Kapitel 95

Putumayo, Kolumbien
17. April 2011

Lauschend drückte Nathan sich flach gegen die Wand. Alle seine Sinne waren plötzlich hellwach. Trotz der schummrigen Beleuchtung war sein Blick wieder messerscharf. Selbst sein Tastsinn war ultrasensibel.

Schritte kamen den Korridor herauf. Er unterschied drei Paare. Seine zusammengekniffenen Augen erspähten eine Kreuzung. Ohne ihn zu sehen, gingen die Wachen an ihm vorbei.

Nathan wandte sich nach rechts und erreichte die Metalltür zum Labor. Er hielt die Schlüsselkarte vor den Scanner. Die Tür ging auf.

Drei Männer in Laborkitteln standen über eine Reihe von Reagenzgläsern gebeugt. Ihre Köpfe fuhren beim Öffnen der Tür herum. Einer von ihnen gehörte Grantling. Ein Ausdruck der Irritation legte sich auf sein Gesicht, als fragte er wortlos, wer zum Teufel den Nerv hatte, ihn bei der Arbeit zu stören. Dann erkannte er Nathan und bekam den Mund nicht mehr zu.

Nathan hob die Pistole. Auch der letzte Skrupel, diese Leute zu töten, verflog unter dem Einfluss der Droge, die nach wie vor in seinen Adern pulsierte. Er feuerte sechsmal. Grantling ging als erster zu Boden. Die beiden anderen brachen über ihm zusammen wie Marionetten, deren Fäden eben gekappt worden waren. Nathan sprang hinüber und gab jedem mit einem einzelnen Kopfschuss den Rest. Sie zuckten noch ein letztes Mal, dann lagen sie reglos da.

Nathan sah sich um. Sein Rucksack stand auf einem Tisch in der Ecke, neben einer Stahltrommel mit den überlappenden Kreisen des Warnzeichens für Biogefährdung obenauf. Er holte das Nachtsichtgerät heraus, das Semtex nebst Kabeln und Fernzünder. Er platzierte den Plastiksprengstoff an Schlüsselstellen im Raum und legte die Kabel. Es brauchte seine Zeit, aber sein glasklarer Verstand sagte ihm, dass Schlamperei jetzt fehl am Platz war. Er hatte zu viele Operationen den Bach runtergehen sehen, nur weil der Feuerwerker gehudelt hatte.

Er ging sein Werk noch mal durch. Es war alles bereit für eine Fernzündung, sobald er hier raus war. Zufrieden mit seiner Arbeit, ging er auf die Tür zu, die in den anderen Gefängnistrakt führte.

Amonite fuhr auf ihrem Stuhl in der Kommandozentrale herum.

»Mach mir mal eine Verbindung mit El Patrón«, sagte sie.

Dex drückte eine Nummer in sein Mobiltelefon und reichte es Amonite.

»El Patrón?«

»Habe ich nicht gesagt, dass ich Sie anrufe?«

»Es gibt da ein kleines Problem.«

El Patróns Stimme war von bedrohlichem Ernst: »Ein Problem?«

»Nathan Kershner. Er ist wieder da.«

Es herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Ich bin eben dabei, mich darum zu kümmern«, sagte Amonite mit zugeschnürtem Hals.

»Sie inkompetente dumme Gans! Ich komme rüber.«

»Das wäre zu gefährlich.«

»Nichts ist zu gefährlich für El Patrón. Übrigens ist ein spezieller Freund von Ihnen vorbeigekommen. Er hat mir da einiges erzählt in Bezug auf Sie. Ich werde ihn mitbringen. Ich denke, wir sollten uns alle mal offen unterhalten.«

»Ein Freund?«

Aber El Patrón hatte bereits aufgelegt.

Amonite starrte ausdruckslos in den Monitor des Computers vor ihr. Wie konnte er es wagen, so mit ihr zu reden? Und von wem zum Teufel hatte er da gesprochen? Sie hatte keine Freunde.

Dex nahm das Telefon wieder an sich. »Hat er was über die Gala gesagt? War er mit dem Ergebnis zufrieden?«

Amonite schlug mit der Faust auf den Tisch. El Patrón wollte herüberkommen und sie hatte nicht eine gute Nachricht für ihn. Sie knallte den Deckel ihres Laptops zu, stand auf und griff nach dem Sturmgewehr, das gegen die Wand gelehnt war.

»Gehen wir auf die Jagd«, sagte sie.

Nathan versuchte die Karte an dem Scanner für Zelle mit den anderen Gefangenen. Nichts tat sich. Er versuchte es noch einmal, als ihm klar wurde, dass der Besitzer der Karte keine Berechtigung zum Öffnen der Tür gehabt hatte. Er lief zurück zum Labor, durchsuchte Grantlings Taschen, fand seine Karte und lief wieder zurück.

