Kapitel 21
Central London,
England
11. April 2011
»Nate?« Eine SMS von Caitlin. »Wo steckst du? Kannst du mich anrufen? Bitte.«
Nathan wählte ihre Nummer, landete aber sofort auf Caitlins Mailbox. Er nahm den gewundenen Pfad durch den St. James’s Park etwas schneller. Kinder warfen Kiesel in den Teich und quiekten vor Freude über das aufgeregte Quaken der Enten. Ihre müde Mutter tadelte sie halbherzig von einer Bank in der Nähe aus. Neben ihr schlief ein Penner mit einer halbvollen Flasche Rotwein im Arm.
Caitlin versuchte vermutlich wieder mal sein Liebesleben zu organisieren.
Er zuckte die Achseln. Er hatte im Augenblick andere Sorgen. Georges Verhalten war so was von eklatant! Man hätte fast meinen mögen, er halte sich für über jeden Verdacht erhaben. Nathan fiel ein, was einer seiner Kollegen mit einem durchtriebenen Lächeln bei Georges Einstand gesagt hatte: dass Sir George Kolumbien Anfang der 1990er-Jahre »unter zweifelhaften Umständen« verlassen hätte. Nathan hatte es als eines der gehässigen Gerüchte abgetan, die Polizisten im gehobenen Dienst ihre ganze Karriere über zu begleiten scheinen. Womöglich sollte er sich in dieser Richtung noch etwas umsehen.
Er erreichte den Leicester Square. Kinder liefen herum und scheuchten die Tauben auf. Rastafari in Dreadlocks trommelten auf Bongos ein. Touristen drängten sich an den Tischen und schlürften Sprudel oder Espresso. Nathan sank auf einen Stuhl auf einer Außenterrasse und stülpte den Kragen gegen die Kälte hoch. Er rieb sich die Müdigkeit aus den Augen und strich sich die verkrumpelte Jacke glatt. Wie seit Stunden schon, kochte er noch immer vor Wut. Er bestellte schwarzen Kaffee, holte die Aktenmappe aus dem Rucksack und schlug sie auf der Seite mit dem Abriss auf.
Black Coke (Straßenname); erwartete Klassifizierung: A
Laborbefund: bei Black Coke handelt es sich um ein Ecgonylbenzoat, i.e., Kokain-Derivat aus genetisch modifiziertem Erythroxylum coca (Kokastrauch) bzw. dem traditionellen Kokablatt. Die genetische Manipulation erfolgt mittels eines Blumenkohl-Mosaik-Virus zur Einbringung fremder DNA in die Kokapflanze. Im Gefolge der Infektion verbreitet sich der Virus rasch durch die Zellen der Pflanze und verändert sie. Resultat ist eine psychotrope Substanz von beispielloser Potenz.
Nathan überflog den Rest. Der Schätzung der Labortechniker nach wuchs die Black Coke-Pflanze zehnmal schneller als ein traditioneller Kokastrauch und das in so gut wie jedem Boden. Sie war resistent gegen Herbizide, was Kolumbiens Programm zur Ausmerzung der Kokapflanze zur Wirkungslosigkeit verurteilte. Sie war geruchlos, was bedeutete, die Spürhunde der Grenzpolizei hatten nicht die geringste Chance.
Nathan schenkte sich die chemische Erklärung und las über die Wirkung der Droge auf das Gehirn.
Mit Black Coke injizierte Ratten zeigten eine 15fache Steigerung zwanghaften Suchtverhaltens im Vergleich zur Kontrollgruppe. Unserer Arbeitshypothese zufolge wirkt Black Coke auf Neurorezeptoren – Dopamin-, Serotonin- und Opioid-Rezeptoren –, obwohl die genaue Wirkungsweise noch zu klären sein wird. Es lässt sich jedoch bereits sagen, dass die evozierten psychotropen Symptome mit der simultanen Verabreichung von Crack, Heroin und Methamphetaminen sowie deren Potenzierung durch eine starke Dosis Steroide zu vergleichen sind.
Nathan musste an die Süchtigen in dem Crackhaus denken. In seinem ganzen Leben waren ihm keine derart verblitzten Junkies untergekommen. Er lehnte sich in den Stuhl zurück; die Ereignisse des Vormittags traten hinter dem Kribbeln in seiner investigativen Ader zurück.
