Kapitel 44

Turks- und Caicosinseln
13. April 2011

Elijah fuhr aus dem Schlaf. Wo zum Teufel war er?

Er versuchte, seinen Blick scharf zu bekommen. Er setzte sich auf und knallte mit dem Kopf gegen die Decke. Die Laken waren zerrissen und schweißgetränkt; sie klebten auf seiner Haut wie die Frischhaltefolie um seinen Koks. Er legte die Hände aneinander, damit sie nicht so zitterten. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Er versuchte ein Gebet zu murmeln, aber sein Unterkiefer wollte nicht so wie er; er schien ihm aus dem Gelenk springen zu wollen. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

Warum hatte Wes nicht auf der Jacht gewartet? Hatte Amonite ihn hintergangen und den Haitianern gesagt, ihm einen Hinterhalt zu legen? Für wie lange hatte er das Bewusstsein verloren?

Stunden? Tage? Wochen?

Er legte sich zurück und atmete langsam und tief durch. Er fuschelte in seiner Tasche und stieß auf einen Brocken Black Coke von der Größe einer der weißen Bohnen, die seine Mutter in ihren Eintopf gab. Er lutschte daran. Ah, dachte er, als er den bitteren Geschmack auf der Zunge spürte, bevor sie taub zu werden begann. Wenigstens machte das Zeug einen klaren Kopf.

Eine wunderbare Ruhe breitete sich in ihm aus. Dann brach er, schlagartig von neuer Energie erfüllt, in Gelächter aus und fuhr mit den Armen durch die Luft. Er rieb sich die Kopfhaut, spürte das Prickeln bis in die letzte Haarspitze, als sein Blick sich klärte. Das Chaos in seinem Kopf setzte sich in einer beruhigenden Klarheit, einer überschwänglichen Freude, die er als herrlich, rein und göttlich empfand.

Patrice hat dich verraten.

Elijah fuhr zusammen. Die Stimme kam aus der Glühbirne. Sie war brütend, düster. Er entschied sich, sie zu ignorieren.

Du musst ihn töten.

»Nein, lass mich«, stammelte Elijah in einem Versuch, wenigstens eines der positiven Gefühle festzuhalten, die sich davonstahlen wie Dealer bei einer Razzia.

Die Haitianer haben ihn bestochen.

»Er liebt mich.«

Er hat Wes in den Hinterhalt geschickt.

»Weiche von mir, Satan!«

Es gibt keine andere Erklärung.

»Im Namen unseres Herrn Jesus Christus«, rief Elijah und wies mit einem Finger auf die Glühbirne. »Ich banne dich!«

Durch den Verrat an dir hat Patrice Gott verraten.

»Halt endlich das Maul!«

Elijah riss die Glühbirne mitsamt der Fassung von der Decke und schleuderte sie durch den Raum. Er schwang die Beine von der oberen Koje des Stockbetts und fiel zu Boden. Auf den Tisch gestützt richtete er sich wankend wieder auf. Schwindelig und ängstlich lauschte er nach der Stimme.

Seine Blase wollte schier platzen. Er stolperte in die Toilette und knallte die Tür hinter sich zu. Nachdem er uriniert hatte, starrte er in die Schüssel. Sein Urin war mehr orange als gelb. Er nahm sich vor, mehr Wasser zu trinken. Er wollte eben die Spülung betätigen, als er den Blick noch einmal senkte. Der Urin war schwarz geworden, so schwarz wie der Koks in seiner Tasche.

Er zuckte die Achseln. Wahrscheinlich spielte ihm sein Verstand wieder mal einen Streich. Er trank aus dem Waschbecken und warf einen Blick in den Spiegel. Seine Backen waren bleich, die Haut zum Zerreißen gespannt und mit Stoppeln bedeckt. Seine Augen waren von roten Adern überzogen und das Weiße voll schwarzer Flecken.

Schwarze Flecken?

Er sah genauer hin, bis seine Nase beinahe den Spiegel berührte.

Es ist deine Schuld, dass Wes tot ist.

Elijah fuhr herum. »Was war das?«

Amonite wird Jagd auf dich machen.

