Kapitel 40

Medellín, Kolumbien
13. April 2011

Amonite hätte nie gedacht, ihren Helden einmal persönlich kennen lernen zu dürfen. Sie unterdrückte die Versuchung, sich zu kneifen, während sie die schwere Eichentür des geschäftigen italienischen Restaurants aufschob. Dass er sich mit ihr treffen wollte, war ein Beweis für ihre wachsende Bedeutung in den Reihen der Front.

Über beide Backen strahlend kam der Geschäftsführer auf sie zugewatschelt. Er war ein untersetzter feister Mann mit zurückgehendem schwarzem Haar und kurzen Armen, mit denen er wie ein Pinguin um sich schlug. Die gezwirbelten Enden seines buschigen Schnurrbarts standen ihm wie Grillspieße aus dem Gesicht.

»Madame, willkommen in unserem bescheidenen Etablissement.« Er verneigte sich etwas zu kriecherisch. »Wir sind hocherfreut, dass Sie uns mit Ihrer werten Anwesenheit beehren.«

»Hör auf mit dem Scheiß, Giovanni.«

»Madame, ich meine jedes Wort.« Er machte eine Geste nach hinten. »Hier lang, bitte.«

Er führte sie durch das Restaurant. Abgesehen von einigen Gorillas der Front an der Bar, die sich verstohlen umsahen, saßen hauptsächlich betuchte Paare und Geschäftsleute an den runden Tischen in dem von Kerzen erleuchteten Raum. Dazwischen lavierten Kellner mit schwarzen Fliegen, Berge von schmutzigen Tellern in jeder Hand.

Amonite folgte Giovanni durch eine Hintertür und einen Flur entlang, in dem es nach Küche stank. Vor einer schwarz getünchten kahlen Wand blieben sie stehen. Giovanni drückte gegen einen Abschnitt der Wand. Sie wich zurück. Dahinter führten Stufen an eine starke Metalltür, die ihr wie der Eingang zu einem unterirdischen Bunker vorkam. Giovanni drehte an einem Griff und zog die Tür auf. Er knipste das Licht an.

Amonite hatte von diesem geheimen Versteck der Front flüstern hören, hatte die Gerüchte über seine Opulenz als Legende abgetan, als einen Mythos, den ein weltweit operierender Drogenboss dazu nutzte, seinen Ruf auszubauen.

Sie hatte sich getäuscht.

Der Raum war riesig und luxuriöser als der Palast eines saudischen Scheichs. Fünf mit Diamanten besetzte goldene Kronleuchter hingen von der Decke. Eine Mischung aus modernen und klassischen Gemälden säumte die Wände, jedes von seiner eigenen Lampe bestrahlt. Wie eine sechsspurige Schnellstraße erstreckte sich ein gut fünfzehn Meter langer Tisch aus solidem tropischem Hartholz durch die Mitte des Raums. In den Ecken wanden sich griechische Statuen wie groteske Erscheinungen und warfen unheimliche Schatten gegen die blutrote Wand.

Die Tür fiel hinter ihr zu. Sie fuhr herum. Giovanni war verschwunden. Mit einem Mal war sie nervös. Beobachtete man sie? Studierte man ihre Reaktion? Sollte das eine Prüfung sein?

Sie trat auf eines der Gemälde zu und starrte auf den Krakel in der rechten unteren Ecke.

»Das ist ein Picasso«, sagte eine nuschelnde Stimme hinter ihr. »Das ist seine Signatur.«

Amonite erstarrte.

»El Patrón mag Picasso«, fuhr die Stimme fort. »Obwohl Fernando Botero besser ist. Er ist der kolumbianischste aller Künstler. Zu ihrer Rechten, meine Liebe, das sind Boteros.«

Mit rasendem Herzen blickte sie zur Seite. Eine Reihe von Gemälden zeigte geschmacklos feiste Menschen in verschiedenen Posen. Eines zeigte einen Mann auf den Knien, die Hände auf den Rücken gefesselt, eine rote Binde um die Augen, in einer Gefängniszelle.