»Spannende Lektüre, was?«
Cedric zog sich einen leeren Stuhl an den Tisch.
»Ziemlich dramatisch«, sagte Nathan. »Sieht den Laborfuzzis gar nicht ähnlich, so poetisch zu werden.«
»Der Bericht ist von mir.«
»Also alles Bullshit?«
»Nein, nein, natürlich nicht. Aber ich brauchte etwas, um mir George vom Hals zu halten. Und um dir ein bisschen den Rücken zu stärken. Soweit das geht.«
»Nicht gerade ein durchschlagender Erfolg.«
»Bei einem Haudrauf wie dir?«
»Manchmal bleibt einem einfach keine andere Wahl«, sagte Nathan. »Wenn man mir bei den Spezialkräften was beigebracht hat, dann dass man nicht kopflos in eine feindliche Situation rennt.«
»Ach ja?«
»Hör zu, Cedric, ich weiß, ich hätte Steve aufhalten sollen. Ich stehe dafür gerade. Aber nicht für den Haufen Lügen in dieser Mail.«
»Ich weiß.« Cedric stieß einen Seufzer aus. »Überlass das mir, ich bieg das schon wieder hin. Aber zu diesem schwarzen Koks. Im Labor haben sie die chemische Struktur entziffert. Sie gleicht keiner der uns bekannten Sorten.«
»Hat jemand was davon probiert?«
Cedric schüttelte den Kopf. »Da ist der Arbeitsschutz vor.«
»Aber wie hat die Front den Stoff entwickelt? Ich weiß ja immerhin so viel, dass es gar nicht so einfach ist, Pflanzen genetisch zu manipulieren.«
»Das war ein Genetiker aus Cambridge, ein gewisser Christopher Aldridge. Ist vor einigen Wochen verschwunden. Vor zwei Tagen hat man ihn tot aus einem Teich gefischt. Garrottiert. Er hat mit dieser Nobelpreis-Professorin gearbeitet. Die, die behauptet hat, sie hätte das Geheimnis des Lebens entdeckt. Die beiden haben in der Gentechnik einen Riesensprung vorwärts getan.«
»Und du meinst, die Front hat das Geheimnis gestohlen?«, fragte Nathan.
»Höchstwahrscheinlich.«
»Was sagt denn die Professorin dazu?«
»Auch tot. Fiel vor ein paar Tagen aus dem Fenster. Aus dem obersten Stock.«
»Gestoßen?«
»Wahrscheinlich.«
Nathans Telefon vibrierte. Er holte es aus der Tasche.
»Es ist Caitlin. Ich muss rangehen.« Er wandte sich ab. »Caitlin, was gibt’s denn?«
»Es ist jemand hinter mir her. Ein großer Kerl.«
»Bist du sicher?«
»Nate, ich denk mir doch so was nicht aus. Das solltest du mittlerweile wissen, Herrgott noch mal.«
»Okay, okay. Wie sieht er aus?«
»Angeklatschtes Haar. Dunkle Haut. Nase wie ein Schwein. Ständig taucht er auf. Wie ein Geist.«
»Und du bildest dir das nicht nur ein?«
»Um Himmels willen, Nate. Ich bin ja vielleicht depressiv, aber ich leide nicht an Verfolgungswahn. Er starrt mich an, er fotografiert mich. Er versucht mir Angst zu machen.«
»Wo bist du?«
»Vor der Angel Station.«
»Geh nach Hause. Schließ ab. Ich bin unterwegs.«
Er legte auf und wandte sich wieder Cedric zu, der ihn aufmerksam musterte.
»Ist was mit Caitlin?«, fragte Cedric.
»Sie denkt, dass sie jemand verfolgt.« Nathan stand auf. »Ich muss los.«
»Warte doch.« Cedric legte Nathan eine Hand auf den Arm. »Ich hab dir noch was zu sagen.«
»Nicht jetzt.«
»Caitlin kommt schon klar. Setz dich. Ich mach’s auch kurz.« Cedric schlug die Klappe seiner Tasche auf und holte eine braune Aktenmappe heraus.
Nathan saß auf der Stuhlkante. Womöglich bildete Caitlin sich ja tatsächlich nur etwas ein.
