Kapitel 18
Central London,
England
9. April 2011
Amonite stürmte den Gehsteig am Parlament entlang, ohne den Bau auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie kochte vor Wut. Irgend so ein Wichtigtuer von einem Bullen, ein gewisser Steve Willinston, und ein zweiter Typ – ihr Informant in der Wache in Islington wusste den Namen nicht mehr – hatten ihr mit einem Schlag das Vertriebsnetz ruiniert. Tony war tot. Die Muster waren verschwunden. Die Polizei ging in sämtlichen Crackhäusern North Londons aus und ein. Und was noch schlimmer war, Sir George hatte sie nicht vor Willinston gewarnt. Dieses aufgeblasene Stück Mist. Wie sollte sie in England Vertriebswege aufbauen, wenn er ihr nicht steckte, was die englischen Bullen vorhatten. Und warum zum Teufel war er mit einem Mal so schwer zu erreichen?
Sie schob sich an einer Gruppe Touristen vorbei; einige taumelten gegen die Wand. Ihr Ziel war das Queen Elizabeth Conference Centre auf der anderen Seite des Parliament Square. Sie zeigte der Phalanx von Sicherheitsleuten ihren gefälschten SOCA-Ausweis und warf Mantel und Tasche auf das Fließband vor dem Röntgengerät. Sie wartete, während man ihr ein Namenschild ausdruckte, dann ging sie durch den Metalldetektor.
Sie schritt durch die Lobby, vorbei an Scharen von Drogenfahndern aus allen Teilen der Welt. Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen und Verbrechensbekämpfung hatte zu seiner Jahrestagung geladen. Ein farbenprächtiges Transparent an der hinteren Wand verkündete in Riesenlettern das Thema der diesjährigen Tagung: »Eine drogenfreie Welt: Nicht nur eine Möglichkeit«. Darunter der Slogan: 50 Jahre seit der Single Convention on Narcotic Drugs: 50 Jahre Erfolg«.
Amonite schnaubte.
Sie fuhr mit der Rolltreppe hinauf in den dritten Stock. Im großen Konferenzsaal war ein großes Frühstück aufgetragen. Hunderte von Delegierten saßen an den Tischen, nippten besten kolumbianischen Kaffee und aßen Wurst, Eier und Toast. Auf der Bühne, von Scheinwerfern angestrahlt wie ein Rockstar im Rampenlicht, sprach eben mit grimmiger Miene und hohlem Bass der Direktor der kolumbianischen Agency for Security and Intelligence, General Juano Zathanaís. Die buschigen Brauen gewölbt wie zwei Seidenraupen, ging er schwerfällig auf und ab. Hinter ihm waren auf einem großen Bildschirm die Worte: »Kolumbien: Sieg gegen den Drogenhandel« zu sehen.
Amonite wartete im hinteren Teil des Saals, wo die Medien der Welt sich kabelstrotzend mit ihren Kameras scharten. In den Ecken standen kleine Grüppchen von Männern, die Köpfe zusammengesteckt, in leise, aber hitzige Debatten vertieft.
Der General schwätzte etwas von angeblichen »Erfolgen« im vergangenen Jahr: ein »hochwirkungsvolles Koka-Begasungsprogramm«, die Zerstörung einer »Rekordzahl« von Dschungellaboren, die »Erstklassige« Ausbildung von ASI-Agenten durch britische und amerikanische »Sonderberater«, die »ungemein erfolgreiche« Initiative, alternative Anbaupflanzen zu fördern wie etwa Kaffee. Dazu waren hinter ihm Bilder von lächelnden Bauern zu sehen, beide Hände tief in Kaffeesäcken, sowie ASI-Agenten neben Stapeln von beschlagnahmtem Kokain.
»Das ist doch Bullshit«, sagte eine Frauenstimme mit dickem südamerikanischem Akzent.
Amonite drehte sich um. Eine schlanke junge Frau mit glänzendem dunklem Haar sah zu ihr auf. Sie wirkte wie eine Studentin in ihren Turnschuhen, der weiten Bluse, den Jeans.
»Wie meinen?«
»Die Kolumbianer behaupten, sie hätten die ASI eingerichtet, um einen Strich unter die Exzesse des früheren Geheimdienstes zu ziehen.« Der Blick haselnussbrauner Augen bohrte sich in Amonite. »Aber Zathanaís ist so korrupt wie nur irgendeiner. Wer den zum Chef der ASI gemacht hat, ist entweder wahnsinnig oder ein Genie.«
»Und wer sind Sie?«
»Lucia Carlisla.« Die Frau schob ihr eine energische Hand entgegen. »CEO von Kolumbianer gegen die Front.«
Amonite ignorierte die Hand. »Gegen die Front?«
Lucia deutete ein Nicken an. Ihre Augen funkelten. Sie ließ die Hand sinken.
