Kapitel 19

North London, England
9. April 2011

Es war bereits 13.00 Uhr, als Nathan benommen in seine Wohnung kam. Caitlin saß in der Küche, ihr Blick weiß Gott wo, die Finger um einen Becher Kaffee. Sie war noch im Morgenmantel, ihr Haar unfrisiert. Nathan murmelte ein »Hallo« und ging direkt in sein Zimmer. Er trat sich die Schuhe von den Füßen, hängte seine Jacke über die Stuhllehne und warf sich aufs Bett.

Steve war nicht gestorben. Als die Sanitäter kamen, hatten sie noch einen minimalen Puls festgestellt, zu schwach als dass Nathan ihn hätte fühlen können. Aber er befand sich in kritischem Zustand: eine Bauchwunde mit heftigen inneren Blutungen, der Stich in die Brust hatte um Haaresbreite das Herz verpasst. Die Sanitäter meinten, er könne von Glück reden, dass er noch lebe.

Nathan hatte Steves Freundin angerufen und dann im University College Hospital an seiner Seite gewartet, bis sie aufgetaucht war. Sie war in Tränen ausgebrochen beim Anblick ihres Verlobten: leichenblass, bewusstlos, am Beatmungsgerät. Nathan hatte sich selbst die Tränen verbeißen müssen, als die Erschöpfung über ihm zusammenschlug. Er war in ein Taxi gesprungen und nach Hause gefahren. Unterwegs hatte er daran gedacht, sich mit Cedric in Verbindung zu setzen, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, musste sich ausschlafen, Abstand gewinnen, die nächsten Schritte überlegen.

Kaum hatte er sich hingelegt, fiel er auch schon in einen unruhigen Schlaf. Nur vage bekam er das Knallen der Wohnungstür mit. Wahrscheinlich ging Caitlin für den Nachmittag weg. Er träumte von Mexiko. Er fuhr in einer nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichneten Rostlaube von einem Van durch die Seitenstraßen von Juárez. Hinten drin saßen vier Leute von den Spezialkräften in Zivil, alle bis an die Zähne bewaffnet: leichte MGs vom Typ Minimi im Natokaliber, Pistolen vom Typ Sig Sauer 230 und Splittergranaten. Einer von ihnen war Steve, der Witze riss und den anderen grinsend auf die Schulter klopfte. Was hatte er in Mexiko zu suchen? Er hatte doch gar nicht zum Team gehört. Sollte er nicht irgendwo im Krankenhaus liegen?

Sie fuhren in Richtung eines Anwesens, in dem sich einem Informanten zufolge Amonite mit Don Camplones aufhielt. Als sie hinkamen, ragte eine knapp drei Meter hohe, mit den Narben von Einschüssen übersäte Mauer über ihnen auf. Das Ganze sah unbewohnt aus. Es war totenstill. Der Himmel verdüsterte sich, wurde schwarz. Die Jungs von den Spezialkräften wurden immer kleiner. Beim nächsten Augenaufschlag waren sie verschwunden. Die Mauern um das Anwesen wuchsen in den Himmel, türmten sich über einem verängstigten Nathan auf. Er wollte davonlaufen, aber seine Schuhe klebten auf der Erde. Ihm wurde klar, dass er in eine Falle getappt war, dass Amonite jeden Augenblick auftauchen, dass die Folter beginnen würde und damit der Schmerz.

Er schrie.

Er fuhr hoch; sein Herz raste. Er riss sich das Hemd vom Körper, griff nach der Flasche Wasser auf dem Schreibtisch, trank sie in einem Zug aus. Er warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch: 11.12 Uhr.

Die Tür zu seinem Zimmer sprang auf.

»Was zum Geier treibst du denn?«, fragte Caitlin.

Nathan konnte nicht antworten. Er wartete darauf, dass sein Atem sich wieder beruhigte.

»Nathan, was ist denn gestern passiert? Du sahst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Nathan schüttelte den Kopf. Er wollte nicht darüber reden.

