Kapitel 9

Central London, England
5. April 2011

»Du wusstest das doch im Voraus, nicht wahr?«, fragte Nathan am ganzen Körper bebend. Er hätte gute Lust gehabt, wieder in den Sitzungsraum zu stürmen und Sir George die selbstgefällige Fresse zu polieren.

Cedric öffnete die Tür zu einem kleinen Konferenzraum und zog die Tür hinter ihnen zu.

»Tut mir Leid«, sagte er, während er auf eine andere Tür zutrat, um auch diese zu schließen.

»Das kannst du ihm nicht durchgehen lassen«, sagte Nathan hinter ihm. »Dieser Bastard. Seine Meinung stand doch von vornherein fest.«

»Schhhh!« Cedric legte den Finger an die Lippen. »Nicht so laut.« Es war still geworden in dem Großraumbüro. Die Kollegen blickten auf ihre Bildschirme, aber Nathan spürte, dass man aus den Augenwinkeln nach ihnen sah. Sie würden darüber am Kaffeeautomaten tratschen, kaum dass er zur Tür hinaus war. Am liebsten hätte er sie angebrüllt, sich um ihren eigenen Kram zu scheren.

Cedric bugsierte Nathan hinaus ins Treppenhaus und schloss die Tür. »So ist es besser.«

»Wieso stellst du dich nicht auf die Hinterbeine?«

»Er hat einflussreiche Freunde«, flüsterte Cedric und zog Nathan in eine Ecke.

»Mich hat das nie geniert.«

»Du bist auch nicht der Direktor der SOCA.«

»Ach?«

»Hör zu, du weißt, dass ich mich nicht gern streite.« Cedric wandte einer Gruppe von Mitarbeitern den Rücken zu, die an ihnen vorbeikam. »Ich verspreche dir, dass ich dranbleibe.«

»Er hat alle um den Finger gewickelt. Dich auch.«

»Man muss ihn nur überzeugen. Und du musst dich ausruhen. Ich möchte dich nicht noch einmal ausgebrannt sehen.«

Mit einem Mal völlig erschöpft, lehnte Nathan sich an die Wand. »Hast du ihn im Radio gehört? Dieser Heuchler. Ist dem eigentlich klar, was passiert, wenn wir die nicht stoppen?«

»Geh für heute nach Hause, Nathan. Du hast großartige Arbeit geleistet.«

»Wie kannst du das sagen, wo du grade gegen mich gestimmt hast?«

»Nicht so laut«, zischte Cedric, als eine junge Frau die Treppe heraufkam, die sie neugierig musterte. »Ich hatte keine andere Wahl.«

»Und ob du die hattest.«

»Nimm dir einfach den Tag frei, ja?« Cedric ging Richtung Tür. »Wir unterhalten uns morgen.«

Nathan wollte sich eben abwenden, als ihm etwas einfiel. »Hat sich das Labor schon gemeldet? Ist es wirklich Superkoka?«

»Auch das erkläre ich dir morgen.«

Nathan schürzte die Lippen. Sollte er erwähnen, wen er in Kolumbien gesehen hatte? Cedric würde der Schlag treffen.

»Noch was«, sagte er.

»Ich hab keine Zeit.« Cedric hatte die Hand am Türknauf. »Ich muss zurück in das Meeting.«

»Amonite Victor.«

Cedric nahm die Hand vom Türknauf, als hätte der sich in eine Schlange verwandelt. »Was?«

»Ich habe sie gesehen. Im Dschungel.«

»Unmöglich. Ich habe selbst gesehen, wie die sie zusammen mit Don Camplones in Mexiko erschossen haben.«

»Ich auch.«

Cedric stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. »Bist du sicher, dass sie es war?«

»Todsicher. Ich habe Fotos zum Beweis. Es sei denn, sie hat eine Zwillingsschwester, die genauso hässlich ist.«

»Amonite Victor. Die Schlächterin von Juárez. Am Leben?«

»Genau das habe ich mir auch –«

Die Tür zum Treppenhaus sprang auf. Florence, Cedrics Sekretärin, spähte um die Kante, ihre Stirn zerknüllt wie ein Zettel aus dem Papierkorb.

»Sir George wartet auf Sie, Mr. Belville.«

»Sagen Sie ihm, ich bin auf dem Weg.« Cedric wandte sich wieder Nathan zu, nachdem Florence wieder verschwunden war. »Ich kann das unmöglich George sagen. Der dreht durch. Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?«

»Ich wollte das Meeting nicht beeinflussen.«

»Sonst noch etwas, was du mir nicht gesagt hast?«

Nathan schüttelte den Kopf. Cedric musterte ihn noch einige Augenblicke lang, dann ließ er ihn stehen.

Nathan ging an seinen Schreibtisch. Er schnappte sich seine Jacke von der Stuhllehne und nahm seinen Rucksack auf. Während er auf den Aufzug wartete, warf er einen Blick zurück zum Sitzungsraum. Cedric und Sir George standen davor, die Köpfe zusammengesteckt, offensichtlich in eine hitzige Diskussion vertieft. Sir George sah in Nathans Richtung. Ihre Blicke verschränkten sich. Ein Ausdruck der Angst huschte über Sir Georges Gesicht.

Nathan nahm den Aufzug hinab ins Erdgeschoss. Er machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Er war in der Hölle gewesen, um diese Fotos zu schießen; tagelang war er mit Manuel durch den Dschungel gestapft. Er war schließlich so erschöpft gewesen, er hatte kaum noch einen Fuß hochgebracht. Von Kopf bis Fuß voller Blutegel, hatte er Wurzeln gekaut. Wären sie nicht auf einige freundliche Bauern gestoßen, die sie in die nächste Stadt gebracht hatten, er wäre womöglich noch immer da draußen. Und Manuel tot.

»Du bist ja noch da?«, fragte Nathan, als er in seine Wohnung zurückkam. Caitlin stand im Mantel vor dem Spiegel in der Diele und bürstete sich das Haar. Ihre Handtasche lag zu ihren Füßen, halb offen, ihr Make-up und der eine oder andere Zettel standen heraus.

»Ich bin spät dran. Wie ist es denn gelaufen.«

»Du hattest Recht. Alles Schweine, einer wie der andere.«

»Ach, Nathan.« Caitlin umarmte ihn. »Ist mir egal, was die sagen. Ich bin stolz auf dich.«

»Danke, Schwesterchen.« Er machte sich los. »He, was machst du heute Abend?«

»Ich treff mich mit John.«

»Ich dachte, den hättest du abserviert?«

»Ist kompliziert.«

»Wie wär’s mit danach. Auf einen kleinen Drink?«

»Du weißt, dass es bei mir nicht bei einem bleibt.«

»Bitte, Caitlin.«

Sie machte eine Geste über die Reihen von Bücherregalen, die die Diele säumten. »Hast du nichts zu lernen? Ein Kapitel zu schreiben. Eine Doktorarbeit fertig zu machen?«

»Verarschen kann ich mich selbst.«

»Na schön.« Sie lächelte. »Im Slug and Lettuce. Um neun.«

Schwarzer Koks
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