Amonite öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Von irgendwelchen Kolumbianern gegen die Front hatte sie nie gehört. War das eine neue Kampagne? Sie richtete den Blick wieder auf die Bühne. Der General schimpfte eben knurrend über etwas und schüttelte dabei die gehobene Faust.
»Und Sie sind?«, fragte Lucia und beugte sich vor, um Amonites Namensschild zu lesen.
»Niemand.« Amonite bedeckte das Schild mit der Hand. »Wie sind Sie denn hier reingekommen?«
»Ich habe eine Karte beantragt.« Lucia zeigte eine Reihe blitzender Zähne. »Und man hat mir eine gegeben.«
»Was genau macht ihre Organisation denn?«
»Wir sind eine Initiative gegen paramilitärische Gruppen und Kartelle in Kolumbien, besonders die Front 154. Falls Sie von der gehört haben.«
Amonite schüttelte den Kopf.
»Die neueste Bande brutaler Gangster«, sagte Lucia. »Skrupelloser Abschaum. Mord, Entführung, Drogenhandel, Erpressung. Das ganze Programm.« Die braunen Augen fixierten Amonite erneut. »Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Ich, äh… ich bin neu. Ich versuche nur zu lernen.« Amonite starrte geradeaus nach vorne. Der General wies auf den großen Bildschirm hinter ihm. Dort war ein Diagramm aufgetaucht, ein dicker Pfeil, Sinnbild für die Zunahme der Menge von beschlagnahmtem Kokain.
»Ha!«, sagte Lucia und wies nach vorn. »Das ist doch barer Unsinn. Letztes Jahr wollte der Drogenzar des Weißen Hauses mehr Kokain beschlagnahmt haben, als produziert wurde. Weil keiner von denen auch nur die geringste Ahnung hat, was der andere macht.«
Einige Leute an den umliegenden Tischen warfen Lucia missbilligende Blicke zu. Amonite ließ sie stehen. Ihr Zorn war plötzlich einer merkwürdigen Unsicherheit gewichen.
Aber Lucia rückte auf. »Sind Sie sicher, dass wir uns nicht schon begegnet sind? Sie kommen mir wirklich bekannt vor.«
Amonite wandte sich ab. Es war kaum wahrscheinlich, dass Lucia etwas über sie wusste. Selbst während ihrer Zeit bei Don Camplones und der mexikanischen Mafia hatte sie ihre wahre Identität für sich behalten. Man hatte sie nur als die geheimnisvolle, skrupellose Schlächterin von Juárez gekannt. Sie hatte hinter den Kulissen die Dreckarbeit erledigt, ganz im Gegensatz zu Don Camplones, der so extravagant wie mediengeil gewesen war.
Ihr kam ein Gedanke. Sie wandte sich wieder Lucia zu, aber die war nicht mehr da. Sie sah sich um und sah Lucias schlanken Körper auf eine zweiflügelige Tür zugehen. Amonite zeigte ihre Marke einem der Sicherheitsleute, der mit verschränkten Armen gegen die Wand gelehnt stand.
»Die Dame dort drüben.« Sie wies auf Lucia. »Sie sollte nicht hier sein.«
Der Sicherheitsmann zog die Stirn hoch.
»Überprüfen Sie sie«, sagte Amonite. »Sie werden sehen.«
Der Sicherheitsmann zögerte.
»Schnell, Sie Trottel.«
Der Sicherheitsmann eilte los.
Amonite schickte Sir George eine Textmessage. Dann schnappte sie sich einen Espresso vom Tisch an der hinteren Wand. Sie stürzte ihn hinunter und warf die Tasse auf das Tablett eines eben vorbeikommenden Kellners. Um ein Haar hätte sie den Mann umgerannt.
Sir George kam durch die Tische auf sie zu. Mit seinem sorgfältig gekämmten Silberhaar, den hohen Wangenknochen und dem Designeranzug nebst leuchtend roter Krawatte wirkte er eher wie ein blaublütiger Playboy als ein in die Jahre gekommener Bürokrat.
»Was zum Teufel machen Sie hier?«, zischte er und führte sie in die angeschlossene Lounge, deren raumhohe Verglasung einen Panoramablick auf das neue London bot. »Es könnte Sie jemand erkennen.«
»Unmöglich. Meine Tarnung ist wasserdicht.«
»Wenn ich Ihnen meine Jungs schicke, dann erwarte ich, dass Sie ihnen folgen.«
»Wie bitte?«
»City Airport.«
»Ich arbeite am besten allein.«
»Sie tun, was ich sage. So ist es abgemacht. Sei’s drum, ich habe Sie nicht so früh zurückerwartet.«
»Ich bekam einen Tipp, dass man Tony auf die Spur gekommen ist.« Sir Georges Augen wurden schmal. Wieso kam sie sich neben dem Mann nur immer gar so klein vor? »Irgendein Cop hat ihn erschossen.«
»Ein Polizist? Sind Sie sicher, dass es nicht Nathan Kershner war?«
»Was? Ich dachte, Kershner würde noch nicht mal in die Nähe des Falles kommen. Das haben Sie garantiert.«
Sir George schien sie nicht zu hören. Er rieb sich gedankenverloren das Kinn.