Die Tür glitt auf. Wie beim ersten Mal raubte ihm der Gestank von Tod und Fäulnis schier den Atem. Der Raum war stockdunkel. Er schaltete das Nachtsichtgerät an.

Alle Gefangenen waren tot. Sie lagen kreuz und quer übereinander. Nathan durchquerte dieses groteske Mahnmal der Grausamkeit und wäre dabei um ein Haar in einer Blutlache ausgerutscht. Ihn interessierten die Türen an der hinteren Wand. Sie sahen ihm nach einer Reihe von Zellen aus. Er führte die Karte an dem Scanner neben der ersten vorbei. Die Zelle war leer. Er versuchte es mit der nächsten. Auch sie war leer.

Er kämpfte gegen die aufsteigende Verzweiflung an. Wenn Manuel nicht in der letzten Zelle war, müsste er weitersuchen. Nur dass ihm die Zeit zwischen den Fingern zerrann. Inzwischen musste doch alles in höchster Alarmbereitschaft sein.

Die Tür zur letzten Zelle öffnete sich. Nathan spähte hinein. Ein Mann kauerte in einer Ecke. Nathan griff nach seinen Schultern und schüttelte ihn. Der Mann bewegte sich nicht. Nathan checkte seinen Puls: Er war noch am Leben. Der Mann öffnete zwei trübe Augen.

Erst jetzt erkannte Nathan in ihm den jungen Soldaten, den sie im Schrank verstaut hatten. Man hatte ihn ganz eindeutig eingesperrt und bestraft.

»Wo ist der Campesino?«, fragte Nathan.

Der Mann zuckte zusammen und stammelte etwas.

»Mi amigo?«, sagte Nathan. »Donde es?« Der Junge schüttelte verzweifelt den Kopf.

Das brachte doch nichts. Nathan eilte aus der Zelle, um den Leichenhaufen herum und zurück ins Labor. Vielleicht war Manuel noch nicht mal mehr im Komplex.

Er hörte ein statisches Rauschen. Er lief auf Grantlings Leiche zu und riss ihm das Walkie-Talkie vom Gürtel.

»Herbert?« Es war Amonite. »Antworte, du dummes Arschloch!«

Nathan stellte das Walkie-Talkie ab und steckte es an seinen eigenen Gürtel. Er verließ das Labor durch die Tür auf der anderen Seite.

Er musste Manuel finden.

Amonite platzte ins Labor. Sie sah drei Leichen auf dem Boden, inmitten einer riesigen roten Lache.

»Herbert!«, rief sie und riss seinen Körper herum. Sie kniete nieder und fühlte nach einem Puls. Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie wieder hoch und trat Herberts Leiche wiederholt gegen den Kopf.

»Du Vollidiot«, rief sie. »Du gottverdammter Idiot!« Eine kräftige Hand griff nach ihrer Schulter.

»Krieg dich wieder ein, Boss«, sagte Dex. »Kershner muss ganz in der Nähe sein.«

»Er hat meinen wichtigsten Wissenschaftler umgebracht. Was wird El Patrón dazu sagen? Das ist eine Katastrophe.«

»Erst schnappen wir uns Kershner. Um alles andere kümmern wir uns danach.« Dex wies auf die offene Tür zu den Gefängniszellen.

»Vielleicht da unten.«

Brummend legte Amonite den Sicherungsflügel ihres Sturmgewehrs um. Dafür würde Kershner bezahlen. Dex nur einen Schritt hinter ihr, hielt sie auf den Zellentrakt zu.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte Amonite als sie den Haufen verfaulender Leichen sah.

»Sieht fast so aus, als wären sie tot.«

»Das sehe ich selber. Aber warum zum Teufel hat Herbert sie sterben lassen?«

»Er wird sie wohl nicht mehr gebraucht haben. Oder der Stoff war zu stark.«

Wieder stöhnte Amonite auf. Sie erreichten die hinteren Zellen. In der ganz rechts kauerte der junge Kerl an der Wand. Amonite trat ihm in die Rippen. Er blickte auf und wich vor ihr zurück in die Ecke. Er zitterte am ganzen Leib.

»Hast du jemanden gesehen?«, fragte Amonite ihn auf Spanisch.

Er antwortete nicht. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Kinnlade zitterte. Amonite tat einen Schritt auf ihn zu. Er hielt sich die Hände vors Gesicht.

»Ich hab dich was gefragt.« Amonite hob den Gewehrkolben.

»Hast du jemanden gesehen?«

Der junge Posten nickte eifrig.

Amonite trat ihn wieder. »Na wen?«

»Denselben Mann wie beim letzten Mal.«

»Wo ist er hin?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Bitte, tu mir nichts.«

»Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«

Der Junge rollte sich ein. Amonite drosch ihm den Gewehrkolben auf den Kopf. Er rührte sich nicht mehr.