»ASI und Front«, begann Cedric und legte die Mappe vor sich auf den Tisch. »Die beiden arbeiten Hand in Hand.«
»Das weiß ich selbst. Was weißt du über Amonite? Wie passt sie da rein?«
»Lass mich ausreden. Die ASI versorgt die Front mit Informationen über die anderen Kartelle. Wo sie operieren, wie viele Leute sie haben, ihre Ressourcen. Die Front plant damit ihre Überfälle.«
»Warum hast du das nicht bei meiner Präsentation gesagt?«
»Weil wir Sir George nicht frontal angehen können«, sagte Cedric. »Das geht einfach nicht. Also, zu Amonite. Ich habe ihren Akt vom Vorjahr gezogen.« Er überblätterte einige Seiten und schob die Mappe dann Nathan zu. Der überflog die Seite.
Geboren war Amonite in El Paso, West-Texas. Ihre Eltern waren Ladeninhaber aus Bogotá, die in die Staaten ausgewandert waren. Amonite hatte eine schwierige Kindheit, flog wegen ihrer Aggressivität von einer Schule nach der anderen, bis sie schließlich zur Army ging, wo sie zur Scharfschützin und Feuerwerkerin ausgebildet wurde. Sie diente im ersten Irakkrieg, ging dann Ende der Neunziger für einige Zeit als Militärberaterin nach Kolumbien, bevor sie nach 9/11 nach Afghanistan kam. Man hatte sie mehrmals wegen ihrer Brutalität gegenüber Gefangenen gerügt, aber das war ja bei der Army normal.
»Das ist nicht viel«, sagte Nathan. »Obwohl ich vergessen hatte, dass sie in der Army gedealt hatte und deswegen rausflog.«
Sie war wieder in den Staaten stationiert. Man erwischte sie dabei, mithilfe ihrer Connections nach Kolumbien Kokain über die mexikanische Grenze ins Land zu schaffen. Die Army entledigte sich ihrer ohne großes Aufsehen. Sie wurde Söldnerin in allen Krisenherden der Welt: Kongo, Liberia, Kolumbien. Schließlich ging sie zu La Eme, der mächtigen mexikanischen Mafia, die sich damals mit zunehmender Brutalität über die USA und Europa auszubreiten begann. Von ihren Fertigkeiten beeindruckt, hatte Don Camplones, der ebenso arrogante wie brutale Chef von La Eme, Amonite zu seiner persönlichen Auftragskillerin gemacht.
Nathan fand einige mit Teleobjektiven geschossene Fotos von einer muskulösen Frau mit halblangem Haar, knubbeligem Gesicht, platter Nase und Sonnenbrille. Ihr ausgeprägter Adamsapfel wies auf die langjährige Einnahme von anabolen Steroiden. Sie war von zwei breitschultrigen Gorillas flankiert.
»Wie hat sie die Exekution überlebt?« Nathan hob den Blick. »Wir waren doch dabei. Wir haben gesehen, wie die mexikanische Polizei sie erschoss.«
»Keine Ahnung.«
»Wäre es möglich, dass Camplones auch noch am Leben ist? Womöglich ist er ja der geheime Boss hinter der Front.«
»Das wirst du herausfinden.«
Nathan ordnete die Papiere, indem er den Packen auf dem Tisch aufstieß. »Die kann ich doch mitnehmen, ja?«
»Schredder sie, wenn du fertig bist.«
»Ich mach mich mal besser auf den Weg.« Nathan stand auf. Das Kribbeln in ihm nahm zu. Das war es, worin er am besten war: gegen international organisierte Verbrecher zu ermitteln, einen Fall aufzubauen und die Schweinepriester dann hochzunehmen. »Bin ich wirklich suspendiert?«
»George wird da nicht nachgeben.«
»Was erwartest du denn dann von mir?«
»Ich finde, du solltest wieder nach Kolumbien gehen.«
»Inoffiziell?«
Cedric nickte grimmig. Er gab Nathan einen Zettel mit einer Telefonnummer.
»Eine sichere Verbindung«, sagte er. »Nur für absolute Notfälle.«
»Danke.« Nathan prägte sich die Nummer ein und riss den Zettel dann in kleine Stücke. Sein Telefon vibrierte wieder. Es war wieder Caitlin.
Cedric legte ihm eine Hand auf den Arm. »Eines solltest du noch wissen.«
»Was denn.«
»George…«
»Was ist denn mit ihm?« Das Telefon verstummte auf halbem Weg an sein Ohr.
»Er wurde gerade wieder zum britischen Botschafter in Kolumbien berufen.«