Kapitel 43

Bogotá, Kolumbien
13. April 2011

Nathan betrat das Gebäude von El Tiempo. Er wusste, dass er damit einen Riesenfehler beging. Ein offener Kampf im Haus wäre fatal. Es brauchten nur Angestellte ins Kreuzfeuer zu geraten und das Massaker war perfekt. Er schob sich durch das Gedränge vor der Rezeption. Die mächtigen Arme vor der gewölbten Brust verschränkt, sah der Mann vom Sicherheitsdienst ihn herausfordernd an.

»Papels de identificación, por favor.«

Nathan schob sich auf die Absperrung zu. Eine feiste Pranke griff nach ihm. Nathan schüttelte sie ab.

»No entra!«

Nathan stieß den Mann von sich weg. Der geriet ins Wanken; dann stürzte er sich nach vorn. Nathan erwischte ihn mit einem Seitwärtstritt, der ihn gegen den Empfangstresen warf. Leute schrien auf und liefen auf den Ausgang zu. Wieder ging der Mann von der Security auf Nathan los. Nathan sah sich um. Ein Metallstuhl. Er griff danach und schleuderte ihn dem Mann ins Gesicht. Dann sprang er über die Barriere und sprintete auf ein Schild zu, das auf das Treppenhaus wies. Mit einem Krachen schoss er durch die Tür. Drei Stufen auf einmal, sprang er keuchend die Treppe hoch. Es war nicht eben der diskrete Einsatz, den er sich erhofft hatte.

Hinter ihm hörte er die donnernde Stimme des Wachmanns: »Terroriste, terroriste!«

Als er den fünften Stock erreicht hatte, drosselte er das Tempo. Er atmete mehrmals tief durch. Es galt jetzt schnell zu handeln, bevor das ganze Haus alarmiert war, und das ohne weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Reihen von Schreibtischen und Computerterminals erstreckten sich vor ihm. Journalisten hackten auf ihre Tastaturen ein, telefonierten dabei, den Hörer zwischen Ohr und Achsel. Aktenmappen vor der üppigen Brust, stöckelten Sekretärinnen auf hohen Absätzen an ihm vorbei. Große Flachbildfernseher hingen von der Decke, auf denen sämtliche wichtigen Nachrichtenkanäle zu sehen waren. Es herrschte eine Atmosphäre kontrollierter Dringlichkeit, fast so als passierten die Geschehnisse rund um den Globus live in der Redaktion.

Niemand achtete auf ihn, als er durch die Schreibtischreihen nach hinten ging und dort in einen Korridor trat. Glastüren gewährten ihm einen Blick auf das geschäftige Treiben von Konferenzräumen und weiteren Büros.

Aber welches davon war Octavias?

Eine Sirene heulte los. Durchdringend. Zornig. Schrill.

Im Redaktionsraum hinter ihm brach großes Geschrei aus.

Nathan biss die Zähne zusammen. Der Security-Typ musste den Alarm ausgelöst haben. Nathan ließ sich nicht aufhalten. Eine Reihe geschlossener Türen am Ende des Korridors hatten Namensschilder. Er fand eines mit Octavias Namen. Er sah sich um. Von Amonite war nichts zu sehen.

Ein dumpfes Geräusch kam von jenseits der Tür, so als wäre etwas zu Boden gefallen.

Nathan drehte den Knauf. Abgeschlossen. Er warf sich gegen die Tür, die krachend aus den Angeln kam. Die Glock im Anschlag sprang er in den Raum.

Octavia kniete auf dem Boden, die blutunterlaufenen Augen weit aufgerissen. Sie versuchte nach Amonite zu greifen, die hinter ihr stand, eine Drahtschlinge um Octavias Hals. Blut spritzte auf die weiße Bluse der Journalistin, den cremefarbenen Teppich vor ihr. Octavia riss den Mund auf, aber es kam kein Laut.

Nathan richtete die Waffe auf Amonites Stirn. »Lassen Sie sie los!«

Einen grimmigen Ausdruck im Gesicht, sah Amonite auf. »Mach dich nicht lächerlich.«

»Loslassen, hab ich gesagt.«

Amonite zog die Schlinge enger. Octavias Augen sahen aus, als wollten sie explodieren. Nathan stützte die Schusshand mit der Linken ab. Er wollte nicht versehentlich Octavia treffen.

Geschrei. Leute kamen gelaufen. Stühle kippten um.

