Kapitel 26
Barranquilla,
Kolumbien
11. April 2011
»Boss? Was ist passiert?«
Elijah fuhr kerzengerade auf. Wo zum Teufel war er?
»Boss?«
Elijah rieb sich die Augen. Er saß auf der unteren Matratze eines Stockbetts. Das kindliche Gesicht vor ihm war mal mehr, mal weniger scharf. Es hatte runde Augen und eine stumpfe Nase, Strähnen schwarzen Haars umgeben von einer Aura weißen Lichts.
»Großer Gott«, murmelte Elijah.
»Nicht Gott.« Das Kindergesicht stieß ein glucksendes Lachen aus. »Patrice. Alles in Ordnung mit dir?«
»Wo bin ich?«
»Auf dem Boot, Boss. Was ist passiert?«
»Weiß ich nicht mehr«, stammelte Elijah. Er wischte sich den Schweiß von den Backen und lehnte sich gegen die Wand. Der Raum drehte sich um ihn.
Patrice machte eine ausladende Geste. »Hier sieht’s ja aus, als wäre eine Bombe hochgegangen.«
Auf dem Boden lagen Stieltöpfe, zerschlagene Teller, Tassen, Dosennahrung, Hemden, Socken und weiß Gott was sonst noch alles. Die Bettlaken waren zerrissen und hingen in Streifen von dem Stockbett. Einer der hölzernen Stühle neben dem Tisch war umgekippt und hatte einen Sprung.
»Ich hab Geschrei gehört.« Patrice richtete sich auf. »Dann einen Heidenradau.«
»Jetzt hör aber auf.« Elijah schob Patrice aus dem Weg. »Das war doch nichts.«
»Solltest besser halblang machen mit dem Pulver, Boss.«
Elijah tat seine Bemerkung mit einem Achselzucken ab. Patrice konnte einem wirklich auf die Nerven gehen. Er kletterte hinauf auf das Deck, das in der gnadenlosen Nachmittagssonne erstrahlte. In weiter Ferne lagen die Hochhäuser von Barranquilla, der größten Industrie- und Hafenstadt an Kolumbiens Karibikküste. Elijah stieß einen tiefen Seufzer aus, legte sich in einen Liegestuhl und starrte übers Meer hinüber zu dem tropischen Wald, der die Küste überzog. Elijah hatte die seetüchtige Luxusjacht mit den Einkünften aus Drogendeals erstanden. Sie war das perfekte Fahrzeug für den Drogenschmuggel. Er war der König an Bord. Er konnte hier machen, wonach ihm verdammt nochmal war. Irgendetwas Beunruhigendes war vorhin in seiner Kajüte passiert; er wusste nur nicht mehr was. Aber es war ihm auch scheißegal.
»Patrice!« Elijah winkte gebieterisch. »Hol mir mal was zu trinken.«
»Du solltest in Form sein für das Rendezvous.«
»Ich brauche was zu trinken.«
»Denk dran, was das letzte Mal passiert ist.«
»Hol mir was zu trinken, verdammt noch mal!«
Patrice verschwand und brachte einen Whiskeybecher voll Rum. Elijah griff nach seinem Hintern. Er war fest und voll, genau wie er es mochte. Er schlang den Arm um Patrices Taille und zog ihn an sich heran. Er spürte, wie Patrice sich versteifte.
»Liebst du mich noch?«, fragte Elijah. Patrice reichte Elijah das Glas.
»Ich hab dich gefragt, ob du mich noch liebst, verflucht noch mal!«
»Ja, Boss, natürlich.« Patrice löste sich aus Elijahs Griff und trat ans Steuerrad.
Zufrieden legte Elijah sich in den Stuhl zurück. Er nippte am Rum. Sie fuhren an einem langen Strand vorbei. Reiche Touristen aus der Ersten Welt und ihre übergewichtigen Gören spazierten über den Sand, spielten mit Frisbees, bauten Burgen oder vertrödelten einfach nur ihre Zeit.
Patrice wies nach links. In der Ferne raste ein Schnellboot vorbei. Holpernd schoss sein weißer Rumpf über die Wellen.
»Küstenwache«, sagte er.
»Wo zum Teufel sind die Kolumbianer? Waren wir nicht hier verabredet?«
»Da sind sie.« Patrice wies auf einen Einlass in eine von Palmen und Dschungelvegetation gesäumte Lagune.