Die Stimme kam vom Knauf der Toilettentür, der ihn mit unverhohlener Feindseligkeit anstarrte. Er trat nach ihm. Immer und immer wieder, bis die Tür aufsprang und der Knauf sich mit einem Knacken löste und zu Boden fiel.

Elijah wankte in die Kabine. Er lehnte sich gegen den Tisch, sein pochendes Herz ließ seinen Körper beben wie eines der Autos mit den riesigen Stereoanlagen, die man in Kingston sah. Er starrte den Türknauf herausfordernd an – wehe, er hielt nicht den Mund. Aber die metallene Kugel lag da, leblos, schweigend. Hatte er sich das auch nur eingebildet?

Er hörte das Schlagen der Wellen gegen den Rumpf. Elijah stieß einen langen erleichterten Seufzer aus.

El Patrón bringt dich um.

Mit einem Entsetzensschrei krabbelte Elijah die Metalltreppe hinauf an Deck. Er schützte sich mit der Hand gegen die orangefarbene Glut der untergehenden Sonne, die den Himmel in ein aufgewühltes Meer zorniger Farben verwandelte. Er atmete tief ein, dann gleich noch einmal und noch einmal und noch einmal, bis er prickelnd den Salzgeruch des Meeres in der Nase spürte, der sich in seine Lunge ergoss, bis er ihm die Spannung aus Hals, Armen und Rücken nahm. Das Wasser kräuselte sich unter der sanften Brise, die an seiner Kleidung zupfte, als wollte sie ihn auffordern, schwimmen zu gehen. Eine Möwe flog über ihn hinweg und ließ einen Schrei zurück wie einen Gruß. Eine warme Decke legte sich um ihn, weich, heiter, beruhigend, ruhig.

»Was sollte das denn, Boss?«

Elijah fuhr herum. Patrice stand vor ihm, sein Gesicht ein Malstrom von Farbschlieren, das Elijah an ein Batik-T-Shirt denken ließ. Hippies!

»Boss?«

Warum, denkst du, hat euch die Granate verfehlt?

Elijah sah nach oben. Die Stimme kam donnernd vom Himmel herab.

Es war alles ein abgekartetes Spiel.

»Nein…« Elijah griff nach der Reling. Patrice wurde aschfahl, sein Gesicht dehnte sich nach allen Seiten hin aus, fiel wieder in sich zusammen, die Backen sackten durch, die Augen begannen zu kreisen, die Ohren schmolzen, seine siedende Haut tropfte aufs Deck wie Kerzenwachs und sorgte für eine brodelnde Säurelache, die das Deck rund um ihn aufzulösen begann.

»Herr, hilf mir…« Elijah wäre am liebsten über Bord gesprungen, aber seine Füße schienen festgeklebt, sein Blick gebannt von dieser bösen Erscheinung. Sein Verstand rang immer noch mit der Offenbarung über Patrices wahres, bösartiges Ich.

Alles, was von ihm blieb, war ein grinsender Schädel. In den Tiefen seiner Augenhöhlen glühten zwei rote Punkte wie die Feuer der Hölle.

Elijah versuchte zu schreien. Aber sein Hals war wie zugeschnürt. Das Rauschen eines gewaltigen Wasserfalls dröhnte in seinen Ohren. Dann durchschnitt ein bedrohliches Flüstern das Chaos; jedes einzelne Wort kristallisierte sich in seinem Verstand.

Patrice ist der Diener des Teufels.

»Nein!«

Der Himmel hinter Patrice begann sich in allen Farben des Spektrums zu verfärben. In einer plötzlichen Offenbarung wünschte Elijah, er hätte nicht gar so viel genommen von diesem schwarzen Koks.

Die Vision löste sich auf. Patrices Gesicht wirkte wieder völlig normal.

»Patrice, mein Junge.« Elijah streckte eine matte Hand nach ihm aus. »Hast du mich erschreckt.«

Patrice wich zurück. Elijah sah, dass sich seine Lippen bewegten. Er hörte jede einzelne Silbe, aber zusammengenommen ergaben sie keinen Sinn.

Töte ihn!

Dann sah er das Klappmesser in Patrices Hand.

Schwarzer Koks
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