»Der Bursche wird mir langsam zu kess.«
»Wieso?«
»Er war eben in Putumayo. Er hat eines der Labors gefunden und einen Vorrat Black Coke.«
»Wie das denn?«
»Cedric hat ihn hingeschickt, ohne mir was zu sagen. Dieser hinterhältige kleine Scheißkerl.«
»Ich frage mich, ob…«
»Ob was?«
»Nein, nichts.«
»Ob er über Sie Bescheid weiß?« Sir George tätschelte Amonites Schulter. »Das bezweifle ich. Es sei denn, meine Gute, Sie sind unvorsichtig geworden.«
Amonite waren Gerüchte über einen Weißen aus einer NRO zu Ohren gekommen, der sich mit Menschenrechtsverletzungen in Putumayo befasst haben sollte. Sie hatte auf der Jagd nach Überlebenden des Überfalls auf das Dorf sogar einen Weißen im Wald gesehen. Sie hatte ihn abzuschießen versucht. Ob das wohl dieser Nathan Kershner gewesen war?
»Was genau ist passiert?«, fragte Sir George.
Amonite fasste zusammen, was ihr Informant in der Islingtoner Wache ihr während eines raschen Anrufs kurz zuvor geflüstert hatte.
»Tony hat den Polizisten erstochen?«, hakte George nach. »Das dürfte nützlich sein.« Er beugte sich vor. »Ich bin sicher, dass der Typ bei ihm Nathan Kershner gewesen ist. Der Kerl war von Anfang an ein wandelndes Pulverfass. Wenn Sie mit El Patrón sprechen, sagen Sie ihm, er soll sich keine Sorgen machen. Ich werde meinen Laden mal ein bisschen aufmischen. Und Sie unternehmen in der Zwischenzeit was.«
»Gegen Kershner?«
»Nicht doch, das wäre nun wirklich zu verdammt offensichtlich. Gebrauchen Sie Ihren Verstand, meine Gute. Ich könnte das nie unter den Teppich kehren. Cedric würde durchdrehen.«
»Also jemanden, der Kershner nahesteht?«
»Korrekt. Machen Sie sie etwas kopfscheu. Jagen Sie unserem Freund einen tüchtigen Schrecken ein.«
Sir George tätschelte ihr wieder die Schulter. Amonite erstarrte. Wie konnte er es wagen, sie derart herablassend zu behandeln. Sie hätte gute Lust gehabt, ihm seine Spitznase zu Brei zu schlagen.
»Wie war Jamaika?«, fragte Sir George. »Wie macht sich unser Reverend?«
»Ausgezeichnet.«
»Er kann sich keine Schnitzer leisten. Das wissen Sie?«
»Der Reverend ist hundert Prozent vertrauenswürdig. Er war immer zuverlässig.«
»Jamaikaner und vertrauenswürdig…« Sir George warf einen Blick auf seine Uhr. Amonite wusste, das Gespräch war zu Ende.
»Da wäre noch was«, sagte sie.
»Hm?«
»Wann fliegen Sie nach Bogotá?«
»Heute Abend.«
»Ich brauche mehr Hardware. Weitere Lynx. Zwei Apaches. Trucks.«
»Sie können sich drauf verlassen.« Sir Georges Telefon summte. Ohne Amonite weiter zu beachten, nahm er es ans Ohr und schlenderte davon. Er setzte sich an einen Tisch fast ganz vorne, gleich neben Zathanaís, der mit seiner Rede inzwischen fertig war.
Amonite stürzte einen weiteren Espresso in sich hinein. Er schmeckte so bitter, wie ihr zumute war. Sie warf noch einen letzten Blick über die Konferenz. Sir George und Zathanaís waren bereits in ein Gespräch vertieft, die Köpfe zusammengesteckt wie Verliebte bei einem romantischen Essen. Sprachen die denn überhaupt miteinander? Wo sie doch erst einige Wochen zuvor über Plan Colombia aneinandergeraten waren?
Amonite wischte sich ein Stäubchen vom schwarzen Hemd. Die Welt der Politik war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Sie nahm die Rolltreppe nach unten in die Lobby. Sie kam an Lucia vorbei, die mit dem Sicherheitsmann stritt. Er hielt ihren Pass außer Reichweite und schob sie in Richtung Eingang. Lucia gestikulierte heftig.
Amonite fand eine ruhige Ecke. Sie rief Dex an.
»He, Boss«, meldete er sich. »Was gibt’s?«
»Finde alles über einen gewissen Nathan Kershner heraus. Wo er wohnt, mit wem er verkehrt, mit wem er ins Bett geht. Und schick’s mir rüber.«
»Alles klar, bis wann?«
Sie sah auf ihre Uhr. »Sechzehn Uhr.«