Elijah kniff die Augen zusammen. Die Droge spielte seinem Sehvermögen Streiche. Er griff nach dem Feldstecher an der Wand neben ihm. Einige hundert Meter weiter dümpelte ein dunkelgrünes Schnellboot; die beiden Zylinderreihen zweier Hochleistungsmotoren waren deutlich zu sehen. In ihm standen zwei Männer und blickten in ihre Richtung.
Elijah nickte Patrice zu, der den Motor abstellte. Ihr Boot glitt durch die Lagune, bevor es zum Stillstand kam. Es sorgte für eine Welle, die das Schnellboot noch heftiger schaukeln ließ. Die Männer hatten ihre liebe Not, sich aufrecht zu halten. Elijah grinste.
»Wir haben euch schon gesucht«, rief er.
»Es kam was dazwischen«, rief der Mann, der ihnen am nächsten stand. Er hatte einen kurz gestutzten schwarzen Bart und welliges Haar. Unter seinem blauen Hemd guckte ein ausgeprägter Ranzen hervor. Der andere hinter ihm brachte eine AK-47 zum Vorschein, die er hinter dem Rücken gehalten hatte. Er war wohl Mitte zwanzig, hatte kurzes Haar, trug ein dunkelgrünes T-Shirt und eine braune Militärhose. Beide fixierten Elijah mit intensivem, tückischem Blick.
»Also?« Elijah zog eine Braue hoch. »Wollen wir den ganzen Tag rumstehen und einander anstarren wie Schulmädchen?«
Der Mann mit dem Bart nickte dem jüngeren zu, der sich bückte und unter der Sitzbank eine Taucherbrille und eine Flasche hervorholte. Er zog sich aus bis auf die Unterhose. Sein haarloser maskuliner Oberkörper brachte Elijahs Blut in Wallung.
Der junge Mann sprang ins Wasser und streckte die Hände. Der Typ mit dem Bart griff unter eine andere Bank und reichte ihm einen offensichtlich zentnerschweren wasserdichten flachen Plastikcontainer von etwa einem Meter Durchmesser, an dem mehrere Clips angebracht waren. Er reichte ihn dem jungen Mann. Der junge Mann tauchte unter.
»Seid ihr sicher, dass das halten wird?«, fragte Elijah.
Der Bärtige nickte und bückte sich nach einem weiteren Container.
»Wieso nehmt ihr nicht eure U-Boote oder Flugzeuge?«, fragte Elijah.
»Die findet die DEA.«
Der junge Mann tauchte schnaufend wieder auf. Der Bärtige reichte ihm den zweiten Container.
»Laut Amonite habt ihr 950 Keys für uns«, sagte Elijah.
Der Bärtige brummte. Er öffnete eine Luke zu einem versteckten Hohlraum und zerrte weitere Container heraus, während der Taucher wieder unter der Wasseroberfläche verschwand.
»Mach mal auf«, sagte Elijah.
»Was?«
»Eine von den Boxen. Ich möchte nachsehen.«
Der Bärtige sah Elijah argwöhnisch an. Einen Augenblick lang dachte Elijah, er müsste seinen Befehl wiederholen. Und wenn er etwas hasste, dann war das, sich wiederholen zu müssen. Aber schließlich riss der Bärtige mit einem scharfen Ruck den Deckel auf. Inmitten von Luftzellen enthielt der Container ein großes quadratisches Fach, das randvoll mit kleinen schwarzen Würfeln angefüllt war.
»Was zum Teufel ist das denn?« Elijahs gerunzelte Stirn wich einem Lächeln, als ihm dämmerte, was es war. »Gib mal einen rüber.«
Der Bärtige holte einen Würfel aus dem Container und warf ihn Elijah zu. Der drehte ihn zwischen den Fingern, ließ ihn fallen, bückte sich danach und merkte, wie steif sein Kreuz war.
»Behalt sie im Auge«, sagte er zu Patrice, während er den obersten Knopf seines Hemds öffnete. Er hatte das Gefühl, jemand hatte ihm eine Schlinge um den Hals gelegt und zog sie zu.
Er ging unter Deck, schenkte sich einen weiteren Rum ein und kippte ihn mit einer flinken Bewegung des Handgelenks weg. Er hielt den Würfel gegen das Licht und sah ihn sich eingehend an. Die Tiefe seiner Schwärze und sein Versprechen ewiger Glückseligkeit zogen ihn in ihren Bann. Wie nur konnte etwas so unbeschreiblich angenehm sein?
