Kapitel 37
Bogotá,
Kolumbien
12. April 2011
»Machen Sie doch keine Dummheiten«, sagte Nathan, als er Lucia hinterhereilte, die die Treppe hinunter lief. Ihm fiel Manuels Warnung in Bezug auf sie ein.
»Für wen zum Teufel halten Sie sich, mir sagen zu wollen, was ich zu tun habe?«
Er packte sie am Arm. »Die bringen Sie um.«
»Woher soll ich wissen, dass Sie nicht zu denen gehören.«
»Sehe ich wie ein Killer der Front aus? Höre ich mich nach ASI an?«
Sie stieß ihn von sich weg. »Das besagt gar nichts.«
Ihr Telefon meldete sich. Sie nahm es ans Ohr. Sie wurde blass. Sie steckte das Telefon wieder weg und musterte Nathan so intensiv, dass er das Zischen der Neuronen in ihrem Gehirn zu hören meinte. War es wieder die Front?
»Na schön«, sagte sie mit bebender Stimme. »Gehen Sie voran.«
Sie gingen zur Hintertür, aber die klemmte.
»Kommt manchmal vor«, sagte Lucia.
»Aber ich habe sie doch vorhin erst aufgemacht.«
»Man muss sie auf eine ganz spezielle Art zumachen, damit sie nicht klemmt.«
Nathan versuchte das Schloss noch einmal zu knacken, rammte dann die Schulter gegen die Tür. Sie bewegte sich nicht. Die Vordertür war der einzige andere Ausgang. Er schob sie langsam auf. Kaum waren sie draußen, hüllte sie die warme Abendluft ein. Lucia ging geradewegs auf den grauen Ford auf der anderen Seite zu, ihr Schritt entschlossen, als wollte sie den Leuten den Hintern versohlen. Nathan hielt sie zurück. Er legte ihr den Arm um die festen Hüften, zwei Verliebte, die zu einem Spaziergang auf die Straße gekommen waren.
»He! Was fällt Ihnen–«
»Fangen Sie nicht wieder an«, zischte er ihr ins Ohr.
»Wie können die es–«
Er verstärkte seinen Griff und versuchte das köstliche Gefühl zu ignorieren, ihren Widerstand dahinschmelzen zu sehen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Tür des Fords aufging und einer der Männer ausstieg.
Die Narbe!
»Nicht umsehen«, flüsterte Nathan. »Gehen Sie einfach weiter.«
Die Straße war verlassen; nur einige Mülltonnen säumten den Gehsteig. Sie wichen einer schwarzen Katze aus, die aus dem Nichts kam. Hinter ihnen schlug eine Autotür zu. Nathans Herzschlag beschleunigte sich.
»Nächste Kreuzung gehen wir nach rechts«, sagte er.
Sie zog den Arm um seine Taille fester und beschleunigte ihren Schritt.
»Nicht so schnell«, sagte er. »Warten Sie auf mein Zeichen.«
Hinter ihnen schlug eine weitere Wagentür zu. Nathan widerstand dem Drang, sich umzudrehen. Die Schritte hinter ihnen näherten sich. Die Kreuzung war fünfzig Meter vor ihnen. Die Ampel stand auf rot; ein einsamer Passant überquerte die Straße. Plötzlich begann es zu regnen; eine wahre Sintflut ergoss sich über sie. Im Nu waren ihre Haare klatschnass.
Er ahnte eine Bewegung direkt hinter ihnen. Lucia wollte sich eben umdrehen, stolperte aber, als Nathan sie vorwärts stieß.
»Laufen Sie!«, rief er.
Lucia lief auf die Kreuzung zu; um ein Haar wäre sie in einer Lache ausgerutscht. Nathan fuhr auf dem Absatz herum und kollidierte mit dem Narbengesicht, das sofort mit beiden Fäusten auf ihn einzudreschen begann. Nathan duckte sich zur Seite. Er platzierte einen Seitwärtskick, der das Narbengesicht gegen den zweiten Kerl prallen ließ, der mit einer Pistole in der Hand angerannt kam. Er hatte ein Gesicht wie ein Schwein.
