Kapitel 91

Putumayo, Kolumbien
17. April 2011

»Pablo Escobar?« Nathan zog die Stirn in Falten. »Das gibt’s doch nicht. Da benutzt jemand seinen Namen.«

»Es gibt seit Jahren Gerüchte, dass er nicht wirklich gestorben ist, dass er den Angriff in Medellín irgendwie überlebt hat und sich versteckt hält. Niemand wollte es wirklich glauben. Ein Ammenmärchen, mit dem man Kinder erschreckt, die nicht ins Bett wollen.«

»Das muss ein Schwindler sein.«

»Also gefragt hab ich mich ja schon hin und wieder«, sagte Manuel. »All die Autobomben, die Morde. Der große Plan mit dem schwarzen Koks. Ist genau sein Stil.«

»Schhh.« Nathan hob den Finger.

Sie hörten ein Rascheln. Manuel steckte die Machete in den Gürtel und nahm das Gewehr vom Rücken. Nathan ging in die Hocke und wies nach links. Auch er hatte sein Gewehr in der Hand. Er spähte zwischen die Bäume in das Dickicht aus Zweigen und Laub.

Dann sah er es: im Unterholz bewegte sich etwas, gar nicht so weit von ihnen, eine Bewegung, die von einem leisen Stöhnen wie unter Schmerzen begleitet war. Nathan begann auf die Zweige vor ihnen einzuhauen. Und dann hatte er es vor sich: ein Skelett von einem Mann. Sein Körper war so dünn, dass ihm jeder einzelne Knochen aus der Haut stand. Völlig verdreckte Fetzen hingen ihm vom Leib. Strähnen langen Haars bildeten verdreckte Zotteln um seinen ansonsten kahlen Schädel. Er schien Nathans und Manuels Gegenwart zu spüren, weil er sich nach ihnen umdrehte, so dass sie sein hageres Gesicht mit den beiden großen blutunterlaufenen Augen sahen. Er hob einen dürren Stecken von einem Arm.

Nathan ging auf den Mann zu und ließ den Rucksack zu Boden fallen. Der Mann versuchte davonzukrabbeln, sah sich aber vor einem Baum. Er wimmerte.

»Wir tun Ihnen nichts«, sagte Nathan.

Der Mann hielt die linke Hand an die blutige Brust gedrückt. Schnitte und Risse bedeckten seinen Körper, als wäre er ausgepeitscht worden. Seine Augen waren voll schwarzer Flecken und seine Ohren waren schwarz oder dunkelblau. Seine Gelenke waren gekrümmt und knotig wie die einer alten Frau.

Nathan holte sein Erste-Hilfe-Kit aus dem Rucksack. Manuel stand hinter ihnen, sein Gewehr schussbereit, und suchte die Umgebung ab.

»Wer hat Ihnen das angetan?«, fragte Nathan, während er Verbandsmull und Desinfektionsmittel aus dem Beutel zog.

Der Mann starrte Nathan noch immer mit riesigen Augen an. Seine Atmung ging normaler als gerade noch. Er sagte etwas, aber viel zu leise.

»Wie meinen?«, fragte Nathan.

»Sie wissen Bescheid.«

»Worüber?«

»Die sind bald hier.«

»Wer denn?«, fragte Nathan. »Die Front?« Der Mann sank zurück.

Nathan beugte sich über ihn. »Ist der Stützpunkt der Front hier in der Nähe?«

Dem Mann fielen die Augen zu. Einen Moment lang dachte Nathan, er würde ihm unter den Händen wegsterben. Dann gingen die Lider blinzelnd wieder auf. Diesmal starrten die Augen ins Leere.

»Ich will nicht wieder zurück«, sagte er.

»Sagen Sie uns nur, wo er ist.«

Der Mann griff nach Nathans Hemd.

»Seine Arme«, sagte Manuel und deutete auf den Mann.

Nathan löste die Hand des Mannes von seinem Hemd und sah sich seinen Unterarm näher an. Er war mit Einstichen übersät.

»Was haben die mit Ihnen gemacht?«

Plötzlich stürzte der Mann sich auf Nathan. Geifer tropfte ihm von den Lippen wie einem tollwütigen Hund. Seine zu Klauen gekrümmten Finger griffen nach Nathans Gesicht. Nathan stieß den Mann zur Seite. Der Mann drehte sich um und griff wieder an. Nathan sprang auf und trat einen Schritt zurück. Er richtete das Gewehr auf den Mann. Der versuchte auf ihn zuzukrabbeln, brach aber zusammen. Nathan beugte sich über ihn und legte ihm zwei Finger an den Hals.

»Tot«, sagte er und richtete sich wieder auf.

Er schlug einige laubreiche Äste von einem der Bäume und deckte die Leiche mit ihnen zu.

»Gehen wir«, sagte Manuel. »Der Stützpunkt kann nicht mehr weit sein.«

Schwarzer Koks
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