Mit einem Messer kratzte er eine hauchdünne Schicht Pulver von der Oberfläche des Würfels auf das Glas eines Spiegels vor sich auf dem Tisch. Mit der kaum zu ertragenden Aufregung eines jungen Mannes vor seinem ersten sexuellen Erlebnis zog er drei Spuren von etwa gleicher Länge zurecht. Hektisch durchsuchte er seine Taschen: Münzen, Kondome, gestohlene Kreditkarten und ein fettes Bündel 100-Dollar-Noten. Die müssten es tun. Er schälte eine Note ab, rollte sie zusammen, kniete nieder und schnupfte die Spuren in rascher Folge mit einem Ruck seines bebenden Ellbogens weg.
Schon im nächsten Augenblick hatte er jedes Gefühl in Gesicht und Rachen verloren. Er genehmigte sich einen weiteren großzügigen Schuss Rum und streckte seinen langen Körper auf der unteren Koje des Stockbettes aus. Sein Rücken war plötzlich wieder völlig in Ordnung. Ein ungeheures, strahlend schönes Lächeln legte sich über sein Gesicht, ein Lächeln überschwänglicher Liebe, tiefen Friedens und unendlicher Dankbarkeit, als das Kribbeln in Armen, Brust, Leisten, Beinen, Fingern und Zehen sturzartig zu einer gottgegebenen Welle von Freuden aus dem siebten Himmel anwuchs.
Patrice spähte in die Kajüte. »Es wäre alles soweit, Boss.« Er warf einen Blick auf den Spiegel und die Hundert-Dollar-Note auf dem Tisch. Er verzog das Gesicht, wandte sich dann wieder an Elijah. »In ein paar Minuten kann’s losgehen.«
»Don’t worry about a thing«, zitierte Elijah singend Bob Marley. »Every little thing’s gonna be alright.«
»Boss? Ich hab gesagt, wir sind so gut wie fertig.«
»Singin’ don’t worry–«
»He, Boss.«
»Ja, ja, ja. He, wo ist denn der Taucher?«
»Der ist noch unten. Er sorgt dafür, dass die Container auch richtig angebracht sind.«
Töte sie.
Elijah blinzelte und sah sich um. Hatte er sich das eben eingebildet?
»Soll ich den Motor anlassen?«
Bring sie um.
Elijah wischte sich über die Stirn. War das Gott, der da zu ihm sprach? Oder war es der Teufel?
»Boss, hörst du zu?«
Bring sie um. Sofort!
Elijah winkte ab. »Leg sie um.«
Ein fragender Blick legte sich über Patrices Jungengesicht.
»Du hast gehört, was ich gesagt habe«, fuhr Elijah ihn an. »Bring sie um!«
»Aber es sind zwei.«
»Dann beeil dich.«
Elijah sprang auf die Beine und glitt hinter Patrice her an Deck. Der Typ mit dem Bart stand über die Bordkante gebeugt und suchte das Wasser unter ihm ab. Er hob den Kopf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Elijah mit einem breiten freundlichen Lächeln. Der Bärtige nickte.
»Dann ist es Zeit für den Abschied.«
Patrice riss die Pistole heraus, die er hinten im Hosenbund gehabt hatte. Der Bärtige wollte sich auf sein Gewehr stürzen, da hatte er bereits zwei Löcher in der Brust. Die Geschosse rissen ihn herum wie einen Kreisel. Seine Arme schienen nach etwas greifen zu wollen, dann kippte er mit dem Gesicht vornüber röchelnd über eine der Holzbänke. Seine Beine zuckten wie im Krampf. Patrice zielte sorgfältig und feuerte zwei Kugeln in den Kopf des Mannes mit dem Bart.
»He, nimm die für den anderen.« Elijah wies auf die Harpune, die an einem Haken an der Wand neben dem Steuerrad hing. »Macht mehr Spaß.«
Der Taucher durchstieß die Wasseroberfläche. Er verlor das Mundstück, als er die auf ihn gerichtete Harpune sah. Er streckte die Hände vor, um sich zu schützen, versuchte dann wieder unterzutauchen. Sirrend schoss die Harpune auf ihn zu, durchdrang seine linke Hand und bohrte sich in seinen Hals. Er umfasste den Spieß noch mit der Rechten, verschwand dann aber in einem sich ausweitenden Strudel aus Blasen und Blut.