Ein Schuss löste sich. Ein Fenster zersplitterte. Ein Autoalarm ging los.
Das Narbengesicht warf sich Nathan entgegen, der zur Seite sprang und ihm einen Haken ins Gesicht schlug. Der Mann grunzte, taumelte zurück, hob die Hand, die jetzt eine Glock hielt. Nathan trat ihm in den Bauch, was ihn der Länge nach auf die Straße warf. Schweinegesicht kam eben wieder auf die Beine, gab zwei Schüsse ab, verfehlte beide Male, versuchte es schließlich mit Zielen. Nathan sprang den Mann an, stieß ihn zu Boden und trat ihm mehrmals auf die Hand, bis er die Knochen brechen hörte. Der Mann schrie auf und verlor die Waffe.
Nathan griff danach. Einen Augenblick lang dachte er daran, sie beide zu erschießen. Der Kerl mit der Schweinenase wand sich auf dem Pflaster und hielt sich die kaputte Hand. Das Narbengesicht kam taumelnd auf die Beine. Nathan war jedoch bereits losgelaufen und sprintete um die Ecke, wo Lucia auf ihn wartete. Er packte sie bei der Hand. Sie liefen dreißig Meter, dann zog Nathan sie in einen Wohnblock aus roten Backsteinen. Sie durchquerten die Halle und gelangten durch eine Metalltür auf der rückwärtigen Seite auf eine verlassene Seitenstraße.
Hier und da einem Müllberg ausweichend, sprinteten sie die Straße hinauf. Sie drosselten das Tempo, als sie in den ärmeren Teil von Chapinero kamen. Hier passierten sie obdachlose Bettler, die auf den Gehsteigen kauerten; Punks und Metalheads drängten sich in die vollen Bars. Der Platzregen war wieder vorbei.
Nathan drosselte das Tempo zu dem eines Spaziergangs. Er führte Lucia in ein heruntergekommenes Hotel mit einer zur Hälfte erloschenen Neonreklame. Ein verschlafener Portier blickte auf, seine Krawatte geöffnet, die Ärmel hochgerollt bis zu den Ellbogen. Nathan bezahlte ein Doppelzimmer für eine Nacht.
Er führte Lucia die Holztreppe hinauf in ein Zimmer im dritten Stock. Auf den beiden Betten lagen dunkelbraune Tagesdecken. In der Ecke befand sich ein Waschbecken, in einer anderen ein wackeliger Holztisch mit einem Stuhl. Die Wände waren marineblau; der Anstrich warf hier und da Blasen. Eine einzelne nackte Glühbirne an der Decke verbreitete schummriges Licht. Nathan verschloss die Tür und trat ans Fenster. Dort teilte er die gelblichen Vorhänge und sah auf die Straße hinaus. Als das Adrenalin versickerte, machte sich eine tiefe Unruhe in ihm breit. Das Netz der Front um ihn wurde ziemlich eng.
»Das ist ja die reinste Gefängniszelle«, sagte Lucia und setzte sich auf die Kante eines der Betten. Sie war noch immer außer Atem. Ihr Telefon klingelte. Nathan bedeutete ihr mit einem Nicken ranzugehen. Sie stellte die Freisprecheinrichtung an.
»Sie haben da eben einen großen Fehler gemacht«, sagte die grobe Stimme mit dem amerikanischen Akzent.
»Was wollen Sie von mir?«
»Wir finden Sie schon.«
»Ach ja? Und was dann, Mister Tough Guy?«
Es entstand eine lange Pause, als hätte der Mann am anderen Ende der Leitung vergessen, was er hatte sagen wollen. Aber dann sagte er ruhig und selbstgewiss:
»Dann bringen wir dich um.«