Kapitel 59
Bogotá,
Kolumbien
14. April 2011
Das Geschrei kam näher, ein Rudel Wildhunde, das ihre Beute stellte. Nathan drückte sich flach gegen die Wand, seine Hände tasteten in der Dunkelheit nach einem Ausgang. Dann kauerte er sich in eine Ecke, den spitz geschliffenen Schraubendreher fest in der Hand.
Kam gar nicht in Frage, dass er sich kampflos ergab.
Ein Bild von Caitlin schoss ihm in den Kopf.
Ich habe dich im Stich gelassen, Schwesterchen.
Die Rufe verstummten. Das Flackern der Flammen an der Wand gegenüber, war so gut wie erloschen. Das Knirschen von Steinen unter schweren Stiefeln kam auf ihn zu.
Nathan schlich die Wand entlang an die Biegung, bereit, mit dem Schraubendreher auf jeden loszugehen, der als erster um die Ecke kam. Wenn er Glück hatte, konnte er ihm das Gewehr entreißen und zum Angriff übergehen. Vielleicht konnte er ein paar von ihnen mitnehmen, bevor man ihn überwältigte.
Einige Ratten huschten Nathan über die Stiefel. Dann noch einige mehr. Sie schienen alle direkt in der Wand zu verschwinden. Nathan tastete mit der Hand nach unten in der Erwartung, einen kleinen Spalt zu finden.
Sein Herz tat einen Satz. In Kniehöhe befand sich ein Loch, das gerade groß genug war, um hineinzukriechen. Er steckte die Hand tiefer hinein und spürte Stein. Das Loch war blockiert. Er nahm sich die andere Seite vor. Stieß auf ein weiteres Loch. Wieder schob er die Hand tiefer hinein.
Sie griff ins Leere. Ein weiterer Tunnel?
Nathan kroch in das Loch. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er eine Silhouette mit einer starken Lampe an der Ecke des Korridors. Nathan robbte weiter. So schnell es nur gehen wollte, zog er die Knie an und stieß sich ab. Der Tunnel führte nach unten. Hinter ihm wurde gerufen. Das Knirschen laufender Stiefel war zu hören. Immer tiefer kroch er in den Schacht.
Mit einem Mal hing sein Oberkörper in der Luft. Er kippte vornüber und fiel ins Leere. Er streckte die Hände aus. Mit dem ganzen Gewicht seines Körpers schlug er auf. Er rollte sich ab.
Schüsse krachten im Tunnel über ihm. Nathan sah zu, dass er auf die Beine kam. In absoluter Finsternis tastete er sich die Wand entlang. Er schien sich in einem Raum zu befinden. Er tastete, bis er so etwas wie einen Ausgang gefunden zu haben schien. Er stolperte über etwas Weiches.
Es bewegte sich.
Amonite rammte den Kolben ihres Gewehrs gegen die Wand. Die ASI-Agenten traten einen Schritt zurück.
Sie fuhr herum. »Ihr inkompetenten Trottel.«
»Sollen wir hinterher?«, fragte Zathanaís.
Amonite richtete den Schein ihrer Lampe in das Loch. Dutzende von kleinen Augen schimmerten ihr entgegen.
»Ich gehe«, sagte sie. »Geht ihr mal besser nach oben und bewacht die Ausgänge.«
Nathan wollte eben über den Körper hinwegsteigen, als sich eine Hand um seinen Knöchel legte. Er trat danach und hörte einen verschreckten Schrei. Er griff nach unten und bekam einen Wuschelkopf zu fassen. Er zerrte ihn hoch und legte seinem Angreifer den Unterarm um den Hals.
»Lass mich!« Es war die Stimme eines Jungen. Mit einer Hand tastete Nathan den Jungen ab, fand aber nichts.
»Bring mich nicht um.« Der Junge wand sich unter seinem Arm. »Bitte.«
»Keine Bange.« Nathan lockerte seinen Griff. »Bring mich hier raus.«
»Wie viel?«
»Hundert Dollar.«
Licht flackerte aus dem Tunnel über ihnen. Dann ein wetzendes Geräusch, als jemand gekrochen kam.
»Wer ist das?«, fragte der Junge.
»Todeskommando.«
»Okay.« Die Stimme des Jungen bebte. »Hier lang.«
Nathan nahm den Arm vom Hals des Jungen und ergriff seine Hand. Er hatte keine Ahnung, ob das Straßengör zuverlässiger war als der Junkie vorhin.
»Geh voran«, sagte er.
Der Junge zog ihn in die Finsternis. Nathan stolperte über allerhand Müll und unvermutete Löcher im Boden. Hinter ihm hörte er einen Aufprall. Dann fluchte jemand.
»Beeil dich!«, flüsterte er dem Jungen zu.
Eine blaue Flamme erschien vor ihm. Der Junge hatte ein Gasfeuerzeug in der Hand. Sie gingen um eine scharfe Biegung. Der Junge schüttelte Nathans Hand ab. Sie sprinteten los. Kaum dass ein paar Meter des Tunnels vor ihnen zu sehen war.
»Ich krieg dich, Kershner.« Die Stimme gehörte Amonite. Sie hallte von den Wänden. »Niemand hält Amonite Victor zum Narren.«
Sie rannten eine schlüpfrige Steintreppe hinauf. Oben gelangten sie an eine Kreuzung. Nathan folgte dem Jungen in den Korridor, der nach rechts wegführte. Einmal mehr sah Nathan sich knietief im Schlamm.
Hinter ihnen waren hallende Schritte zu hören.
