan stieß die Zeitung über den Tisch. »Nichts Neues.«
»Die Koalitionsregierung will sie zumachen. Ihrer Ansicht nach neigt sie zu übertriebener Geheimhaltung und einem Mangel an Transparenz.«
»Tja.«
»Hör zu, Nate.« Caitlin fixierte ihn mit dem Blick der großen Schwester. »Du musst dir einen neuen Job suchen.«
»Das hatten wir doch schon.«
»Du bist ihr bester Agent, Herrgott noch mal. Schau dir nur an, was du letztes Jahr in Mexiko geleistet hast. Und trotzdem wartest du immer noch auf deine Beförderung.«
»Vielleicht holen sie das nach meiner Präsentation heute nach.«
»Ich versteh nicht, warum du das überhaupt machst.«
Nathan biss in seinen Toast. »Das würdest du, wenn du gesehen hättest, was ich in Kolumbien gesehen habe.«
»Das ist doch Kolumbiens Problem.«
»Es ist unser Problem, Caitlin. Es ist, es…« Nathan seufzte. Das Letzte, was er brauchte, war ein weiterer Streit mit Caitlin. »Können wir über was anderes reden? Was du zum Beispiel heute vor hast?«
»Ich habe ein Meeting mit den Marketing-Leuten wegen der neuen Badelotion.«
»Das übelriechende rote Zeug?«
Sie lachte. »Du bist wirklich ein Banause?«
»Immerhin kenne ich den Unterschied zwischen Duft und Gestank.«
»Na, dann fällt das als Weihnachtsgeschenk schon mal flach.« Sie wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu, sah dann aber noch mal auf. »Bevor ich’s vergesse, auf dem AB ist eine Nachricht von Sandra für dich.«
Nathan trank einen Schluck Kaffee. Sandra hatte ihm schon ein halbes Dutzend Nachrichten auf dem Handy hinterlassen. Aber er hatte nicht die Absicht, sich bei ihr zu melden. Für eine Beziehung hatte er im Augenblick keine Zeit.
»Du rufst sie doch zurück, oder?«, fragte Caitlin.
»Nicht mein Typ.«
»Wer ist denn dein Typ?«
»Ich möchte nicht drüber reden.«
»Okay, vergiss Sandra. Was ist mit Anna. Sieht großartig aus. Ist witzig. Und sie kommt am Freitag zu dem Dinner. Ich glaub, sie mag dich.«
»Freitag habe ich mit dem Kapitel über Methoden zu tun.«
»Hol’s der Kuckuck. Warum frag ich eigentlich? Laura kommt nicht zurück, das ist dir doch klar? Das hat sie ja deutlich zu verstehen gegeben.«
»Herrgott noch mal.« Nathan schob seinen Teller weg, stand auf und verschwand in seinem Zimmer. Caitlin konnte so was von nervig sein. Mit einem Seufzer sank er aufs Bett. Nicht dass sie nicht Recht gehabt hätte. Er war mittlerweile Mitte dreißig und hatte nichts Festes in Aussicht. Laura hatte eine Familie gründen wollen. Er nicht. Alles, was seine Freiheit einzuschränken drohte, machte ihn nervös.
Er ging seinen Kleiderschrank durch in dem Versuch, in dem Wust an verkrumpelten Jeans und T-Shirts auf seinen Anzug zu stoßen. Er fand ihn schließlich in einer Ecke, aber er war völlig zerknittert. Er warf ihn wieder hinein. Zum Bügeln hatte er weder Zeit noch Lust. Musste der Vorstand ihn eben nehmen, wie er war.
Er nahm seinen Laptop vom Schreibtisch und verstaute ihn in seinem Rucksack. Er stieß mit der Kante an etwas an. Er steckte die Hand hinein und fand den schwarzen Würfel, den er in Kolumbien eingesteckt hatte. Er war so was von glatt, die Kanten absolut scharf, das Schwarz so frisch. Licht reflektierte er nicht. War er aus gefärbtem Holz? Oder war es eine Art leichtes Vulkangestein? Vielleicht hätte er ihn zusammen mit dem Pulver und den Blättern ins Labor geben sollen. Aber woher sollten die wissen, woraus er war? Die Leute waren Chemiker, nicht Geologen.
Er legte den Würfel auf seinen Schreibtisch und sah sich in seinem winzigen Zimmer um. Auf dem Teppich stapelten sich Lehrbücher der Kriminologie. Der Schreibtisch quoll über vor Zetteln mit handgeschriebenen Notizen. In die Regale hätte kein einziges Buch mehr gepasst. Die schlammverkrusteten Klamotten aus Kolumbien lagen auf seinem Bett.
Er nahm einen Ausdruck seines Berichts an den Vorstand zur Hand und ging wieder ins Wohnzimmer. Caitlin hantierte mit einer Packung Prozac. Sie warf eine der Kapseln ein und schluckte sie mit Orangensaft.
»Ich versuche nur zu helfen«, sagte sie.
»Wie war denn die Therapie letzte Woche?«
»Alles in allem okay.«
»Was hat sie denn gesagt.«
»Dass es seine Zeit braucht.«
»Paps ist jetzt zwei Jahre tot.« Er sah, dass ihre Augen feucht wurden. »Ich weiß.«
»Schon gut.« Nathan griff über den Tisch und legte eine Hand auf die ihre. »Du kannst hier bleiben, solange du willst. Dazu sind Brüder doch da.«
Caitlin beugte sich vor, um ihn zu umarmen, stieß dabei jedoch seinen Becher um, sodass sich der kalte Kaffee über seine Hände und die Zeitung ergoss.
»Lass mal gut sein.« Nathan wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab. Er schob die Zeitung beiseite und fuhr mit einem Schwamm über den Tisch.
Caitlin trocknete sich die Augen. Sie nahm einen großen Umschlag von dem Stuhl neben ihr.
»Das hier ist für dich gekommen, während du weg warst«, sagte sie.
Nathan schlitzte den Umschlag mit einem Messer auf. Es war eine farbenprächtige Broschüre des Mannheim Centre for Criminology an der London School of Economics. Der Begleitbrief war an ihn persönlich adressiert.
»Man bietet mir an, mich für eine Dozentenstelle zu bewerben. Sie müssen von meiner…« Er hob den Kopf. »Du hast doch nicht etwa?«
»Ich hab was?«
»Meinen Lebenslauf eingeschickt.«
»Vielleicht.«
Nathan seufzte.
»Du bist alles, was ich noch habe, Nate.«
»Reden wir später drüber.« Nathan warf einen Blick auf die Uhr. »Verdammt!« Er griff nach seiner Lederjacke hinter der Küchentür. »Bis später!«
»Kein Anzug?«
»Keine Zeit.«
»Und stell dich endlich auf die Hinterbeine!«, rief Caitlin ihm nach, als bereits die Wohnungstür hinter ihm zufiel. Er rannte die steinerne Treppe hinunter zur Caledonian Road.