Kapitel 29

Bogotá, Kolumbien
12. April 2011

Die Vorstandsmitglieder rund um den Tisch starrten Lucia an. Der Ausdruck auf ihren Mienen reichte von milder Skepsis bis hin zu totaler Fassungslosigkeit. Octavia Glosserto blickte sie so finster an, dass ihre Brauen schier die schnabelartige Nase berührten. Sie sah aus wie eine übergewichtige böse Fee.

Lucia verkniff sich das Kichern, mit dem sie auf ihre Frustration reagierte, um nicht zu schreien. Der einzige, der sie nicht anfunkelte, war Max Narding, der feiste Kassenwart mit dem Babygesicht. Der schlief gerade sanft ein.

»Was soll ich sagen?«, fragte Lucia, nur um das peinliche Schweigen zu brechen.

»Es ist mir schleierhaft, warum Sie da mit fliegenden Fäusten reingehen mussten.« Octavia stieß einen Seufzer aus, der sich anhörte, als ließe jemand Luft aus einem Ballon. »Das Ganze ist ein PR-Desaster.«

»Ach, kommen Sie, jetzt übertreiben Sie aber.«

»Joanna hat mir die E-Mails gezeigt. Unsere Geldgeber sind alles andere als begeistert, gelinde gesagt.« Octavia klappte ihre Lesebrille auf und setzte sie auf die Nasenspitze, von wo sie jeden Augenblick herunterzufallen schien. Sie holte ein Blatt Papier aus ihrer schwarzledernen Aktentasche.

»Hören Sie sich die hier an«, sagte sie. »Sie ist von Vera Abramo, der Frau des millionenschweren IT-Geeks.« Sie räusperte sich.

»Liebe Octavia, ich fand die Debatte auf Caracol TV gestern Abend ausgesprochen enttäuschend bei all dem Geschrei, von der Sprache ganz zu schweigen. Mit so etwas möchte ich nicht in Verbindung gebracht werden. So Leid es mir tut, aber ich ziehe meine Unterstützung hiermit zurück.«

Mit einem ärgerlichen Schnauben warf Octavia das Blatt auf den Tisch. Die anderen fünf Mitglieder des Vorstands sahen zu, wie es ein Stück weit durch die Luft segelte, bevor es wie Herbstlaub auf der Tischplatte zu liegen kam.

Keiner sagte ein Wort.

»Nur der Vollständigkeit halber: ihre letzte Spende belief sich auf eine halbe Million Dollar«, schob Octavia schließlich nach. »Und es ist nicht die einzige Mail dieser Art.«

»Ich kenne Vera«, sagte Lucia. »Ich kann ihr das wieder ausreden.«

»Kommt gar nicht in Frage!«

Lucia seufzte. Es hatte keinen Zweck zu streiten. Die »Superwoman von Kolumbiens Medienwelt«, wie die New York Times Octavia einmal genannt hatte, war für ihre Sturheit bekannt.

Lucia versuchte es mit Zerknirschtheit. »Tut mir Leid.«

»Es tut Ihnen nicht Leid. Ihnen tut nie was Leid.«

»Diesmal schon.«

»Was ist denn bloß über Sie gekommen?«

»Nichts.«

»Was soll das heißen: nichts?«

»Sie regen sich wegen einiger Kraftausdrücke auf? Wo es doch eigentlich darum geht, dass wir Beweise für ein Bündnis der Front mit der ASI haben?« Lucia nahm ein Blatt Papier aus dem Stapel vor ihr und hielt es in die Runde. »Ich habe hier die Aussage eines Kokabauern namens Manuel Rosa. Sie kam vor zwei Tagen per E-Mail herein. Er behauptet, es gebe da eine neue Droge, die–«

»Es geht hier nicht nur um ein paar Kraftausdrücke«, fiel Octavia ihr ins Wort. »Es geht um ihre Wirkung auf unsere Kampagne.«

»Sie hören mir nicht zu.«

»Ich höre sehr wohl zu. Sie sind diejenige, die nicht zu–«

Lucia schlug mit der Faust auf den Tisch. Max Narding fuhr erschreckt aus dem Schlaf.