»Du hast fast vierundzwanzig Stunden geschlafen.« Caitlin lehnte sich an die Wand. »Du musst ja völlig fertig gewesen sein.«

Nathan sank zurück aufs Bett und schloss die Augen. Er hörte Caitlin seufzen, bevor sie wieder hinausging. Er wälzte sich auf die Seite und stellte sein Handy an. Keine Nachrichten. Er stand auf und taumelte in die Dusche. Dann zog er sich an und ging in die Küche. Er war noch immer benommen und völlig ausgelaugt, also machte er sich eine Tasse starken Kaffee und ein Spiegelei auf Toast.

»Caitlin?« Keine Antwort.

Er spähte in die Diele. Ihr Mantel und ihre Handtasche waren nicht da, wo sie hingehörten; sie musste wohl ausgegangen sein. Während er aß, hörte er Radio. Die Nachrichten drehten sich um den Nahen Osten, wo die Aufstände sich von einem Staat auf den anderen ausbreiteten. Sah ganz so aus, als sei die Front aus den Schlagzeilen verschwunden. Flüchtig erwähnte man die Ermittlungen der Polizei hinsichtlich einiger Schießereien in North Londoner Crackhäusern, aber das war es auch schon.

Er rief im Krankenhaus an und schaffte es, zu Steves Freundin durchzukommen. Sie war etwas klarer als am Tag zuvor. Steve war im Koma, hatte aber die kritischen Stunden überlebt. Er würde überleben, aber es würde Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis er wieder auf den Beinen war.

Nathan überlegte, ob er Cedric anrufen sollte. Nein, das konnte warten. Er musste sich noch etwas ausruhen, abgesehen davon war ohnehin Sonntag. Er versuchte die Ereignisse in dem Crackhaus zu verdrängen. Er hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Er hätte Steve erst gar nicht auf den Gedanken bringen dürfen! Er würde der SOCA eine Menge zu erklären haben.

Er musste sich beschäftigen. Er ging zurück in sein Zimmer und suchte im Internet Informationen über den Drogenhandel in Jamaika – irgendetwas, was ihn weiterbringen könnte, selbst wenn es nur Hintergrundinformationen waren. Auf der Website der BBC fand er einen Artikel, laut dem jamaikanische Banden einige Wochen zuvor einen ausgewachsenen Krieg gegen eine Crackgang aus North London vom Zaun gebrochen hatten. Es ging um Anteile am Drogenmarkt.

Eine North Londoner Crackgang? War damit Tonys Gang gemeint.

Hatte Amonite damit zu tun gehabt?

Darüber hinaus war auch auf anderen Websites nicht viel mehr in Erfahrung zu bringen. Es war immer ein und dieselbe Geschichte in zahllosen Versionen. Journalisten waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie recycelten nur immer wieder ein und dieselbe Story.

Er stieß auf einen Bericht über Verbrechen, Gewalt und wirtschaftliche Entwicklung in der Karibik; er stammte von der Weltbank und dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung. Man sah im Drogenhandel den Hauptgrund für den hohen – und weiter steigenden – Level an Gewalt und Verbrechen in der Region. Was Nathan ziemlich offensichtlich schien. Nathan war einmal im Rahmen eines Fortbildungskurses der SOCA in Kingston gewesen. Mit eigenen Augen hatte er die großartigen Anwesen der Drogenbarone gesehen, die die Hänge der Blue Mountains um die Stadt überzogen. Er hatte den von Kriminalität gebeutelten Slum Tivoli Gardens besucht, wo man Morgen für Morgen die Opfer der Bandenkriege um die Drogenreviere fand. Und jeden Tag wurden es mehr. Er hatte mit den überforderten und demoralisierten Polizisten gesprochen, die außerstande und oft längst nicht mehr willens waren, etwas dagegen zu tun.

