Kapitel 99

Putumayo, Kolumbien
17. April 2011

Nathan warf einen Blick über die Hügelkuppe und kroch dann in dichtes Gestrüpp, von wo aus sich durch den Feldstecher alles im Auge behalten ließ, ohne dass man ihn sah. Elijah und El Patrón hatten die Köpfe zusammengesteckt und diskutierten angeregt. Hinter ihnen befand sich ein weiterer Eingang, der in die Felswand gehauen war. Einer der beiden Hubschrauber auf der Kuppe musste wohl der sein, mit dem man Lucia eingeflogen hatte. Der andere, dessen Rotorblätter mittlerweile zum Stillstand gekommen waren, gehörte El Patrón. Einer von El Patróns Killern sah sich in der Gegend um. Wenn es Nathan gelang, ihn auszuschalten, würde er sich mit den anderen leichter tun. Dann könnte er El Patrón und den Reverend erledigen und endlich zurück in die Festung, um sich um Amonite zu kümmern.

Er legte den Feldstecher weg und nahm das Gewehr auf. Er wollte gerade seinen Angriff starten, als die Tür im Felsen aufging. Es kam jedoch niemand heraus. El Patrón verwand sich in seinem Rollstuhl. Ein hässliches Grinsen trat auf Evans’ Gesicht. Es war klar, dass die beiden im Dunkel des Eingangs jemanden sahen.

Wahrscheinlich Amonite.

Einer seiner Leute nahm den Rollstuhl herum, sodass El Patrón mit dem Gesicht zum Schacht stand. El Patrón sagte etwas, gestikulierte, wies mit dem Finger; er war sichtlich erregt. Sein Bodyguard hinter ihm spielte mit dem Sicherungsflügel seiner Waffe.

Nathan nahm den Feldstecher wieder hoch. Von seinem Blickwinkel aus konnte er nicht erkennen, wer in dem Eingang stand. Elijah machte den Mund auf, sein Kinn bewegte sich in alle Richtungen; seine Augen schienen ihm jeden Augenblick aus dem Schädel zu fallen, so groß waren sie. El Patrón fiel ihm immer wieder ins Wort. Elijah bellte zurück. Es entwickelte sich da zweifelsohne ein gewaltiger Streit.

Nathan schätzte seine Chancen ab. Wenn er nahe genug rankam, könnte er alle zusammen ausschalten: El Patrón, Elijah und Amonite. Die Front wäre damit auf einen Schlag so gut wie erledigt. Das Problem waren die Posten. Es waren einfach zu viele. Und viel zu gut bewaffnet waren sie obendrein. Ein Einzelner hatte da keine Chance.

Er hörte etwas Knirschen. Einer der Posten kam in seine Richtung. Nathan behielt den Kopf unten in dem Versuch, mit dem Gestrüpp zu verwachsen. Der Mann ging an ihm vorbei zu den Hubschraubern.

Wieder wurde es drüben laut. Nathan nahm den Kopf wieder hoch. El Patrón schrie in Richtung des Eingangs. Sein Gesicht war puterrot, es leuchtete geradezu. Wild gestikulierte er mit den Armen. Der Bodyguard hinter ihm ließ den Rollstuhl los und hob die Maschinenpistole, als Schüsse aus dem Schacht kamen. Der Bodyguard taumelte nach hinten weg und brach zusammen.

»Du mieses Stück!«, schrie El Patrón.

Die anderen Posten fuhren herum, aber ein Feuerstoß aus dem Schacht mähte sie nieder, bevor auch nur einer Zeit zur Gegenwehr fand. Einige verirrte Kugeln fuhren kaum eine Ellenlänge vor Nathan ins Laub. Er zog den Kopf ein.

Als Nathan wieder aufblickte, hatte Elijah den Rückzug angetreten und war wohl aus dem Schacht heraus nicht mehr zu sehen. El Patrón war verstummt und saß mit finsterer Miene da. Einer seiner Bodyguards lag stöhnend neben ihm auf dem Boden und drehte sich eben um.

Die Rotorblätter des Hubschraubers, der Nathan am nächsten war, begannen sich zu bewegen. Er sah den Piloten im Cockpit hektisch hantieren.

Elijah verschwand auf der anderen Seite der Kuppe. El Patrón hatte die Hände gehoben. Er schüttelte den Kopf. Nathan hörte nicht, was er sagte, dazu war der Hubschrauber bereits zu laut. Er tippte darauf, dass El Patrón um sein Leben bat.

Er hatte Recht.

Ein kurzer Feuerstoß kam aus dem Dunkeln, der El Patróns Körper erschauern ließ. Sein Kopf zuckte nach hinten. Seine Arme fielen zu beiden Seiten herab. Sein Oberkörper sackte nach vorne; dann kippte er langsam aus dem Stuhl.

Einen grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht, trat Amonite aus der Dunkelheit. Sie trat auf El Patróns Leiche zu und schoss ihm noch eine Kugel in den Kopf. Ohne sich auch nur noch einmal nach ihm umzudrehen, hielt sie, das Gewehr auf den Mann im Cockpit gerichtet, auf den Hubschrauber zu. Die Tür ging auf, der Pilot beugte sich heraus und rief ihr etwas zu. Amonite lief auf ihn zu.

Dann passierte etwas. Was, das konnte Nathan nicht erkennen. Jedenfalls blieb Amonite mitten im Schritt stehen und gab einen einzelnen Schuss auf den Piloten ab, der schreiend die Arme hochriss in einem vergeblichen Versuch, sich zu schützen, bevor er vornüberfiel.

Mit dem Rücken zu Nathan trat Amonite auf den Hubschrauber zu. Nathan ließ den Feldstecher fallen, nahm die Waffe hoch und sprang auf. Im Schutz des Hubschrauberlärms lief er auf Amonite zu.

Amonite hatte die Kante der Türöffnung ergriffen und wollte sich eben ins Cockpit ziehen. Nathan richtete seine Waffe auf sie. Und zögerte. Einerseits hätte er gute Lust gehabt, sie einfach über den Haufen zu schießen; andererseits hielt er es für besser, sie gefangen zu nehmen und zu verhören, um der Front ein für alle Mal den Rest geben zu können.

Töte sie.

Die Stimme kam aus dem Nichts. Nathan wollte eben abdrücken, als eine Explosion die Luft zerriss.

Schwarzer Koks
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