»Das da heißt Abu Ghraib. Ha! Die Gringos beschuldigen El Patrón der Folter und des Mords und sind dabei selbst nicht besser. Botero hat vierzehn Monate nur Bilder von amerikanischen Folterungen in Abu Ghraib gemalt.«

Amonite nickte, wagte aber nicht, sich umzudrehen. Was wollte El Patrón damit sagen? Oder plauderte er nur so vor sich hin? Dafür war der Mann legendär.

»Er ist von hier, Botero«, sagte El Patrón. »Ein guter Junge aus Medellín. Haben Sie das gewusst?«

Amonite schüttelte den Kopf.

»Die Gringos. Sie sind der Feind. Sie haben El Patrón zu vernichten versucht. Viele Male. Aber es wird ihnen nie gelingen.«

Amonite schloss die Augen. Hunderte von Malen hatte sie sich vorgestellt, El Patrón persönlich zu treffen. Sie hatte einstudiert, was sie sagen, wie sie ihn beeindrucken wollte mit Selbstsicherheit und Loyalität. Und jetzt war ihr Kopf völlig leer.

»Sie können sich umdrehen, Amonite.«

Sie drehte sich um, langsam, den Kopf gesenkt, sah zwei auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe auf der Fußstütze eines Rollstuhls. Ihre Handflächen waren so schweißnass wie damals, als das dicke dumme Mädchen sich wieder mal vor der ganzen Klasse dem Zorn des Lehrers ausgesetzt sah.

»Sie können ruhig aufblicken.« El Patrón lachte kollernd. »Ich beiße nicht.«

Sie hob den Blick. Und sofort wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte es nicht getan. Die linke Hälfte von El Patróns Gesicht hing nach unten, leblos, wie aus geschmolzenem Wachs. Seine Lippen hingen schlaff herab, der eine Mundwinkel zu einer dauerhaften Grimasse verzogen. Die Haut an Backen und Stirn war lose und schlaff. Sein linkes Auge blickte willkürlich durch den Raum, als folgte es einer Fliege. Die rechte Gesichtshälfte war ein Patchwork von Haut und Narben.

»Hat es Ihnen die Stimme verschlagen?«, fragte er.

»Patrón…«

»Derart Schlimmes haben Sie nicht erwartet, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf.

Er schnippte mit den Fingern. Ein Bodyguard kam aus dem Schatten einer Tür hinter ihm und schob den Rollstuhl in ihre Richtung. Der Geruch von zu viel Kölnisch Wasser kam auf sie zu.

»Es musste schnell gehen«, sagte El Patrón. »Entweder das hier oder der Tod.«

Amonite hatte einen Kloß im Hals.

El Patrón sah mit dem einen guten Auge zu ihr auf. Er nahm ihre Hand. Die seine war kalt und trocken.

»Also, sagen Sie El Patrón alles«, sagte er.

Amonite holte tief Luft. Ihn anzulügen, hätte erst gar keinen Zweck. Er konnte alles herausfinden; wahrscheinlich wusste er längst Bescheid. Es war tatsächlich eine Prüfung; er wollte sichergehen, dass sie immer noch loyal war.

»Wir, äh, wir haben da ein paar kleine Probleme«, sagte sie.

Sein gutes Auge wurde schmal. Sie sprach weiter, berichtete von Herbert, dem Problem mit dem schwarzen Koks, von Nathan Kershner, Lucia Carlisla und Elijah Evans, dem Reverend.

»Und was gedenken Sie zu tun?«, fragte El Patrón.

Sie erklärte es ihm.

»Sind Sie sicher, dass Sie diese Kolumbianer Gegen die Front nicht von der eigentlichen Sache ablenken?«, fragte El Patrón.

