Kapitel 51
Bogotá,
Kolumbien
14. April 2011
Nathan wusste, sie waren von dem Augenblick an hinter ihm her, in dem er durch den Gully in die Finsternis glitt. Rufe hallten über ihm, Kugeln schlugen gegen die Betonwände und prallten sirrend ab. Spritzend landete er bis zur Hüfte im Abwasser. Schmerz schoss ihm die Beine hoch, als er zu stehen kam.
Er stolperte. Fand seine Balance wieder. Strauchelte gleich noch mal.
Das bisschen Licht, das durch das Loch über ihm kam, leuchtete den Tunnel nur ungenügend ein Stück weit aus. Er schien sich endlos ins Dunkel zu erstrecken. Mit den Händen rudernd, watete Nathan drauflos. Leere Weinflaschen, zerdrückte Bierdosen, Plastiktüten, Bruchholz und anderer Müll trieb auf dem Fluss von Exkrementen um ihn herum. Er sah die eine oder andere Ratte die verdreckten Wände hochhuschen, bevor sie wieder verschwand.
Der Schein einer Taschenlampe kam durch die Öffnung.
»Aqui! Aqui! El prisoniero se escapa aqui.«
Hinter sich hörte er spritzend Projektile ins Wasser fahren. Nathan legte einen Zahn zu. Jeden Augenblick würde einer der Wärter in den Tunnel springen. Eine Welle von Adrenalin hatte ihn erfasst. Die Schmerzen der Folter schwanden dahin.
»Atención! Granada!«
Eine Explosion fuhr durch den engen Tunnel. Die Wände erbebten. Die Druckwelle warf Nathan nach vorne und kopfüber in den stinkenden Schleim. Prustend tauchte er wieder auf. Rund um ihn regnete es Betonfragmente. Er watete weiter. Getrieben von einer merkwürdigen Mischung aus Verzweiflung und Hochgefühl darüber, Amonite noch einmal entwischt zu sein. Er stellte sie sich vor: schreiend vor Frustration, ihre hässliche Visage verzerrt vor rasender Wut.
Geschrei und Schüsse blieben hinter ihm zurück. Da er in der Dunkelheit nichts sah, streckte er die Hände vor sich aus wie ein Blinder. Stille hatte sich über den Tunnel gelegt. Nur hier und da war ein Tröpfeln oder ein huschender Nager zu hören. Womöglich wussten die Wärter, wo der Tunnel hinführte, und erwarteten ihn am Ausgang, um ihn zu pflücken wie einen tiefhängenden Apfel.
Minuten schienen sich zu Stunden zu dehnen. Die Tiefe des Abwassers war trügerisch; reichte es ihm eben noch bis zu den Knöcheln, stand er im nächsten Augenblick wieder bis zu den Hüften im Schlamm. Es war jedoch immer dieselbe dicke, schmierige, schlickige Masse, die an seiner Hose zog, die vom ersten Augenblick an vollgesogen war, klebrig und schwer.
Er lief gegen etwas. Es war eine Wand. Er tastete um sich. Der Tunnel beschrieb eine scharfe Biegung nach rechts. Er folgte ihm ein paar Hundert Meter, dann blieb er stehen. Er lauschte.
Er hörte das Flüstern mehrerer Stimmen. Jemand sprach sich ab. Waren es die Wärter?
Schwer atmend und zunehmend verzweifelt, arbeitete er sich weiter. Womöglich führte der Tunnel nur immer tiefer in die Erde. Was wusste er schon? Nach allem, was er über Kanalisationen wusste, befand er sich in einem unterirdischen Labyrinth. In Paris, so hatte er irgendwo gelesen, hatten einmal Teenager einen Zugang zur Kanalisation gefunden und sich darin verlaufen. Man hatte sie Monate später gefunden, verhungert; die Ratten hatten ihre Leichen bis auf die Knochen abgenagt.
Plötzlich hob ein schrilles Kreischen an – als fahre ein Güterzug zu schnell in die Kurve. Nathan erstarrte. Er lauschte angestrengt. Was zum Teufel war das?
Irgendetwas strich an ihm vorbei. Mit einem Aufschrei drückte er sich an die Wand. Eine ganze Herde von Tieren schwärmte an ihm vorbei, Ratten wahrscheinlich, Dutzende, Hunderte, nach allem was er hörte, wenn nicht gar Tausende. Er legte sich die Arme über den Kopf, wischte sich die Tiere von der Schulter, die von der Decke über ihm fielen. Ihre Klauen gruben sich in sein Hemd. Quiekend hörte er sie ins Abwasser fallen. Zusammen mit dem Rest der Horde schwammen sie wie rasend davon. So schnell wie sie aufgetaucht waren, waren sie auch wieder fort.
Dann war nur noch das Tröpfeln zu hören.
Er stand da. Am ganzen Körper zitternd. Frierend. Allein.
Dann hörte er wieder das Flüstern.
Und mit einem Mal wusste er, warum die Ratten geflohen waren.