Kapitel 16
East London,
England
9. April 2011
Es war mittlerweile Samstagmorgen. Rund um die Old Street kamen schreiend und kreischend Betrunkene aus den letzten noch geöffneten Clubs und Bars. Der eine oder andere übergab sich. Zwei Typen mit kahlrasierten Schädeln hatten sich in der Wolle; drei Streifenpolizisten versuchten dazwischenzugehen. Der Gehsteig war mit den Scherben zerschlagener Bierflaschen übersät. Direkt vor ihnen tanzte eine Gruppe von Mädchen in Miniröcken mit halbvollen Weinflaschen um einen Laternenpfahl. Sie sangen und schrien.
»England auf Sprit, eh?«, meinte Steve grinsend.
Nathan zuckte die Achseln. Die Entscheidung der letzten Regierung, die einschlägige Gesetzgebung zu lockern, war völlig fehl am Platz, ja töricht gewesen. Rund um die Uhr trinken zu können, war keine gute Idee in einem Land, in dem man sich regelmäßig ganz bewusst volllaufen ließ.
Steve bog in eine Nebenstraße. Er bugsierte den Wagen in eine enge Parklücke und sprang hinaus. Dann hatten sie es vor sich, eine Beleidigung für das Auge: die Fenster zugemauert, die Wände mit Graffiti verschmiert. Es ging zu wie in einem Ameisenhaufen. Zur Haustür, die ständig auf und zu ging, drang Tanzmusik heraus.
Nathan ging voran durch den Vorgarten. Seine Hände schwitzten und das Herz raste ihm in der Brust. Dass zwei Cops in Zivil mitten in der Nacht eine Party in einem Crackhaus sprengten, konnte nur im Desaster enden. Er hatte Steve im Auto noch ein letztes Mal zum Umkehren zu bewegen versucht, aber das hatte den Kollegen nur noch sturer gemacht.
Er erwischte die Tür gerade noch, als einer der Cracker das Haus verließ. Er schlüpfte hinein und sah sich einem schwarzen Gorilla mit einem roten Tuch um den Kopf gegenüber, der einem Hiphopvideo entsprungen schien.
»Willst du zu Ricky oder zu Bigboy?«, fragte der Türsteher, eine Zigarette zwischen den Lippen. Er beugte sich auf seinem weißen Plastikstuhl vor.
Nathan ignorierte ihn. Er schob sich vorbei. Steve kam gleich hinterdrein. Die dicken Rauchschwaden stachen in der Lunge und brannten in den Augen. Rund um sie herrschte ein Gewusel aus Leuten mit tellergroßen, blutunterlaufenen Augen. Man rief, schrie, stritt sich. Ein junger Mann mit einer blauen Kappe saß gegen die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, eine Nadel im Arm. Am Fuß der Treppe fellierte eine hagere Prostituierte einen elegant gekleideten Dicken, der an einer Crackpfeife zog.
»Reizend«, sagte Nathan.
Eine Hand griff nach seiner Schulter. »Was willst du, Mann? Ricky oder Bigboy?«
Steve stieß den Türsteher gegen die Wand. »Lass du mal schön die Finger weg, Sportsfreund«, zischte er, bevor er sich wieder entspannte. »Wo ist Tony?«
»Okay, chill.« Der Türsteher hob die Hände. »Bigboy ist oben.«
Nathan sah sich in der Diele und im Wohnzimmer um. Die Wände hatten klaffende Löcher. Jemand hatte die Möbel zerschlagen.
»Eine rivalisierende Gang, schätz ich mal«, flüsterte Steve ihm mit einem Kichern ins Ohr. »Es hat sich herumgesprochen, dass schwarzer Koks mehr Bums hat als Crack. Jetzt will jeder was vom Kuchen abhaben.«
Leute hingen in Sesseln ab oder lagen auf dem Boden herum. Prostituierte hingen an den anscheinend betuchteren Süchtigen und bettelten um Drogen. Eine offene Kühlschranktür gab den Blick auf Kartons mit Durex, Spritzen und Crackpfeifen frei. Dazwischen stand eine halbleere Schüssel schimmeliger Pasta. Ein muskelbepackter Typ mit kahlem Schädel, Achselhemd und goldener Kette um den Hals blickte Nathan und Steve argwöhnisch an.