Sie erreichten eine weitere Kreuzung. Auch hier nahm der Junge den Korridor rechts. Nathan war dem Kleinen dankbar. Alleine hätte er sich hier hoffnungslos verlaufen. Dieser Korridor hatte eine leichte Steigung. Der Junge knipste das Feuerzeug aus. Ein schwaches Licht tauchte vor ihnen auf.
Nathan griff nach den Schultern des Jungen. »Bist du sicher, dass wir hier sicher sind?«
»Man ist hier nirgendwo sicher. Ich geh zuerst.«
»Nein, lass mich voran.«
Nathan schlich weiter. Über ihm führte der Tunnel ins Freie. Zweige hingen vor dem Zugang. Hinter ihnen war nichts mehr zu hören. Sie mussten Amonite in den Tunneln abgehängt haben. Um im Dunkeln zu bleiben, tastete Nathan sich die Wand entlang, Zentimeter für Zentimeter. Er begann Verkehrslärm zu hören. Es wehte ein Wind, der die finsteren Wolken vor dem leuchtenden Vollmond beiseiteschob. Er nahm einen langen tiefen Zug frischer Luft.
Auf der einen Seite des Ausgangs befand sich ein Mann in schwarzem Kampfanzug. Er stand halb abgewandt, ein Sturmgewehr über der Schulter, und rauchte eine Zigarette. Nathan schob sich an ihn heran. Sein Daumen strich über die scharfe Spitze des Schraubendrehers in seiner Hand.
Drei Meter… zwei Meter…
»He!«
Man hatte ihn gesehen. Es fielen Schüsse. Nathan sprang den Mann an, stieß ihm den Schraubendreher in den Hals. Er riss ihn herum. Kugeln pfiffen an ihm vorbei. Nathan ging zu Boden, zog den Mann mit sich hinab. Der Mann erschauerte. Nathan riss ihm das Gewehr von der Schulter. Er nahm es herum und richtete es auf das Mündungsfeuer. Er gab einige kurze Feuerstöße ab. Er hörte ein Ächzen; es fiel jemand hin. Nathan stieß die Leiche von sich weg. Er rollte sich seitwärts in einen Graben, kniete sich auf und spähte über den Lauf des Gewehrs hinweg durch das Gestrüpp.
Es rührte sich nichts.
Er kroch vorwärts und fand die Leiche des zweiten Mannes. Er hatte an einem Baum gelehnt, so dass er ihn nicht hatte sehen können. Er trug eine Bandage um die Hand. Nathan erkannte in ihm den Gorilla mit der Schweineschnauze, der sie vor Lucias Wohnung angegriffen hatte. Nathan ging seine Taschen durch. Er fand ein Telefon.
»He, Mister.« Der Junge stand hinter ihm.
Nathan fand eine Börse in der Gesäßtasche der Schweineschnauze. Er warf sie dem Jungen zu.
»Danke.« Die Augen des Kleinen blitzten im Mondlicht auf. Er war so was von jung, wahrscheinlich kaum acht Jahre, aber er hatte den kalten Blick eines Mannes, der fünfmal so alt war. Er lief in Richtung Straße davon.
Nathan entledigte sich seiner Kleidung oder was davon noch übrig geblieben war. Er warf die Sachen in den Graben. Dann zog er dem ersten Kerl Hemd und Hose aus. Der Mann hatte ein Tattoo auf dem Oberarm: I V IV. Nathan zog sich die Sachen über. Sie passten ihm mehr oder weniger. In der Tasche der Hose fand er eine Glock. Das Magazin war voll.
Damit war er wenigstens bewaffnet. Am liebsten wäre er zurück in die Kanalisation, um es Amonite zu besorgen. Aber er wusste, das wäre Selbstmord gewesen. Ihn erwartete ein Irrgarten, und sie hatte alle Trümpfe in der Hand.
Er warf das Gewehr beiseite. Er eilte linkerhand an einigen baufälligen Häusern und primitiven Ziegelhütten vorbei in eine finstere Gasse. Sie war nicht asphaltiert und voller Steine. Ein ausgemergelter Köter beschnüffelte einen Haufen Unrat, ansonsten schien die Gegend verlassen. Nathan tippte auf die Ciudad Bolivar.
Einige Minuten später tauchte er in den Eingang eines verlassenen Hauses, der nach Urin und Erbrochenem stank. Er klappte das Mobiltelefon auf und wählte eine Nummer.
Es klingelte. Und klingelte.
Geh ran, Lucia, geh ran.
»Wer ist da?« Es war Lucias bange Stimme.
»Ich.«
»Nathan! Was ist passiert?«
»Sie haben dich nicht erwischt?«
»Ich habe Manuel bei mir. Wo steckst du?«
»Kann ich nicht sagen. Wo können wir uns treffen?«
Sie nannte ihm die Adresse eines Cafés im Zentrum.
»Wir sehen uns in zwei Stunden«, sagte er. »Und wirf dein Telefon weg. Die spüren dich damit auf.«
Nathan legte auf. Er warf das Telefon auf den Boden und zertrat es unter dem Absatz. In der Ferne heulten Polizeisirenen. Er grub die Hand in die Tasche und schloss die Finger um den Griff der Pistole. Er blickte hinauf in den Nachthimmel. Kolumbien liegt in der südlichen Hemisphäre. Das bedeutete für ihn, dass er bei den Sternen umdenken musste, aber er wusste noch genug von den Geländeübungen, um Nordosten zu finden. Und damit die Richtung des Zentrums von Bogotá.
Er spürte seinen Puls in den Schläfen. Trotz des Winds lief ihm der Schweiß den Rücken hinab. Nathan ging tiefer in das unbekannte Dunkel von Ciudad Bolivar.