»Keiner von Ihnen hört zu.« Lucia starrte die Mitglieder des Verwaltungsrats der Reihe nach an. »Wen interessieren ein paar Scheißkraftausdrücke im Fernsehen? Was spielt denn das für eine Rolle? Wichtig ist die Notwendigkeit einer klaren Argumentation für die Legalisierung von Drogen.«

»Hoppla, Augenblick mal.« Octavia hob die Hand. »Wer hat denn behauptet, dass wir für die Legalisierung eintreten?«

»Nicht offiziell, aber wir wissen doch, dass das die einzige Möglichkeit ist.«

»Ach ja?« Octavia blickte vorsichtig von einem zum anderen in der Runde, bevor sie wieder Lucia ansah. »Wir haben Kolumbianer gegen die Front ins Leben gerufen, um der Front 154 das Handwerk zu legen, nicht um uns für die Legalisierung von Kokain stark zu machen. Wir haben uns an unsere karitativen Ziele zu halten. So will es das Gesetz.«

»Das Gesetz? In Kolumbien? Selbst wenn wir wissen, dass eine Legalisierung die einzige Antwort auf diesen Saustall ist? Schauen Sie sich doch Mexiko an. Über 28000 Menschen sind dort während der letzten vier Jahre dem Drogenkrieg zum Opfer gefallen.«

»Und genau deshalb sollten wir auch nicht für eine Legalisierung eintreten.«

Lucia zog die Stirn in Falten. »Weil ich Recht habe?«

»Alle Welt befürwortet unsere Kritik an der Front: die große böse paramilitärische Gruppe, der wir diesen ganzen Schlamassel verdanken. Das lenkt von der Regierung ab.« Octavia beugte sich vor, die Speckfalten um ihren Bauch schoben sich gegen die Tischkante. »Eine Legalisierung steht auf einem ganz anderen Blatt. Dabei haben alle viel zu viel zu verlieren.«

»Das ist doch kein Grund.«

»Es ist einer, wenn du am Leben bleiben willst.« Das kam von Carlo Justana, dem zweiten Vorsitzenden. Der Bankier im Ruhestand mit dem zurückgehenden Haaransatz saß zu ihrer Linken. Er schob sich die Brille mit dem Silberrand die knubbelige Nase hoch. Er hatte immer hinter Lucia gestanden. Was mischte er sich jetzt ein?

»Was soll denn das heißen?«, fragte Lucia.

»Wir sind nicht alle so furchtlos wie du. Wir haben in diesem Krieg zu viele Freunde und Verwandte verloren.«

»Das habe ich auch.«

»Ich weiß, und es tut uns allen Leid, was passiert ist. Aber du musst uns verstehen.«

Sie verstehen? Sie benahmen sich wie ein Haufen Loser! Hier gab es doch nichts zu verstehen.

Dann kam es ihr.

»Ihr wollt aufgeben?« Lucia warf einen fragenden Blick in die Runde. Selbst Octavia wich ihrem Blick aus. »Ich kann’s nicht glauben. Ihr Schweine! Ihr wollt den Laden dichtmachen!«

»Eine Atempause einlegen, würde ich mal eher sagen.« Das kam von Octavia. »Wir müssen uns erst mal wieder sammeln, sehen, wie es weitergehen soll.«

»Das wäre das Ende der Kampagne! Und das wisst ihr!« Lucia war sich sehr wohl bewusst, dass sie laut wurde. »All die harte Arbeit umsonst!«

»Nichts ist umsonst«, sagte Carlo. »Das siehst du doch an deiner Wirkung.«

Lucia verschränkte die Arme.

»Die Kampagne wird weitergehen«, sagte Octavia.

»Weitergehen? Was reden Sie denn?«

Wieder kam es zu einer langen Pause. Octavia spielte mit ihrem Füllfederhalter, knallte ihn dann auf den Tisch. »Hören Sie, Lucia, wir möchten, dass Sie zurücktreten.«

»Was?«

»Es ist das Beste. Das alles wird zu riskant für Sie. Und für uns. Joanna wird die Stellung halten, während wir überlegen, wie es weitergehen soll.«

»Joanna?«

»Sie ist überaus kompetent.«

»Darauf haben Sie doch nur gewartet, stimmt’s?«

»Wir können uns einen derart impulsiven CEO nicht leisten«, sagte Octavia. »Schließlich ist das nicht Ihr erster Ausbruch.«

»Ach?«

»Denken Sie daran, wie Sie auf den amerikanischen Botschafter beim Weihnachtsempfang in der US-Botschaft losgegangen sind. So was von peinlich, Lucia. Vor aller Welt. Ich konnte noch eine Woche danach nicht schlafen.«

»Er hat sich aufgeführt wie ein totaler Schwachkopf.«

»Und was ist mit der Beschwerde, die ich eben von der UNO bekommen habe. Offensichtlich hatten Sie während der Konferenz in London eine ziemliche Szene mit einem Mann von der Security.«