Nathan wandte sich an Steve. »Belassen wir’s bei der Aufklärung. Kommen wir morgen wieder.«
»Suchen wir Tony.«
Steve schob sich durch die Traube am Fuße der Treppe und stieg hinauf. Nathan folgte ihm. Er begann sich über seinen Kollegen zu ärgern. Sie drängten sich durch die Leute in ein Schlafzimmer, das sich schier bog unter den Crackern, die sich dort ihre Drogen hochzogen: auf dem Fensterbrett, auf dem Boden, wo immer sich eine ebene Stelle fand. Ein zerrissenes Poster des Films Sin City hing an der Wand.
In einer Ecke saß an einem Schreibtisch Tony vor einigen Waagen und gab gegen Bargeld Beutel mit schwarzem Pulver an eine Schlange von Süchtigen aus. Einer von ihnen sah sich um. Es war der Typ mit dem Guns N’ Roses-T-Shirt von der ersten Razzia.
»Die sind von der Schmiere!«
Er riss eine Pistole heraus.
Verdammt. Das war genau die Situation, die Nathan befürchtet hatte.
Er sprang den Typ im T-Shirt an und stieß ihn zu Boden. Die Pistole purzelte unters Bett. Tony fuhr herum. Er hatte ein Jagdmesser in der Hand. Die Süchtigen stoben auseinander, drängten sich durch die Tür, stürmten die Treppe hinab. Der Typ im T-Shirt stieß Nathan von sich weg und rannte ebenfalls Richtung Tür. Nathan ließ ihn gehen. Er musste sich auf Tony konzentrieren. Tief geduckt, um für Tony nicht zu sehen zu sein, schwamm er durch die in Panik geratenen Gäste auf den Dealer zu.
Tony rief etwas. Das Messer vor sich gehoben, wich er in eine Ecke zurück. Nathan sprang ihn an. Tony stach nach ihm. Nathan zog den Bauch ein. Die Klinge erwischte seine Jacke. Er duckte sich seitwärts weg, packte Tonys Messerhand und drehte sie nach außen, bis der Ellbogen brach. Heulend vor Schmerz brach Tony zusammen. Das Messer klapperte zu Boden. Steve hob es auf und holte die Pistole unter dem Bett hervor. Es war eine Browning 9mm; er steckte sie in seinen Gürtel.
»Hast du gedacht, wir finden dich nicht?« Steve befingerte die Klinge, während er Tony ansah.
Der Raum hatte sich geleert. Sie hörten die Leute unten durch die Tür hinaus auf die Straße schwärmen wie Schaben aus einer brennenden Deponie.
Nathan ließ von Tony ab und trat einige Schritte zurück. Vielleicht hatte es ja doch sein Gutes gehabt, dass Steve da so einfach hatte reinplatzen wollen. Womöglich wäre Tony am nächsten Tag nicht mehr da gewesen. Jetzt hatten sie ihn; jetzt konnten sie ihn zum Sprechen bringen.
»Ich hör dich nicht«, sagte Steve und baute sich über Tony auf. »Mach den Mund auf.« Tony wimmerte, Tränen in den großen Augen. Seine Lippen waren blau, sein Kiefer bewegte sich mahlend. »Ich hab nichts gemacht.«
»Das kannst du dem Richter erzählen.«
»Das hier ist weder mein Stoff noch mein Haus.«
»Wir stellen Ihnen jetzt ein paar Fragen«, sagte Nathan. »Wenn Sie kooperieren, lassen wir Sie eventuell gehen. Wenn nicht…«
Tony zog sich auf seinen Stuhl. »Okay«, sagte er und umfasste seinen kaputten Arm.
»Sagen Sie uns was über den Toten, den wir gefunden haben.«
»Welchen Toten?«
Nathan stieß einen Seufzer aus. »Tony, das ist nicht kooperativ.«
»Ich hab doch keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Steve gab Tony eine Ohrfeige. »Von der Leiche im Keller.«
»Keine Ahnung, Mann.«
»Was ist mit Amonite Victor?«, fragte Nathan. Tony beäugte das Messer in Steves Hand.
»Ich habe Sie was gefragt«, sagte Nathan.