»Sie gewinnen zunehmend an Einfluss. Es muss was geschehen.«

»Was ist mit den Haitianern? Irgendetwas Neues?«

»Noch nicht.«

»Diese Haitianer sind ein störrisches Volk«, sagte er. »Die sind gar noch schwieriger zu kontrollieren als diese verfluchten Jamaikaner. Sie hängen ihr Mäntelchen nach dem Wind. Wir müssen vorsichtig sein, was die Arbeit mit ihnen angeht.«

»Warum arbeiten wir dann mit ihnen? Warum gehen wir nicht einfach nur über den Reverend?«

»Um die Lieferkette aufzubrechen. Das ist sicherer so. Das macht es schwieriger, auf die Quelle zu kommen. Und jetzt erzählen Sie doch mal von George.«

»Es ist seine Schuld, dass dieser Kershner noch frei herumläuft.«

»Was Sie nicht sagen.«

Er ließ sie los. Einen Augenblick lang schien er unzufrieden, ja verärgert. Die gute Seite seines Gesichts zuckte. Sein kaputtes Auge drehte sich wie eine Murmel. Er schlug auf die Armstütze. Der Bodyguard zog den Rollstuhl ein paar Meter zurück.

Amonite trat von einem Bein aufs andere.

El Patrón hustete einmal, zweimal. Dann kippte er vornüber. Der Bodyguard eilte um ihn herum nach vorne, holte eine durchsichtige Plastikmaske aus der Tasche und drückte sie El Patrón auf Mund und Nase. Der Hustenanfall verebbte; ein durchdringendes Keuchen löste ihn ab. El Patrón schob den Bodyguard beiseite; mit der guten Hand drückte er sich die Maske selbst aufs Gesicht.

»Wissen Sie, weshalb der schwarze Käfer das Emblem ist?«

»Herbert wollte das so wegen dieser Insekten in Putumayo.«

»Wie ich höre, sind die zu einer richtigen Landplage geworden. Sie fressen ganze Ernten auf. Die Bauern klagen. Ha!« Er nahm einen weiteren tiefen Zug Sauerstoff. »Ich war einverstanden, weil Käfer die verbreitetste Spezies von Insekten sind. Und doch sind sie so kräftig und schön gebaut. So sollte auch unsere Droge werden. Verstehen Sie?«

Ein weiterer Hustenanfall machte ihm zu schaffen. Er blickte auf. Blut tropfte ihm aus der Nase.

»Ihr Plan findet El Patróns Billigung«, flüsterte er. »Aber Sie sollen noch etwas für mich tun. Dieser Ministerialdirektor, dieser Legalisierungsfreund… «

»Er ist tot.«

»Er fand beim Präsidenten ein offenes Ohr. Das macht mir Sorgen.« El Patrón atmete in die Maske. »Ich möchte, dass die Front Bogotá mit Angst und Schrecken erfüllt. Ich werde Sie meine Anweisungen in Kürze wissen lassen.«

Er schlug klatschend auf die Armstütze. Der Bodyguard schob ihn hinaus. Amonite starrte schweigend auf die Stelle, wo eben noch El Patrón gewesen war. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Teils war sie erleichtert; sie hatte schreckliche Geschichten gehört über Leute, die bei El Patrón auf Ablehnung gestoßen waren. Aber andererseits war sie auch enttäuscht. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn gar so entstellt und verkrüppelt zu sehen.

Hinter Amonite klapperte es. Giovanni spähte um die schwere Tür. Ganz plötzlich wollte Amonite nur noch raus aus diesem unterirdischen Palast mit seinem Geruch von Fäulnis und Verfall. Wortlos schob sie sich an Giovanni vorbei. Sie lief die Treppe hinauf und durch das Restaurant, stieß dabei einen Kellner um, der an ihr vorbeieilte. Krachend zerschellte ein Stapel Teller auf dem Boden.

Sie sprang auf die Straße. Sie blinzelte, um ihre Augen an das Licht des frühen Abends zu gewöhnen. Das Telefon in ihrer Jackentasche summte. Ihr Herz beschleunigte sich wieder.

Hatte El Patrón es sich anders überlegt?

Während sie im Slalom durch den Verkehrsstau auf der Straße lief, klappte sie das Telefon auf.

»Ja?«

»Wir haben da ein Problem.« Es war Dex, seine Stimme verhalten und knapp.

Amonite brummte erleichtert. »Spuck schon aus.«

»Es geht um den Reverend.«

»Hat er an die Haitianer geliefert.«

»Nicht direkt.«

»Was hat das dumme Stück Scheiße denn jetzt wieder angestellt?«

»Er ist abgehauen, Amonite. Mitsamt dem Koks.«

Schwarzer Koks
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