Patrice zog ein Messer und kappte die Schnur des Spießes mit einer Ruhe, als hätte er einen Fisch harpuniert. Er steckte eine neue Harpune in das Abschussgerät und hängte es zurück an die Wand.
Ein Grinsen breitete sich über Elijahs Gesicht aus, als ihn ein weiterer Rush überkam.
Das Funkgerät meldete sich. Amonites tiefe Stimme kam durch das Knistern. »Alles in Ordnung?«
Elijah fuhr auf. Er starrte auf das Funkgerät wie auf ein unbekanntes Tier.
»Ich wiederhole«, sagte Amonite. »Alles okay?« Patrice reichte Elijah das Mikrofon.
»Alles in Ordnung«, sagte Elijah. »Ich hatte nur noch was zu erledigen.«
»Probleme?«
»Nicht die Spur. Nur Lösungen.«
Amonite antwortete nicht. Elijah spürte das Pochen des Bluts in seinen Schläfen. Stand ihm einer von Amonites berüchtigten Tobsuchtsanfällen bevor? Elijah sah sich um. Mit einem Mal hatte er Angst, ein Attentäter könnte vom Himmel fallen, um ihn niederzustrecken. Aber er sah nichts als Dschungel, soweit das Auge reichte, und die Leiche des toten Kolumbianers in dem Schnellboot, das langsam verschwand.
Patrice bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick.
»Alles in Butter.« Elijah tat einen tiefen Atemzug. »Alles im Lot.«
»Lass mich mit den Kolumbianern reden.«
»Die sind eben losgefahren.«
»Okay, macht nichts. Hier sind die GPS-Koordinaten für die Übergabe.«
Elijah nickte Patrice zu, der Stift, Papier und eine Karte der Karibik von einer Ablage neben dem Steuerrad nahm.
»Ja, klar. Schieß los.«
Amonite rasselte eine Reihe von Zahlen herunter. Patrice notierte sie sich und machte ein Kreuz auf die Karte. Amonite versicherte den beiden, ihr Gespräch sei verschlüsselt. Womit sie hoffentlich Recht hatte, sonst hätten sie die halbe Küstenwache beim Rendezvous. Elijah versuchte die Karte zu lesen, aber sie verschwamm ihm vor den Augen.
»Hast du’s?«, fragte er Patrice.
»Genau hier. Eine der Turks- und Caicosinseln.«
»Das ist ja ewig weit.«
Patrice nickte.
Elijah rieb sich die Schläfen. Die Turks- und Caicosinseln sind eine Gruppe von vierzig Inseln nordöstlich von Jamaika, Kuba und Haiti. Perfekt für Schmuggler auf dem Weg nach Florida, aber inmitten von haiverseuchten Gewässern und schlimmen tropischen Stürmen.
Patrice stupste Elijah mit dem Ellbogen. »Amonite hat eben was gesagt.«
Elijah hob das Mikro. »Ja?«
»Ich sagte, was macht die Kirche? Lässt sich heutzutage noch einer bekehren?«
»Die macht sich, die macht sich. Danke der Nachfrage. He, wo du schon dran bist. Was ist denn in Brixton passiert?«
»Wer hat was von Brixton gesagt?«
»Irgendeine Ahnung, wer da gesungen hat?«
»Wieso gesungen?«
»Also ich war das nicht, Mann«, sagte Elijah und verfiel in Patois. »Sind eben Yardies. Die bauen so Scheiß.«
»Tja, jetzt sind sie tot. Und das bist du auch, wenn du das verbockst.«
Amonite beendete die Verbindung. Elijah rieb sich die Schläfen. Es kam ihm gerade so vor, als dünste sein Kopf langsam in dem Riesentopf Kohl, für den seine verstorbene Mutter im ganzen Viertel bekannt war.
Patrice starrte ihn an. »Warum hast du das gesagt?«
»Mach dich locker, Mann.« Er versuchte sich an einem Zwinkern, hatte aber seine Probleme damit, die Bewegungen zu koordinieren. »Der Herr ist auf unserer Seite.«
»Was machen wir denn jetzt?«
»Wir holen die Jungs ab.« Elijah ließ das Mikrofon neben dem Funkgerät fallen. »Wir haben zu tun.«