Er nahm seine Recherchen bezüglich Kolumbien wieder auf, von dessen großen Erfolgen im Krieg gegen die Drogen allenthalben die Rede war. Er fand einen Artikel mit einem Zitat des UNODC-Direktors vom Juni, in dem es hieß, dass die Strategie der kolumbianischen Regierung, Sicherheits- und Entwicklungspolitik miteinander zu verbinden, sich auszuzahlen begann. Allein 2009 habe man 200 Tonnen Kokain beschlagnahmt, was man als bedeutende Leistung rühmte. Erst einen Monat zuvor habe der Internationale Suchtstoffkontrollrat Kolumbien von der Liste der Länder genommen, die der besonderen Beobachtung bedürfen. Begründet hatte man das mit erheblichen Fortschritten. Laut UNO habe die Ausmerzung des Kokaanbaus im großen Stil zwischen 2000 und 2009 zu einem Rückgang um 58 Prozent geführt. Die Berichte über die Kokainproduktion waren jedoch ziemlich widersprüchlich; einigen zufolge war sie im Sinken begriffen, laut anderen stieg sie gewaltig an. Tatsache war, dass die Kriminalität in den Städten aufgrund des zunehmenden Kokainkonsums im Land stetig stieg.

Nathan legte den Kopf in die Hände. Die Sinnlosigkeit von alledem war deprimierend. Das rapide Anwachsen der Front war ein klarer Hinweis darauf, dass Kolumbiens Drogenstrategie ein Schuss in den Ofen war. Bestätigt fand er das jedoch nicht. Nur weitere Angstmache seitens der Behörden.

Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

Bis in die jüngste Zeit war er von der Richtigkeit seines Kampfs gegen die Drogen überzeugt gewesen. Was hatte sich inzwischen geändert?

Er stand auf und ging in den Park nahe der U-Bahn-Station Caledonian Road. Alkoholiker hingen um die Parkbänke herum, gestikulierten mit ihren Spritflaschen, schrien aufeinander ein. Eine jähe Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Ein hochgewachsener Mann in einer Lederjacke wandte sich ab.

War er paranoid? Spielten ihm seine Nerven einen Streich?

Er ging wieder nach Hause. Caitlin war noch immer nicht da. Er machte sich einen Teller Spaghetti Bolognese. Er setzte sich vor den Fernseher und sah sich einen hirnlosen Actionstreifen an. Abends um zehn kam Caitlin hereingestolpert, angetrunken; sie verschwand sofort in ihrem Zimmer.

Am nächsten Morgen hörte Nathan zum Frühstück die Nachrichten auf Radio 4. Er hatte wieder nicht sonderlich gut geschlafen. Er war mit seinen Gedanken bei Steve und versuchte sich zurechtzulegen, was er Cedric sagen sollte.

»Die Polizei ermittelt in einer Serie von Gewalttaten in einigen Crackhäusern in North London in der Nacht vom Freitag auf Samstag«, sagte der Nachrichtensprecher. »Ein Polizist befindet sich in kritischem Zustand, ein mutmaßlicher Drogenhändler kam einer anonymen Quelle der BBC zufolge bei den Gewalttaten um.«

Der Kaffeebecher blieb kurz vor Nathans Mund stehen.

»Es gibt Hinweise darauf, dass ein hochriskanter Einsatz eines Undercover-Agenten der Serious Organised Crime Agency nach hinten losging.«

Nathan knallte den Becher so hart zurück auf den Tisch, dass er überschwappte.

»Das wird den ohnehin schon großen Druck auf die SOCA–«

»Hi, Nathan.«

Caitlin war im Türrahmen aufgetaucht.

Nathan stellte das Radio lauter, aber der Nachrichtensprecher war zum nächsten Punkt übergegangen. Er schob sich wortlos an Caitlin vorbei. Er griff sich Tasche, Schlüssel und Jacke.

»Was ist denn?«, fragte Caitlin schmollend. »So betrunken war ich gestern Abend auch wieder nicht.« Er verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort. Als er zu seinem Wagen ging, kochte er vor Unwillen und Zorn.

Wer zum Teufel hatte das zur BBC durchgestochen? Und wie kamen die dazu, ihm die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben?

Schwarzer Koks
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