»Das war nicht meine Schuld.« Ihre Frustration auf dem Siedepunkt, wandte Lucia sich nach links. »Carlo, gehörst du da auch dazu?«

»Du lässt uns keine große Wahl.«

»Aber wir kommen doch gerade in Fahrt. Ohne mich säße diese Organisation immer noch in dem beschissenen Hinterzimmer, in dem ihr wart, bevor ihr mich eingestellt habt.«

Octavia hob eine Hand. »Für Fäkalsprache besteht nun wirklich kein Grund.«

»Ach, leckt mich doch!« Lucia stieß den Stuhl zurück und kam auf die Beine. »Ist das alles, was euch interessiert? Ist es euch denn scheißegal, wenn die Front ganze Dörfer massakriert?«

»Lucia, bitte–«

»Nicht diesen Ton, ja? Das nervt nämlich langsam, verfluchte Scheiße! Geht doch alle zum Teufel!«

Lucia gab ihrem Stuhl einen weiteren Schubs und stürmte aus dem Raum. Die Tür ließ sie hinter sich zuknallen. Um ein Haar hätte sie Joanna umgerannt, die einen Stapel Akten gegen die Brust gedrückt hielt.

»Was zum Teufel willst du denn?«, fuhr Lucia sie an. Joanna wurde blass.

Lucia stapfte die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. Sie marschierte drei Blocks und stürzte dann in eine Bar. Sie bestellte ein Bier. Während der Alkohol einzusickern begann, ging sie im Geiste das Meeting durch. Sie hatte sich nie ein Blatt vor den Mund genommen, warum stellten sie sich jetzt plötzlich gegen sie? Glaubten Sie wirklich, sie könnten die Kampagne ohne sie führen? Sie hatte doch die Gelder aufgetrieben. Sie hatte die Verbindungen der Front mit der ASI aufgedeckt. Und erst sie hatte es geschafft, die Aufmerksamkeit der Medien zu bekommen. Joanna arbeitete hart, sie war gescheit, aber sie war zu zurückhaltend und verfügte weder über Lucias Charisma noch ihre Leidenschaft. Sie hatten kein Recht, sie hinauszuwerfen. Joanna hatte kein Recht, ihren Platz einzunehmen.

Dann wurde ihr alles klar. Man hatte ihnen gedroht. Warum sonst die plötzliche Kehrtwendung? Jemand musste ihnen geraten haben, etwas leiser zu treten oder die Konsequenzen zu tragen. War es die Front gewesen, die ASI oder jemand aus der Regierung? Oder gar der abscheuliche neue britische Botschafter?

Das bedeutete, sie hatten Angst. Was außerdem bedeutete, dass… Sie sah sich in der Bar um.

In einer Ecke hatte eben ein hagerer junger Mann mit welligem schwarzem Haar und rotem Fußballtrikot Platz genommen. Eine gezackte Narbe zog sich über die rechte Backe. Seine Augen wurden schmal, als ihre Blicke sich trafen.

Lucia nahm ihr Bier und ging hinüber.

»Was glotzen Sie denn?«, fragte sie. Der Mann machte große Augen.

»Sagen Sie Ihren anmaßenden Mafiabossen, dass Drohungen bei mir nicht ziehen.«

Er hob die Hände. »Señorita, bitte.« Sein Spanisch hatte einen starken amerikanischen Akzent.

Lucia schüttete ihr Bier nach ihm. Wie in Zeitlupe schwappte es aus dem Glas, klatschte in das Gesicht des Mannes, an die Wand hinter ihm, über sein Hemd, seine Knie. Er sah sie mit demselben maßlosen Erstaunen an wie ihr Vater, als sie ihm während eines Streits ein Glas kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet hatte.

Köpfe drehten sich nach ihnen um.

Der Mann hustete, blinzelte, tastete den Tisch nach einer Serviette ab, wischte sich damit übers Gesicht.

»Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte er mit loderndem Blick durch das Bier, das ihm von den Brauen lief.

Lucias Mund war mit einem Mal staubtrocken. Das Glas entglitt ihren Fingern und zerschellte auf den Steinfliesen. Sie trat einen Schritt zurück, dann noch einen, drehte sich schließlich um und lief aus der Bar und die Straße hinab. Sie bog links ab, blieb stehen und spähte um die Ecke.

Der Mann stand vor der Bar, ein Mobiltelefon am Ohr, während er sich mit der anderen Hand übers Gesicht wischte. Er blickte die Straße herauf.

Sie drehte sich um und floh.

Schwarzer Koks
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