Amonite ließ los. Octavia brach auf dem Boden zusammen.

»Worauf wartest du?« Amonite griente. »Fehlt dir wieder mal der Nerv wie damals in Juárez?«

Nathan wollte eben abdrücken, als ihm etwas gegen den Rücken schlug. Er taumelte nach vorne und krachte gegen einen Aktenschrank. Der kippte um. Nathan fing sich und fuhr herum. Jemand hatte ihn von hinten angegriffen. Es war ein junger Journalist, der jetzt mit Amonite rang in dem Versuch, sie zu überwältigen. Nathan hob die Waffe und richtete sie wieder auf Amonite, aber sie stieß den Journalisten zwischen sich und ihn und holte eine Pistole aus der Jacke. Ein Knall erfüllte den Raum. Mit einem riesigen roten Loch im Rücken ließ der Journalist von ihr ab und brach über Octavias reglosen Körper zusammen.

Nathan schoss auf Amonite. Aber die war bereits durch die Tür und rannte den Korridor hinauf. Er setzte ihr nach und lief in die Redaktion. Journalisten, Sekretärinnen und Executives drängten auf die Ausgänge zu, stießen in ihrer Hast Stühle um. Stapel von Dokumenten landeten auf dem Boden.

Amonite schoss zweimal. Eine Frau schrie auf. Alles warf sich zu Boden. Amonite trampelte über Leute hinweg, die mit den Händen über dem Kopf auf dem Boden lagen. Dann hatte sie die Tür zum Treppenhaus erreicht. Sie drehte sich auf dem Absatz um und feuerte dreimal auf Nathan. Er duckte sich hinter einen Schreibtisch. Unter kleinen Putzfontänen bohrten die Kugeln sich über ihm in die Wand.

In Sekundenbruchteilen peilte Nathan die Lage. Binnen weniger Minuten würde es hier von Polizei nur so wimmeln. Amonite hätte wohl kaum ein Problem damit, sich da herauszureden, zu schweigen von Bestechung, Drohungen oder dem Einfluss der Front. Erwischte man dagegen ihn, würde man erbarmungslos durchgreifen. Er musste raus hier, und zwar sofort.

Die Tür zum Treppenhaus knallte gegen die Wand, als Amonite sie aufstieß, dann schlug sie hinter ihr zu. Mit großen Sätzen über die am Boden liegenden Körper setzte Nathan hinter ihr her. Stille hatte sich über die Redaktion gelegt; nur hier und da war ein Schluchzen zu hören.

Nathan erreichte die Tür. Er wollte sie eben aufstoßen, als jemand rief: »Waffe weg!«

Nathan sah über die Schulter. Es war der Mann vom Sicherheitsdienst. Sein Gesicht sah übel aus. Er hatte ein M-16 auf Nathan gerichtet.

»Keine Bewegung!«, schrie der Mann.

Jeder mit einem M-16 im Anschlag, tauchten drei weitere Security-Leute hinter ihm auf. Nathan spannte jeden Muskel in seinem Körper, bereit sich durch die Tür zu stürzen.

»Waffe weg oder ich schieße!«

Die Stimme des Mannes war von klirrender Härte. Nathan wusste, er würde nicht einen Augenblick zögern, ihn zu erschießen. Klappernd fiel seine Pistole zu Boden.

»Sie irren sich.« Mit sinkendem Mut hob Nathan die Hände und drehte sich um. »Die Mörderin entkommt.« Der Wachmann kam auf Nathan zu und stieß ihm den Kolben des Gewehrs in den Bauch. Nathan stöhnte vor Schmerz.

»Halt’s Maul, terroriste

»Sie machen einen Riesenfehler.«

Der Mann zog ein Paar schwarz eloxierte Handschellen aus der Gesäßtasche. Er drehte Nathan die Arme auf den Rücken und fesselte ihn. Dann stieß er ihn grob gegen die Wand.

Schreie kamen aus Octavias Büro. Journalisten liefen in den Korridor.

»Asesinato! Son muertos!«, schrie einer von ihnen. »Son muertos.«

Der Sicherheitsmann knurrte. »Nicht gut für dich, Mister. Kolumbianische Polizei nicht mag sicarios

Er stieß Nathan den Gewehrkolben gegen die Schläfe.

Nathan hatte das Bewusstsein verloren, noch bevor er auf dem Boden aufkam.

Schwarzer Koks
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