»Kershner kann nicht weit sein«, sagte Amonite. »Schnappen wir uns das Schwein.«

Nathan kauerte in einem kleinen Alkoven, als eine Gruppe Wachen an ihm vorbei auf das Labor zulief. Vorsichtig verließ er die finstere Nische und lief weiter, bis er eine Treppe erreichte, die eine Etage höher führte. Er ging davon aus, dass er sich irgendwo in der Nähe der Kommandozentrale des Komplexes befand. Er konnte entweder das ganze Erdgeschoss absuchen oder in der nächsten Etage nachsehen.

Drei Stufen auf einmal rannte er die Treppe hinauf. Es hatte jetzt keinen Sinn mehr, irgendetwas langsam und methodisch angehen zu wollen. Er erreichte einen Raum mit drei Schreibtischen, einigen Stühlen, Flipcharts, Telefonen, Funkgeräten. Es musste eine Art Kommandozentrale sein. Auf dem Tisch vor ihm stand ein Laptop. Er steckte ihn in seinen Rucksack. Er platzierte etwas Semtex mit Zündern unter den Schreibtischen, dann lief er die Treppe wieder hinab.

Schritte. Zwei Leute. Sie näherten sich.

Er lief in die entgegengesetzte Richtung zu der, aus der er gekommen war. Am Ende eines finsteren Korridors erreichte er eine Metalltür. Nathan hielt die Karte vor den Scanner und eilte hindurch. Er sah sich in einem großen Raum mit Säcken des schwarzen Pulvers. Hier lag genügend Black Coke, um für eine Katastrophe zu sorgen, wenn es auf die Straße kam. Gleich daneben stapelten sich einige Kisten. Einige davon waren offen. Sie enthielten Hunderte von britischen Gewehren vom Typ L85A2 nebst Munition und RPGs. Einige der Kisten waren voll C4, dem Plastiksprengstoff des amerikanischen Militärs. Hier lag genügend Feuerkraft für eine kleine Armee.

Nathan holte einen großen Brocken Semtex aus seinem Rucksack. Wenn es ihm gelang, das Lager in die Luft zu jagen, würde der halbe Komplex mit hochgehen. Während er den Sprengstoff verteilte, bemerkte er, von einem Schrank fast verdeckt, eine Tür. Er schob den Schrank beiseite und öffnete die Tür. Der Raum dahinter war dunkel. Er schaltete das Nachtsichtgerät an und trat ein.

Er bekam einen Schlag auf den Kopf. Taumelnd wich er zurück. Ein weiterer Schlag traf ihn gegen die Brust, ein nächster in den Bauch. Er schnappte nach Luft. Sein Angreifer trat ihm gegen die Knie. Er knickte ein. Er versuchte den Mann zu erkennen, sah aber nur ein Knäuel zuschlagender Arme und Beine.

Nathan duckte sich seitwärts weg. Er trat mit dem rechten Fuß zu und traf seinen Angreifer im Schritt. Der Mann sackte gegen die Wand. Nathan sprang auf und richtete die Waffe auf ihn.

Der Mann hob den Kopf. Nathan erstarrte.

»Manuel!«

»Nathan, bist du das?«

Nathan ergriff Manuels Arm und zog ihn hinaus ins Licht des Lagerraums. Er riss sich das Nachtsichtgerät vom Kopf.

»Ich hätte dir um ein Haar eine Kugel in den Kopf gejagt«, sagte Nathan.

»Was bin ich froh, dich zu sehen, mein Freund.«

»Bist du in Ordnung?«

»Ich lebe noch.«

»Na dann, lass uns hier verschwinden.«

Amonite schritt an der Treppe zum Kommandoraum vorbei. Dann blieb sie stehen.

»Schau nach, ob er nicht vielleicht da oben ist«, rief sie Dex zu. Dex hastete nach oben.

»Hier ist keiner«, kam seine Stimme von oben.

»Nimm den Laptop mit.«

»Welchen Laptop?«

»Na der auf dem Tisch vor dir, du Vollidiot.«

»Da ist keiner.«

»Was?« Amonite lief selbst nach oben und schob sich an ihm vorbei. Sie sah sich in dem Raum um. Dex hatte Recht gehabt. Der Laptop war nicht mehr da. Sie riss ihr Walkie-Talkie aus der Tasche. »Macht alle Ausgänge dicht! Sofort!«

Sie sprang die Treppe wieder hinunter und lief den Korridor lang.

»Wo willst du hin?«, fragte Dex, der ihr wie immer auf dem Fuß folgte.

»Nachsehen, ob der Campesino noch da ist. Kershner kann jetzt nur noch im Lager sein.«

Schwarzer Koks
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