»Nie von ihr gehört.« Tony versuchte aufzustehen. »Ich muss in ein Krankenhaus.«
Nathan stieß ihn zurück auf den Stuhl. Das gestaltete sich ziemlich frustrierend.
Steve wies auf den Haufen kleiner Beutel auf dem Schreibtisch. »Das hier könnte dir Jahre einbringen.«
»Ihr habt doch nicht mal eine Durchsuchungsgenehmigung.«
Steve grinste. »Mach dir da mal keine Sorgen, Sportsfreund.«
»Was wollt ihr denn von der?«
»Ist nicht dein Problem.«
»Sorry, ich kann euch da nicht helfen. Und jetzt lasst mich gehen.«
Steve ballte die Hand zur Faust. Tony verzog das Gesicht.
Nathan legte Steve eine Hand auf die Schulter. »Nehmen wir ihn einfach fest.«
»Mit Vergnügen.« Steve holte ein Paar Handschellen aus der Tasche.
»Was wäre, wenn ich Amonite gesehen haben sollte«, fragte Tony.
»Das hört sich schon anders an«, sagte Nathan und trat einen Schritt zurück.
Tony versuchte wieder aufzustehen. »Mir geht’s nicht gut. Ich muss ins Krankenhaus.«
»Das seh ich anders«, sagte Steve. »Du kommst mit uns.« Er trat vor, um Tony bei den Schultern zu nehmen. Tony lehnte sich zurück.
»He«, Steve beugte sich vor, »komm her, du.«
Tonys gute Hand fuhr an seine Socke.
»Messer!«, rief Nathan.
Steve wich zurück, aber nicht weit genug. Tony sprang vorwärts und stieß Steve ein kurzes Messer in Brust und Bauch. Steve versuchte Tony zurückzuschubsen, aber Tony war zu kräftig. Außerdem blutete Steve bereits stark. Nathan stürzte sich auf Tony, drehte ihm den guten Arm auf den Rücken und zerrte ihn von Steve weg, der seitwärts wegtaumelte, das Messer noch in seinem Bauch. Steve legte die Hände auf die Wunde in dem Versuch, die Blutung zu stoppen. Er ging auf die Knie.
Nathan drosch Tony eine Faust an die Schläfe, worauf der bewusstlos zusammenbrach. Nathan sprang auf Steve zu, der in einer wachsenden Lache auf dem dreckigen Teppich lag. Er drückte auf die Wunden, aber das Blut sickerte durch. Steves Blick wurde trübe. Er griff nach Nathans Schulter.
»Ich hab Scheiße gebaut«, keuchte Steve, ein rotes Rinnsal im Mundwinkel. »Ich hätte ihn filzen sollen.«
»Ist schon in Ordnung. Wir schaffen dich hier raus.« Nathan versuchte sich seine Panik nicht anhören zu lassen. Er fummelte in seiner Tasche nach dem Telefon. Aber seine Hände waren ganz nass vom Blut und das Telefon fiel zu Boden. Steves Kopf in der anderen Hand, griff er danach.
Steve murmelte etwas.
»Was sagst du?« Nathan beugte sich über ihn.
Steve packte ihn am Hals und zog ihn zu sich hinab, bis Nathans Ohr fast seine Lippen berührte. Er versuchte etwas zu sagen. Seine Augen wurden rot, als füllten sie sich mit Blut. Nathan holte das Handy mit dem Fuß heran. Er klappte es auf.
Steve fielen die Lider zu. Seine Arme wurden schlaff. Sein Kopf fiel nach hinten. Nathan fühlte nach seinem Puls. Nichts. Er starrte Steve an, die Fältchen im Gesicht, die dünnen Lippen, die blasse Haut. Ein eiskalter Zorn überkam ihn. Er hatte Steve sympathisch gefunden: ein gutmütiger Kerl, aber auch ein Profi, ein Mann der Tat. Auf dem Rückweg von dem ersten Crackhaus hatte er Nathan von seinen Plänen erzählt, seine langjährige Freundin zu heiraten, ein kleines Häuschen mit Garten zu kaufen, in der Nähe der Holloway Road. Dort hatte er eine Familie gründen wollen.
Nathan ließ Steve sachte auf den Boden sinken. Dann griff er sich die Pistole in Steves Gürtel, stand auf und ging hinüber zu Tony.