Kapitel 42

Bogotá, Kolumbien
13. April 2011

Was Nathan überraschte, war die schiere Kühnheit von Amonites nächstem Schritt.

Er hatte sich bei einem Zeitungsjungen eine El Tiempo gekauft. Jetzt lehnte er auf der anderen Seite der Kreuzung an einer Hauswand und las. Oder tat jedenfalls so. Er hatte einen guten Blick sowohl auf die Glastüren des Büroblocks als auch auf die Straßen, die darauf zuführten. An der Ampel warteten rote Ziehharmonikabusse, gelbe Taxis und ein Sammelsurium anderer Kraftfahrzeuge grummelnd hinter einer Kavallerie von Mopeds kurz vor dem Sturm. Fußgänger eilten über die Straße, während die Kavallerie brummend Abgase ausstieß.

Er fand einen Artikel, in dem es hieß, kolumbianische Schmuggler schafften ihre Drogen mit U-Booten nach Mexiko, von wo aus sie per Landweg in die USA gebracht würden. Es handelte sich dabei um Fahrzeuge, die gerade mal knapp unter der Meeresoberfläche fuhren; nur Rohre für Luft und Abgase standen heraus. Neben dem Artikel war ein Foto von bewaffneten Soldaten im Kampfanzug auf einem dieser beschlagnahmten Boote; es sah aus, als läge es mitten im Dschungel in einem Sumpf. Setzte auch die Front solche Fahrzeuge ein? Die Wahrscheinlichkeit war groß. Drogenkartelle unternahmen alles, um hinsichtlich ihrer Lieferwege zu diversifizieren. Man minderte so sein Risiko wie die übrige Geschäftswelt auch.

Nathan sah nach seinem Telefon. Keine Nachricht von Manuel, der angerufen hatte, nachdem sie in ein Taxi gestiegen waren. Er hatte Nathan nur sagen wollen, dass er sich mit seinen Campesinos treffen wollte, die noch auf Nachricht von den Haitianern warteten, die als Zwischenlieferanten für eine Lieferung schwarzen Koks eingesetzt waren. Die Haitianer sollten den Jamaikanern einen Hinterhalt legen und sich den Stoff schnappen. Was dabei für die Haitianer herausschaute, hatte Nathan ihn gefragt.

»Die Kontrolle über die Karibik«, hatte Manuel ihm gesagt, nicht ohne Sorge, wie Nathan fand.

Nathan musterte die Passanten auf der Suche nach einer plötzlichen Veränderung im Gebaren, die einen Schatten verriet.

Ein plötzlicher Richtungswechsel. Der plötzliche Abbruch eines längeren Blicks. Ein Gesicht, das einmal zu oft zu sehen war.

Seine Finger hielten die Zeitung so fest umklammert, dass er sie schier zerriss.

Zu seiner Linken, auf der anderen Seite, stand Amonite. Sie wartete darauf, die Straße zu überqueren. Sie trug eine dunkelblaue Bomberjacke, schwarze Hose, schwarze Lederstiefel. Mit dem kurz geschnittenen Haar, dem breiten Gesicht und der kräftigen Figur sah sie aus wie einer der Neonazis, die Nathan mal bei einer Drogenrazzia in Tower Hamlets, East London, verhaftet hatte.

Nathan trat hinter eine hohe Metallbarriere. Er warf einen Blick in die Lobby von El Tiempo. Hinter der Glasfassade bewegten sich Leute oder warteten in Sesseln. Was machte Lucia nur so lange? War das Gespräch wieder zu einem großen Streit ausgeartet?

Amonite wich den Mopeds aus. Sie sah sich um. Einen Augenblick lang dachte Nathan, sie hätte ihn ausgemacht, aber dann wandte sie sich wieder ab. Sie erreichte den Gehsteig, der zum Gebäude von El Tiempo führte.

Nathan warf die Zeitung in einen Abfallkorb und stülpte den Kragen hoch. Dann hastete er durch den Strom von Autos und Bussen über die Straße. Etwa zwanzig Meter von Amonite entfernt kam er drüben an. Sie steckte in einer Ansammlung von Passanten fest. Sie stieß die Leute mit dem Ellbogen beiseite, was zu empörten Ausrufen führte. Nathan beschrieb einen Bogen um die Menge und wartete hinter einem Pfeiler. Wie zum Teufel sollte er sie aufhalten? Er spähte um die Ecke in Richtung des Eingangs von El Tiempo. Drinnen standen Leute vor den Aufzügen an. Lucia war noch immer nicht zu sehen. Er umfasste die Glock in seiner Jacke. Das Letzte, was er wollte, war eine Schießerei am helllichten Tag, aber wenn es wirklich nicht anders ging…

Ein großer Mann hatte Amonite gepackt und schob sie gegen die Wand. Sie versuchte sich seinem Griff zu entwinden, aber der Mann war hartnäckig. Er hielt sie bei den Schultern gepackt und schrie auf sie ein. Nathan sah nicht genau, was dann passierte, jedenfalls knickte der Mann plötzlich ein. Die Menge zerstreute sich von Panik ergriffen. Bogotá war noch nervöser als gewöhnlich nach einer Reihe von Bombenanschlägen in jüngster Zeit. Amonite stürzte los.

Die Tür eines der Aufzüge öffnete sich und Lucia trat heraus. Mit finsterer Miene schüttelte sie die schwarze Mähne über die Schultern. Sie sah Nathan hinter dem Pfeiler nicht. Sie nahm den Ausgang. Noch hatte sie auch Amonite nicht gesehen, die über die Schulter nach dem Mann auf dem Pflaster sah.

Eine heikle Situation. Wenn Lucia nicht aufpasste, lief sie Amonite direkt in die Arme.

Nathan wollte eben auf sie zustürzen, als Lucia sich abwandte und im selben Augenblick in die andere Richtung davoneilte, als Amonite das Gebäude betrat.

Er lief hinter Lucia her. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Mit weit aufgerissenen Augen fuhr sie herum.

»Nathan!«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Mit wem?«

»Na Octavia.«

»Ja.«

»Und?«

Lucia schüttelte den Kopf.

Nathan verkniff sich ein »Hab ich’s nicht gesagt?« Er beschloss sich das für später aufzusparen.

»Gehen wir«, sagte er und zog sie mit sich fort.

»Aber ich habe eben Amonite gesehen.«

»Ich auch. Besser wir verschwinden.«

Sie schüttelte ihn ab. »Wir müssen sie aufhalten.«

»Zu riskant.«

»Wir können Octavia nicht einfach im Stich lassen.«

»Sie hat Ihnen doch eben eine Abfuhr erteilt.«

Lucia drehte sich um. »Ich geh noch mal rein.«

»Nein, das werden Sie nicht.« Nathan packte ihren Unterarm. »Sie hätten nicht die geringste Chance gegen sie.«

»Da kennen Sie mich aber schlecht.«

»Für einen Streit ist jetzt keine Zeit, Lucia.«

»Amonite wird sie umbringen.«

Ihre Augen verrieten eine sture Entschlossenheit.

»Okay, dann lassen Sie mich gehen«, sagte er. »In welcher Etage finde ich sie.«

»In der fünften. Im Flur hinter der Redaktion.« Als er sich abwandte, griff Lucia noch einmal nach Nathans Hand. »Sei vorsichtig.«

»Wir sehen uns im Hotel.«

Schwarzer Koks
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